Long Covid und die Psyche

Atemnot, Erschöpfung oder Angst: Die aktuelle Forschung zu Long Covid liefert neue Einblicke in Körper und Psyche und lässt auf Therapien hoffen.

Eine junge Frau, die an Long Covid erkrankt ist, sitzt traurig auf ihrem Bett
Die Covid-Infektion ist überstanden, plötzlich kommen unerklärliche Ängste auf. Long Covid betrifft auch die Psyche. © Bildredakteurin: Kathrin Tschirner, Fotos: Sandra Schildwächter

In der zweiten Woche seiner Covid-19-Infektion fängt es an: Der 31-jährige Marcel Debelec sitzt abends am Computer vor einem Videospiel – da wird ihm plötzlich komisch. Die Gelenke schmerzen, es kribbelt in den Händen, ein Druck legt sich auf seine Brust. „Es war, als würden die Sensoren im Körper nicht die richtigen Daten ans Gehirn liefern“, berichtet Debelec, der in Ingolstadt als Entwickler in der Fahrzeugbranche arbeitet. „Als wäre der Körper nicht richtig mit dem Hirn verbunden.“ Er fühlt sich so…

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Er fühlt sich so schwach, dass er Angst hat, in Ohnmacht zu fallen. In Panik ruft er den Krankenwagen. Doch weder Sanitäter noch die Mitarbeitenden in der Notaufnahme der nahegelegenen Klinik können etwas feststellen.

Viele Menschen erleben während einer Coronainfektion neben Erkältungssymptomen auch andere, manchmal seltsame Beschwerden. Bei den meisten bessern sie sich innerhalb weniger Tage oder Wochen. Doch bei einigen bleiben sie. Oder es stellen sich neue, unerklärliche Symptome ein. Oder sie kommen, wie bei Marcel Debelec, in Schüben immer wieder: Bei ihm sind es die Missempfindungen im Körper, die allgemeine Schwäche und große Probleme, sich zu konzentrieren.

Er, der bislang nie psychische Probleme hatte, entwickelt Ängste und depressive Gedanken. „Sobald ich die Symptome wieder spürte, bekam ich regelrechte Todesangst. Und eine unaufhörliche Gedankenspirale ging los, über den Sinn des Lebens und über das Sterben. Das wurde immer schlimmer.“ Er lässt sich in die Klinik einweisen, eine Woche lang wird er von Kopf bis Fuß untersucht – nichts. „Dass mir keiner sagen konnte, was es ist, das war furchtbar.“ Der bisher lebensfrohe Mann, der gerne mit Freunden um die Häuser zog, igelt sich ein. Die Diagnose „Long Covid“ erhält er erst ein halbes Jahr später.

Bei jedem anders

Die Krankengeschichte von Marcel Debelec ist typisch für Menschen mit Long Covid, also anhaltenden oder neu auftretenden Beschwerden nach einer Infektion mit dem Coronavirus. Sie sind im Schnitt zwischen 30 und 50 Jahre alt – und waren bislang psychisch und körperlich gesund. Die Coronainfektion verläuft recht mild, wie eine eher normale Erkältung. Und dann haben sie auf einmal mit teilweise diffusen, manchmal schweren Symptomen zu kämpfen, die einfach nicht verschwinden wollen. Menschen, die vorher sehr leistungsfähig waren, schaffen es unter Umständen auch nach Wochen, Monaten oder Jahren nicht, den Anforderungen im Beruf und Privatleben gerecht zu werden.

Das Leiden äußert sich bei jedem anders, es wurden mehr als 200 Symptome beobachtet: Engegefühl in der Brust, diffuse Schmerzen und Missempfindungen, Schwäche bis hin zu ständiger Erschöpfung – Fatigue genannt –, mangelnde Konzentration sowie Ängstlichkeit und Depression wie bei Marcel Debelec.

Aber auch Herzstolpern, Herzrasen, Atemnot, Husten, Riech- und Schmeckstörungen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Haarausfall, Durchfall, Bauchschmerzen, Lähmungen, Schlafstörungen, um nur einige zu nennen. Die herkömmliche Diagnostik mit EKG und Laborwerten liefert oft keine Befunde. Halten die Beschwerden nach der Infektion länger als vier Wochen an, spricht man von Long Covid, dauern sie länger als drei Monate, verwenden Forscher und Forscherinnen auch den Begriff Post-Covid-Syndrom.

Entzündung im Gehirn

Die Vielfalt der Beschwerden und das auffällige Miteinander von körperlichen, psychischen und neuropsychiatrischen Symptomen legen nahe, dass diverse komplexe Systeme im Organismus beteiligt sind, die sich gegenseitig einschalten und verstärken. Das gibt Rätsel auf – für die Forschung eine Chance, alte Fragen nach den Wechselbeziehungen zwischen organischen und psychischen Erkrankungen neu aufzurollen.

„Wir lernen gerade viel dazu – und dürfen uns durch die Diskussion um den vermeintlichen Gegensatz von organischen und psychosomatischen Ursachen nicht vom Ziel der bestmöglichen Versorgung abbringen lassen“, sagt Martin Walter, Psychiatrieprofessor und Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Jena. Walter ist zudem Präsident des Ärzte- und Ärztinnenverbands Long Covid.

Er und seine Jenaer Forschungsgruppe gehen bei Long Covid von einer organischen Beteiligung insbesondere des Gehirns aus. „Auch bei anderen schweren Infektionskrankheiten wird das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen“, sagt Walter. „Wir nehmen an, dass anhaltende leichte Entzündungsprozesse im Gehirn zu neuropsychiatrischen Symptomen führen.“ Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass bei Long-Covid-Erkrankten mit Beschwerden wie Konzentrationsschwierigkeiten, Depression oder Fatigue einige Entzündungswerte – wie etwa Interleukin-6, eine Signalsubstanz des Immunsystems – leicht erhöht sind. Der Blick ins Gehirn mit speziellen bildgebenden Verfahren liefert ebenfalls interessante Hinweise.

Mögliche Veränderungen im Gehirn

So untersuchten die Jenaer Forscherinnen und Forscher mit einer besonders hochauflösenden Magnetresonanztomografie (MRT) die Gehirne von 30 Long-Covid-Patienten und -Patienteninnen, die unter neuropsychiatrischen Symptomen litten. Im Vergleich mit den MRTs von 20 gesunden Personen zeigten sich strukturelle Veränderungen in Hirn­arealen, die besonders relevant für Kognition und Emotion sind. Walter spricht vom „kognitiven Kontrollnetzwerk“ an der Stirnseite des Gehirns. „Dieses Netzwerk versetzt uns in die Lage, unsere Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten und mit unseren Gefühlen umzugehen“, so Walter. Je stärker die Symptome waren, desto deutlicher fielen auch die beobachteten Auffälligkeiten im Gehirn aus.

Diese Veränderungen im Gehirn könnten eine Erklärung dafür sein, warum neuropsychiatrische Symptome bei der Long-Covid-Erkrankung so hervorstechen. „Sie machen das Gesicht der Erkrankung aus“, sagt Walter. Dazu zählt er neben den Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie den Störungen des planerischen Denkens auch Fatigue sowie eine bedrückte oder sehr labile Stimmung, Schlafstörungen, Ängstlichkeit und posttraumatischen Stress.

In einer Studie, die 2021 in The Lancet Psychiatry erschienen ist, wurde der Werdegang von mehr als 200.000 Menschen mit einer überstandenen Covid-19-Infektion verfolgt. Wie sich herausstellte, kamen in dieser Gruppe neurologische und psychiatrische Diagnosen in den sechs Monaten nach dem akuten Infekt häufiger vor als bei Menschen, die eine Grippe oder eine andere Atemwegserkrankung hinter sich hatten.

Stress erhöht das Risiko

Beobachtungen aus der klinischen Praxis bestätigen das Bild. „Long-Covid-Patienten lassen sich auffällig schnell aus der Ruhe bringen, und es fällt vielen schwer, emotionale Belastungen zu kontrollieren und auszuhalten“, berichtet Walter. Nicht untypisch sind auch die plötzlichen Panikattacken und depressiven Gedanken, wie sie Marcel Debelec überfielen. „Insbesondere in der Frühphase von Long Covid kommen Angst und Depressionen sehr häufig vor – in einer Phase, in der Entzündungsprozesse eventuell am aktivsten sind“, so Walter.

Die Veränderungen im Gehirn bilden sich, so zeigen die Studien, mit der Zeit zurück – Depressionen und Ängste ebenfalls. Auch brain fog ist ein klassisches neuropsychiatrisches Symptom bei vielen Long-Covid-Erkrankten. Dieser unvermittelt aufziehende „Nebel im Gehirn“ machte Marcel Debelec immer wieder zu schaffen: „Ich diskutiere mit Leuten – und plötzlich kann ich dem Gespräch nicht mehr folgen, weil ich irgendwie nicht mehr ganz da bin.“

Fatigue, also die charakteristische Erschöpfung, ist bei von Long Covid Betroffenen ebenfalls mit entzündlichen Prozessen vor allem im Gehirn zu erklären. Das Gehirn gerate dabei in einen Teufelskreis: „Es ist durch die Entzündung in seiner Funktion beeinträchtigt und die Affektregulation ist daraufhin gestört. Das stresst den Organismus einmal mehr und das Gehirn muss noch mehr leisten, um Defizite zu kompensieren“, erklärt Walter. „Auf diese Anstrengung reagiert es mit einer Art Muskelkater.“ Dieser schränke die Funktionsfähigkeit des Hirns weiter ein, körperliche, geistige und psychische Belastungen führten also möglicherweise immer mehr in die Erschöpfung – bis hin zum voll ausgebildeten Syndrom der chronischen Fatigue (ME/CFS, siehe Definition unten), die als schwerste Verlaufsform von Long Covid gilt.

Individuelle Vulnerabilität

Anhaltende Entzündungsreaktionen im Gehirn, aber auch in anderen Organen wie etwa Herz oder Muskeln – das ist eine, aber nicht die einzige Theorie zu den möglichen Ursachen von Long Covid. Autoimmunprozesse, eine verstärkte Neigung zur Blutgerinnung, Schäden an den Innenwänden der Blutgefäße, niedriger Sauerstoffgehalt im Blut, Reaktivierung von Herpes- oder anderen Viren sind weitere ­Ansätze, die in der Forschung diskutiert werden.

Doch das sind bisher alles nur Mutmaßungen, eine hinreichende organische Erklärung für die vielen unterschiedlichen Long-Covid-Symptome existiert noch nicht. Deshalb fühlen sich viele Betroffene – ähnlich wie beim Fatiguesyndrom, das man ja nicht erst seit Corona kennt – in die „Psychoecke“ gedrängt. Sie erleben oft, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. „Sie haben nichts! Alles nur Kopfsache!“, bekam Marcel Debelec von einem Arzt zu hören.

Das ist natürlich Unsinn. Dennoch können Psychologie und Psychosomatik durchaus ihren Beitrag zum Verständnis gerade von langanhaltenden Symptomen leisten. „Bei jeder Erkrankung werden Intensität und Verlauf von Beschwerden durch psychische Einflüsse mitbestimmt“, sagt Christine Allwang, leitende Oberärztin der Psychosomatik am Klinikum rechts der Isar, das zu der Technischen Universität München gehört. Dass die Psyche beteiligt ist, „heißt nicht, dass die Betroffenen psychisch krank sind oder sich ihre Beschwerden nur einbilden“, betont Allwang. Sie arbeitet, wie in der Psychosomatik üblich, mit einem biopsychosozialen Modell. Es geht davon aus, dass jeder Mensch eine individuelle Vulnerabilität, also Verletzbarkeit mitbringt, ein ganz persönliches Paket von wunden Punkten.

Dazu gehören frühere Krankheiten oder auch unterschwellige organische Auffälligkeiten wie zum Beispiel erhöhter Blutzucker oder Blutdruck, erbliche Vorbelastungen, Traumatisierungen in der Kindheit, kulturelle Prägungen oder auch eine hohe psychosoziale Belastung im Alltag. Eine Studie, die 2022 in JAMA Psychiatry erschienen ist, legt nahe: Menschen, die vor einer Coronainfektion unter Depressionen, Ängstlichkeit, Krankheitssorgen, Stress oder Einsamkeit litten, haben ein um 50 Prozent höheres Risiko für Long Covid als Menschen ohne diesen psychischen Stress.

Der eigene Körper unter der Lupe

Auch Marcel Debelec stand in der Zeit vor der Coronainfektion beruflich und privat unter Druck. In seiner Firma musste er eine Aufgabe lösen und wusste noch nicht, wie er sie bewältigen sollte. Und am Wochenende hatten er und seine Freundin nie Zeit für sich, weil sie ihren großen Freundeskreis pflegen wollten. Während der Coronainfektion kam er zum ersten Mal seit langem zur Ruhe.

Warum halten die Symptome der akuten Infektion so lange an? Bei manchen Betroffenen kommen sogar neue hinzu. Für die Psychosomatik liegt eine Antwort darin, wie die Menschen mit den Beschwerden umgehen. „Wahrscheinlich haben viele von ihnen noch nie so in ihren Körper hineingehorcht wie während und nach der akuten Coronainfektion“, sagt Allwang. „Und wenn wir unseren Körper wie unter der Lupe beobachten, führt das zur Verstärkung der Körperbeschwerden.“

Neben dieser erhöhten Aufmerksamkeit für Symptome nimmt die sogenannte Krankheitserwartung in einem biopsychosozialen Modell eine zentrale Stelle ein. Sie wird durch viele Erfahrungen im Leben gefüttert: Wie habe ich bislang eigene Erkrankungen oder Krankheiten der Eltern erlebt? Habe ich dabei erfahren, dass ich selbst Einfluss auf den Verlauf nehmen kann? Wie wurde ich als Kind versorgt, wenn ich krank war? War ich schon mal mit einer schweren Erkrankung konfrontiert? Allwang macht auch auf die Rolle der Medien aufmerksam: „Undifferenzierte und angstauslösende Berichte haben gerade in der Zeit der Pandemie eine negative Krankheitserwartung angefacht.“

Die Erwartung, bei einer Coronainfektion durch Symptome belastet zu sein, kristallisierte sich in einer deutschen Studie, die 2022 in Frontiers in Psychology erschienen ist, tatsächlich als Risikofaktor für anhaltende körperliche Beschwerden heraus. Die Forscherinnen und Forscher erfassten bei 751 Erwachsenen körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit oder Müdigkeit zu zwei Zeitpunkten: im April 2020 und Anfang 2022. Die psychische Belastung durch die körperlichen Beschwerden erwies sich als ein Risikofaktor dafür, dass Symptome nicht verfliegen. Das erstaunlichste Ergebnis: Eine tatsächliche Infektion war kein Risikofaktor für länger anhaltende Symptome. Die eigene Überzeugung, sich infiziert zu haben, dagegen schon.

Mit den Symptomen umgehen

Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Wie ist das zu interpretieren? Wohlgemerkt: Hier wurde allgemein nach Beschwerden gefragt, es wurden also nicht gezielt Menschen mit einem schweren Long- oder Post-Covid-Syndrom begleitet. „Häufig wird nicht ausreichend berücksichtigt, dass Menschen auch unabhängig von einer Coronainfektion oft unter Körperbeschwerden leiden“, sagt Erstautorin Petra Engelmann. Die Psychologische Psychotherapeutin arbeitet an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

„Die Symptome können sich aufgrund von Sorgen wegen der Coronapandemie und negativen Erwartungen verstärken und werden dann – womöglich fälschlicherweise – in Zusammenhang mit Corona gebracht.“ Unabhängig von einer Coronainfektion haben bei allen in der Studie befragten Personen psychische und körperliche Symptome in dem erfassten Zeitraum zugenommen. „Das kann auf die psychischen Belastungen durch die Pandemie zurückzuführen sein“, vermutet Engelmann. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass zumindest in der frühen Phase der Pandemie Depressionen und Ängste angestiegen sind.

Eine Aufklärung darüber, wie körperliche Beschwerden und psychologische Mechanismen zusammenhängen – das ist ein Baustein in der Therapie von Menschen mit Long Covid. „Auch wenn vieles noch nicht geklärt ist, können wir schon jetzt wirksam helfen“, sagt die Münchner Psychosomatikerin Christine Allwang. Unter ihrer Leitung startete im März 2022 die Studie PsyLoCo. Verhaltenstherapeutische, psychodynamische und systemische Therapieelemente sollen die 120 an der Studie Teilnehmenden dabei unterstützen, mit Symptomen wie Schmerzen, chronischer Erschöpfung oder auch schwierigen Gefühlen umzugehen.

„Wenn bisher gesunde junge Menschen unter Beschwerden leiden, die lange anhalten und ihr Leben beeinträchtigen, dann führt das zu enormem Stress“, so Allwang. Die Erwartung, schnell wieder gesund zu werden, werde enttäuscht und die Betroffenen müssten sich neu orientieren. „Das erfordert unglaublich viel Umdenken und Umorganisieren des Alltags und eine hohe Kompromissbereitschaft.“ Bei diesem Prozess kann Psychotherapie oder psychologische Unterstützung ein wichtiger Wegbegleiter sein.

Pausen nach der Uhr

Das Zauberwort lautet Akzeptanz – die Tatsache annehmen, dass man nicht so leistungsfähig ist, und dabei nicht erwarten, dass es in drei Wochen besser wird. „Wir sind überrascht, dass die Patientinnen und Patienten ihre Schwierigkeiten oft gut beschreiben können, aber im Alltag trotzdem darüber hinweggehen“, berichtet Angelika Thöne-Otto von der Tagesklinik für Kognitive Neurologie am Universitätsklinikum Leipzig. Die Neuropsychologin bietet dort ein Behandlungsprogramm für Menschen an, die unter neurokognitiven Long-Covid-Symptomen leiden. „Sehr häu­fig haben wir Menschen hier, die eine hohe Leistungsmotivation haben. Jetzt müssen sie lernen, ihre Kraft im Tagesverlauf einzuteilen.“

Anhand von Tagesprotokollen beobachten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihr psychisches, körperliches und mentales Befinden und versuchen, die kleinen Rädchen zu finden, an denen sie drehen können. Das herausfordernde Ziel für sie ist, den für sie stimmigen Mittelweg zwischen zu viel Schonung und Überforderung zu finden. „Pausen sollten nicht unbedingt nach Gefühl, sondern nach der Uhr eingelegt werden“, rät Thöne-Otto. „Denn das Bedürfnis nach einer Pause kommt oft zu spät.“

Marcel Debelec hat behutsam angefangen, wieder zu arbei­ten, und schafft nach einigen Monaten das normale Pensum. Doch körperliche Aktivität traut sich der eigentlich sportliche Mann in den ersten Monaten nach der Infektion nicht zu. Im Rahmen eines Gruppenprogramms an der TU München gelingt es ihm, seine Leistungsfähigkeit Schritt für Schritt wieder aufzubauen. Dauer der Trainingseinheiten und Pulsbereiche sind in seinem persönlichen Trainingsplan genau festgelegt. Anfangs bewegte er sich auf dem Crosstrainer nur zehn Minuten lang, inzwischen sind es 50 Minuten. Was ihm bei dem verhaltenstherapeutisch orientierten Programm am meisten hilft: „Ich habe gelernt, die Symptome nicht als schlecht zu bewerten. Sondern ich akzeptiere, dass sie in diesem Moment da sind, aber auch wieder weggehen.“

Fatigue

Das diagnostische Kürzel ME/CFS steht für myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatiguesyndrom. Die Diagnose gab es lange vor der Coronapandemie. Hauptsymptom und deutlichste Überlappung mit Long Covid ist die Fatigue, die chronische Erschöpfung. Sie und viele andere Symptome schränken die Betroffenen massiv ein. Ausgelöst wird die komplexe Erkrankung häufig durch eine Virusinfektion.

Quellen

Claudia Ellert: Long Covid. Wege zu neuer Stärke. Edel Verlagsgruppe, München 2022

Bianca Besteher u.a.: Larger gray matter volumes in neuropsychiatric long-COVID syndrome. Psychiatry Research, 317, 2022. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9444315/

Maxime Taquet u.a.: 6-month neurological and psychiatric outcomes in 236.379 survivors of COVID-19: a retrospective cohort study using electronic health records. Lancet Psychiatry, 8, 2021, 416-427. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33836148/

Siwen Wang u.a.: Associations of depression, anxiety, worry, perceived stress and Loneliness prior to infection with risk of Post-COVID-19 conditions. Jama Psychiatry, 79/11, 2022, 1081–1091. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36069885/

Petra Engelmann u.a.: Risk factors for worsening of somatic symptom burden in an prospective cohort during the COVID-19 pandemic. Frontiers in Psychology, 2022. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2022.1022203/full

Nancy A. Melville: Neuropsychiatrische Defizite bei Long-Covid-19 lassen die Alarmglocken schrillen: Haben Ärzte die Folgen für das Gehirn bislang “übersehen“? Medscape, 10. Juni 2022. https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4911252

Philipp Graetzel: Post Covid: „Kaum einer hat Interesse an Studien“. DocCheck, 3. November 2022. https://www.doccheck.com/de/detail/articles/40695-post-covid-kaum-einer-hat-interesse-an-studien

Patientenleitlinie „Long/Post-Covid-Syndrom“: https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027p_S1_Post_COVID_Long_COVID_2023-02.pdf

Selbsthilfe: https://longcoviddeutschland.org/

Ärzte- und Ärztinnenverband Long Covid: long-covid-verband.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2023: Dinge weniger persönlich nehmen