Die Behandlung von Menschen, die unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (kPTBS) leiden, ist im wahrsten Sinne „komplex“. Komplex, weil sowohl Patientin als auch Therapeut in der Zusammenarbeit verschiedene und intensive Emotionen erleben. Komplex, weil viele neue Fertigkeiten erworben werden müssen und weil es in der Therapie vor allem um frühkindliche wiederholte Gewalt- und Missbrauchserfahrungen geht. Die Therapie rückt dementsprechend existenzielle Fragestellungen wie den Wert des…
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geht. Die Therapie rückt dementsprechend existenzielle Fragestellungen wie den Wert des Menschen, Schuld und Isolation in den Vordergrund.
Elif war einundzwanzig Jahre alt, als sie zu mir in die ambulante Psychotherapie kam. Sie war mit einem türkischen Migrationshintergrund in Berlin aufgewachsen. Knapp zwei Jahre arbeiteten wir wöchentlich zusammen. Ich diagnostizierte bei ihr eine kPTBS und eine rezidivierende depressive Störung mit mittelgradiger Episode. Sie studierte soziale Arbeit und hatte Mühe, ihre Leistungsfähigkeit während der studiumsbezogenen Praktika aufrechtzuerhalten. Nach einem erneuten sexuellen Übergriff im Erwachsenenalter hatte sie sich für eine Behandlung angemeldet.
Lernen, sich realistisch und verständnisvoll zu bewerten
In unserem Kontakt war Elif stets aufgeschlossen und humorvoll. Sie beeindruckte mich mit ihren intellektuellen Fähigkeiten sowie ihrer Belesenheit. Man hätte meinen können, dass sie keine Beschwerden habe. Wie schwerwiegend sie in ihrer Emotionsregulation, ihrer Selbstbewertung und ihrer Art der Beziehungsgestaltung beeinträchtigt war, stellte sich erst in dem weiteren Therapieverlauf heraus. Eine wiederkehrende Suizidalität mit Suizidversuchen hatte sie im Laufe ihres Lebens immer wieder eingeholt.
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Der Behandlungsverlauf war durch die jeweils im Vordergrund stehende Emotion in mehrere Abschnitte gegliedert. Zunächst trugen wir zusammen, was sich in ihrem bisherigen Leben ereignet hatte: sexueller und körperlicher Missbrauch in der Herkunftsfamilie, Anfeindungen und diskriminierende Erfahrungen durch Mitschülerinnen und Mitschüler und unbekannte Personen, erneute Gewalt in späteren partnerschaftlichen Beziehungen. Anschließend benannten und sortierten wir die Gefühle, die mit den Ereignissen verbunden waren.
Den Gefühlen Begriffe zuzuweisen und so überhaupt erst über sie sprechen zu können sorgte für eine erste Entlastung, da das innere Erleben nun kein unüberschaubares Chaos mehr war. Wir ordneten den Gefühlen beeinträchtigende Überzeugungen und langfristig schädliche Verhaltensweisen zu. Die übergeordneten Therapieziele waren klar ersichtlich und erstaunlich simpel in ihrer Formulierung: Elif musste lernen, ihre Gefühle auf eine nichtschädliche Art und Weise zu regulieren und sich selbst verständnisvoller und realistischer zu bewerten. Diese beiden Zielbereiche hatten sich in meiner langjährigen Arbeit mit traumatisierten Menschen als grundlegend herauskristallisiert.
Schuldgefühle vermitteln den Eindruck von Kontrolle
Zunächst beschäftigten uns ihre ausgeprägten Schuldgefühle. In Abgrenzung zu der konventionellen posttraumatischen Belastungsstörung, bei der meistens Angstgefühle im Vordergrund stehen, spielen bei der kPTBS oftmals eher Schuld- und Schamgefühle eine zentrale Rolle. Elif warf sich vor, sich bei der erlebten Gewalt nicht ausreichend gewehrt zu haben. Sie übernahm die vollständige Verantwortung für die Taten, die an ihr vollzogen worden waren. Man hatte ihr so lange eingeredet, sie habe die Gewalt und die Übergriffe selbst provoziert, bis sie es unhinterfragt glaubte. Wir diskutierten das Gefühl von Kontrolle, das uns Schuldgefühle vermitteln: „Hätte ich mich nur so oder so verhalten, dann wäre mir das nicht passiert. Also kann ich in Zukunft dafür sorgen, dass mir solch schreckliche Dinge nicht mehr widerfahren.“
Gemeinsam bezweifelten wir die Schuldfähigkeit und die inhärente Bosheit eines Kindes. Wir sammelten gute Gründe für ihr damaliges Verhalten. Elif konnte fortschreitend neue und hilfreichere Selbstüberzeugungen entwickeln. Ihr pauschales Schuldgefühl reduzierte sich. Es blieb eine Schuld sich selbst gegenüber: der Selbstvorwurf ungelebter Potenziale und unerreichter Ziele. Dementsprechend arbeiteten wir an einer Wiedergutmachung ihrer eigenen Person gegenüber und etablierten sinnvoll bewertete Aktivitäten in Elifs gegenwärtiger Situation.
Bewegender Wendepunkt in der Therapie
Nach der Bearbeitung ihrer Schuldgefühle erlebte Elif eine große Scham. Sie fürchtete, dass ich oder andere Personen aufgrund der Dinge, die ihr widerfahren waren, etwas Schlechtes von ihr denken könnten. Wir beabsichtigten, Elifs Wert als Mensch von Leistung, Perfektion und der versuchten Erniedrigung durch andere unabhängig zu machen. Versuchte Erniedrigung, da wir erarbeiteten, dass niemand Externes uns erniedrigen und unseren Wert als Mensch infrage stellen kann.
Elif formulierte die Hypothese, dass diejenigen, die ihre Macht ausnutzen, diejenigen sind, die sich eigentlich erniedrigen. Das war ein entscheidender Wendepunkt in der Behandlung und sehr bewegend. Ferner erarbeitete sie, dass man seine Existenzberechtigung allein durch seine Existenz gewinnt und es daher müßig ist, den Wert von verschiedenen Menschen zu unterscheiden. Der entscheidende Transfer war anschließend, dass sie diese Erkenntnisse auch in ihrem Verhalten umsetzte. Schritt für Schritt reduzierte sie ihre abwertenden Selbstgespräche.
Trotz der fruchtbaren Diskussionen hielten sich Elifs Schamgefühle hartnäckig. Wir schlossen daraus, dass auch traumaunabhängige Schamgefühle vorhanden sein mussten. Über Umwege thematisierten wir das Schamgefühl, das durch das Aufwachsen mit einem Migrationshintergrund entsteht. Elif fühlte sich in diesem Bereich von mir verstanden, da ich selbst als Kind türkischer Eltern in Berlin aufgewachsen war. Menschen in unserer Lage unterscheiden sich schon per se von der Norm, ohne dass es zu diskriminierenden Erfahrungen von außen gekommen sein muss. Bei einigen Menschen mit Migrationshintergrund entsteht dadurch eine tiefverankerte Scham. Die Lösung war, sich nicht mehr vollständig in ihre Ursprungs- oder die deutsche Kultur einfügen zu müssen, sondern die Vorteile der beiden Erfahrungswelten anzuerkennen und eine neue Kategorie für sich selbst zu entwickeln.
Am Ende war nur noch Trauer
Während unserer Bearbeitung der Schuld- und Schamgefühle traten wiederholt suizidale Gedanken auf, die jedoch mithilfe der tragfähigen therapeutischen Beziehung und im Rahmen von Elifs zunehmender Unabhängigkeit aufgefangen und abgebaut werden konnten. Im Anschluss gingen wir die auf belastende Erfahrungen zurückgehenden Ängste an, etwa mittels traumakonfrontativer imaginativer Methoden.
Als letztes Gefühl trat eine starke Trauer auf. Die Trauer war bezogen auf den Verlust einer heilen Kindheit und die nie erreichte liebevolle Beziehung zu ihren Eltern. Mit dem fortdauernden Trauerprozess und der Entwicklung einer Akzeptanz für das Geschehene konnte auch dieses Gefühl letztendlich von Elif verarbeitet werden. Am Ende der Therapie lernte sie, sich in ihren Beziehungen angemessen abzugrenzen und den eigenen Bedürfnissen nachzugehen, um die Wahrscheinlichkeit für weitere Übergriffe möglichst gering zu halten.
Die Zusammenarbeit mit Elif hat mich zutiefst bewegt. Ich empfand viele der Gefühle, die sie empfunden hatte, und konnte ihr stets ein ehrliches Mitgefühl für ihre Situation entgegenbringen. Diese Akzeptanz half ihr, sich zu öffnen. Auch konnte ich mich in den Gesprächen mit ihr selbst mit den erwähnten existenziellen Themen auseinandersetzen und meine Ansichten in diesen Bereichen ausdifferenzieren.
Serdar Tarik Hizli arbeitet als Oberpsychologe auf einer Psychotherapiestation für junge Erwachsene in der Schweiz. Er ist Mitglied der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie.