„Ich glaube an den Gutmenschen“

Die Erfahrung von Kultur macht uns hilfreich und gut. Zumindest bis zu unserem sechsten Lebensjahr, sagt der Verhaltensforscher Michael Tomasello.

Die Illustration zeigt urzeitliche Menschen, die mit Speeren ein Mammut angreifen
© Emiliano Ponzi

Herr Tomasello, die Coronakrise lässt so manchen mal wieder am Menschen zweifeln: Erst streiten wir uns im Supermarkt um Toilettenpapier. Dann torpedieren wir soziale Distanz und Maskenpflicht. Sind wir im Zweifel doch nur raue Egoisten?

Auf keinen Fall. Machen Sie mal Studien über das Sozialverhalten von Schimpansen. Da lernen Sie schnell, dass der Mensch im Vergleich mit unseren stammesgeschichtlich nächsten Verwandten ultrasozial ist. Das haben wir in unseren vielen Studien immer wieder gesehen. Wenn zum…

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Verwandten ultrasozial ist. Das haben wir in unseren vielen Studien immer wieder gesehen. Wenn zum Beispiel jeweils zwei Schimpansen und zwei Kinder zusammenarbeiten müssen, um an ein begehrtes Stück Nahrung zu kommen, schaffen das beide – Menschenaffe und Mensch. Aber nur die kleinen Kinder teilen danach den Lohn der Arbeit.

Das ist schön zu hören, hilft aber am Ende auch nicht, wenn die Menschen nicht zusammenstehen, damit wir zum Beispiel alle das Virus loswerden.

Korrekt. Aber Sie in Deutschland bekommen das im internationalen Vergleich doch mehrheitlich sehr gut hin mit dem Sozialverhalten in der Pandemie. Das merke ich umso stärker, seit ich wieder in den USA lebe. Wir haben hier jede Menge Leute, die Individualität und Nonkonformität über alles stellen. Das ist ein großes Problem, gerade in Zeiten von Covid-19, wo Zusammenarbeit entscheidend ist.

Denker haben in allen Jahrhunderten darüber sinniert, ob der Mensch im Wesen freundlich und kooperativ ist oder ein geborener Egoist ist. Wo stehen Sie?

Ganz klar auf der Seite des französischen Philosophen Rousseau im 18. Jahrhundert. Das bedeutet: Ich glaube an den Gutmenschen. Es ist für mich ein empirisches Faktum, dass Kinder von klein auf prosozial sind und hilfreich und großzügig. Ich gehe auch konform mit Adam Smith, der den Menschen mit seinen angeborenen Gefühlen als empathisches Geschöpf betrachtet hat, bereit zur ethischen Erziehung.

Also nicht die Wesen, die nur eines kennen: Ich, ich, ich?

Nach unseren Erkenntnissen sieht es so aus: Wir haben selbstverständlich einen Egoismus, den wir zum Beispiel mit den Schimpansen stammesgeschichtlich teilen. Dieser Egoismus tritt in lebensbedrohlichen Situationen besonders zutage: wenn es um mich herum brennt und ich mich im Zweifel erst einmal selbst rette. Wenn ich in einer Pandemie bedroht bin. Auch Babys brauchen und nutzen selbstverständlich diesen Egoismus, um zu überleben. Aber schon um das erste Lebensjahr herum kommt das heraus, was sie vom Schimpansen fundamental unterscheidet.

Es ist das stammesgeschichtliche Erbe, das wir mit unseren Vorfahren teilen, die in der Steinzeit als Jäger und Sammler durch Wald und Wiesen gestreift sind, und zwar in überschaubaren Gruppen von 50 bis 100 Leuten. Diese Menschen waren angewiesen auf einen extremen Kooperationswillen. Die haben sich, auch wenn sie nicht verwandt waren, wie eine große Familie benommen. Die waren freundlich zu den Gruppenmitgliedern, halfen anderen in vielfältiger Weise und erwarteten, dass ihnen geholfen wird. Sie haben sich sogar für Unbekannte geopfert.

Wie zeigt sich dieser Kooperationswille bei den Einjährigen?

Durch das referenzielle Dreieck, wie wir es wissenschaftlich nennen: das Baby, ein anderer, erwachsener Mensch – und irgendetwas, dem beide gemeinsam ihre Aufmerksamkeit schenken, das sie gemeinsam betrachten, aus verschiedenen Blickwinkeln. Durch Augenkontakt versichert sich das Baby, dass der Erwachsene auch genau diese gemeinsame Sache im Blick und Sinn hat. Und ganz wichtig: Es zeigt mit den Fingern darauf, weil es die anderen daran interessieren will, was es selbst interessiert. So stellen sie einen gemeinsamen Fokus her.

Das ist der Big Bang nicht nur unseres ultrasozialen Lebens der Jäger und Sammler, sondern aller kulturellen Leistungen, die der Homo sapiens entwickelt hat. Und natürlich von Sprache. Dieses Konzept der geteilten Aufmerksamkeit propagiere ich schon lange. Es ist wie das Fundament, auf dem man die Stockwerke eines Hauses baut. Schimpansen und andere Menschenaffen zeigen keine geteilte Aufmerksamkeit. Das unterscheidet sie psychologisch und kognitiv vom Menschen. Diese Fähigkeiten braucht das Baby, um mit Erwachsenen zu interagieren.

Wie entwickelt sich das Sozialverhalten beim Kleinkind weiter?

Im Alter von etwa drei Jahren kommt der nächste große Schritt – das Richtfest des entstehenden Hauses, wenn Sie so wollen. Dann beginnen die Kinder zu verstehen, dass sie das Mitglied einer Gruppe mit einer spezifischen Kultur sind. Sie beziehen sich auf diese Gruppe und ihre sozialen Normen. Sie begreifen, dass diese sozialen Normen auf dem Gruppenlevel ablaufen. Die Kinder in unseren Studien korrigieren die anderen, die Regeln verletzen, die ihre kulturelle Gemeinschaft ausmachen: „Man kann das nicht machen“, sagen sie dann.

Auch in Situationen, wo es ihnen selbst gar nicht schadet?

Auch dann. Sie sehen also: Es geht nicht um ihre persönliche Meinung, sondern um die allgemeinen Gewohnheiten ihrer Kultur. Sie begreifen, dass es etwas Größeres gibt als man selbst. Sie zeigen jetzt eine gegenseitig-gemeinsame Verbindlichkeit und später eine kollektive Verbindlichkeit. Dieser Sinn, konform mit den anderen Menschen ihrer Kultur zu werden, geht sehr weit. In einer unserer Studien haben sie zum Beispiel ein bestimmtes Problem gelöst. Dann haben sie anderen zugeschaut, die das gleiche Problem anders gelöst haben. Und obwohl sie zuvor erfolgreich waren, haben 40 Prozent in einer Folgestudie versucht, das Problem wie ihre Artgenossen zu lösen.

Das soziale Lernen dient also auch dem Zweck, mit den anderen konform zu sein. Dazu gesellt sich ein Sinn für Fairness und Gerechtigkeit, der durch die Identifizierung des Selbst mit den anderen deutlich über das eigene Interesse hinausgeht. Sie helfen Opfern von Ungerechtigkeit. Im Alter von sechs bis sieben Jahren kommt der nächste große Meilenstein. Jetzt lernen sie, vernünftig und eigenverantwortlich zu entscheiden. Jetzt fangen sie an, kulturspezifische Aufgaben zu erfüllen. Ziegen hüten zum Beispiel bei manchen Naturvölkern. Oder eine Botschaft überbringen. In die Schule gehen in westlichen Kulturen. Die erste Kommunion empfangen bei Katholiken. Und so weiter und so weiter.

Man bekommt den Eindruck, junge Menschen lebten in einem moralisch kristallinen Zustand. Fast wünscht man sich, die Zeit möge für jedes heranwachsende Kind stehenbleiben, damit die Welt ein besserer Ort wäre. Sind Kleinkinder maximal kooperativ?

Kinder unter drei Jahren kooperieren tatsächlich fast grenzenlos, auch weil sie noch sehr durch ihre Eltern beschützt werden. Sie haben nicht so viele soziale Kontakte. Sie sind nett zu fast allen und glauben, alle seien nett zu ihnen. Natürlich müssen dann die prosozialen Motive der Kinder mit ihren eigennützigen Motiven konkurrieren. Diese eigen­nützigen Motive kommen dann zum Vorschein, wenn zwei Kinder zum Beispiel um ein Spielzeug konkurrieren. Aber die Tatsache, dass Kinder solche Konflikte erleben, bedeutet gerade, dass sie zu moralischen Wesen werden. Maximale Kooperation bei minimaler Konkurrenz, das ist der Mensch. Wenn sie dann vier oder fünf werden, passiert allerdings wieder etwas Wesentliches: Sie fangen an, ihr Image zu pflegen, denken langsam darüber nach, was andere von ihnen halten, ob andere vor allem denken, dass man gut mit ihnen zusammenarbeiten kann. Sie unterhalten sich sogar schon darüber, ob andere gute Kooperationspartner sind oder nicht.

Wie kommt das?

Evolutionär betrachtet spiegelt sich hier das Verhalten, das Menschen seit Beginn der Zivilisation – Landwirtschaft, Städte und so weiter – entwickelt haben. Seitdem leben viele Menschen an einem Ort zusammen. Im Zuge dessen hat sich eine zweite Form des Egoismus im menschlichen Verhalten festgesetzt: Wir machen jetzt Dinge, um Status und Macht zu bekommen. Einige Leute reißen Ressourcen an sich, häufen Kapital an, ganz im Sinne Karl Marx’. Die menschlichen Gesellschaften bekommen Dominanzhierarchien. Das ist die Welt, in der wir heute leben, in der einige wenige Menschen viele andere dominieren. Eine Welt mit viel unkooperativem Verhalten, basierend auf Machtstrukturen und mehr oder weniger gewaltsamen Konflikten unterschiedlicher Gruppen. Im späten Vorschulalter beginnt diese Form des Egoismus zu wirken.

Was sagt das alles über das Sozialverhalten älterer Kinder und Erwachsener aus?

Nur dass in diesem Alter das Haus des späteren Soziallebens gebaut wird. Was dann später an Rissen in diesem Haus dazukommt, ist nicht mein Forschungsgebiet. Eines sollten wir aber nicht vergessen: In uns wetteifern viele grundlegende Motive, die unser Handeln bestimmen. Erstens der Egoismus der Schimpansen und der Zivilisation. Zweitens Kooperationswille, Altruismus, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren. Drittens das Streben nach Fairness und Gleichheit. Und viertens das Streben, den sozialen Normen der eigenen Kultur zu entsprechen. Mit diesen widerstrebenden Motiven navigieren wir uns durch das Leben. Welche Motive jeweils überwiegen, hängt ab vom Kontext, von unserer Kultur und von individuellen Unterschieden. Asiaten betonen Kooperation und Kulturkonformität, Menschen in westlichen Gesellschaften das individuelle Streben nach Macht und Status. Und einige Leute sind im Schnitt einfach grundsätzlich netter als andere. Egal wo sie herkommen.

Durch die Gene, die sie geerbt haben? Oder durch die Um­stände und die Umwelt, in die sie hineingeboren wurden?

Die Debatte um den Einfluss von Natur und Umwelt auf die Entwicklung des menschlichen Verhaltens trifft nicht den Kern. Die Natur hat uns die Kultur gegeben, und die Kultur gestaltet unsere Natur. Beides ist eins. Das sagt die aktuelle wissenschaftliche Evidenz ganz eindeutig. Wir haben erstens Schimpansen, die Menschen sehr ähneln, aber keine Kultur im Sinne des Menschen entwickeln – Mathematik, Computer, diese ganzen Sachen. Wir als Wissenschaftler sehen zweitens Kinder mit Autismus, die ein biologisches Defizit haben und deshalb nicht am kulturspezifischen sozialen Leben teilnehmen können. Es muss also ein biologisches Substrat geben für unser komplexes soziales Leben. Einjährige können auch noch nicht daran teilnehmen, haben aber ein ganzes Set biologischer Fähigkeiten und Mechanismen, die sie rüsten, an ihrer Kultur teilzuhaben – sofern, und das ist essenziell, andere Menschen mit ihnen interagieren. Das „Wir“ ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Wenn man in unterschiedlichen Kulturen aufwächst, endet man mit unterschiedlichen Sprachen, Werten und sozialen Normen. Also: Alles greift ineinander, Natur und Kultur.

Sie betonen immer wieder das „Wir“. Haben Sie Hoffnung, dass sich unser Sinn fürs „Wir“ erweitern lässt, um Herausforderungen zu meistern, die die gesamte Menschheit be­treffen? Stichworte: Pandemie oder Klimaerwärmung?

Da müssten vielleicht Außerirdische als Feinde die Welt erobern wollen und uns bedrohen, so dass die Menschheit als Ganzes zusammenstehen würde. Da hätte man dann ein Ziel, das alle zusammenschweißen würde. Aber ernsthaft: Kultur ist ja etwas, das zwar einerseits stark ist, andererseits aber auch im Fluss. Soziale Normen können sich verändern, mehr oder minder stark. Wir sehen das gerade sehr ausgeprägt in den Vereinigten Staaten in der Bewegung Black Lives Matter. Wer sich zum Beispiel noch zur alten Flagge der Südstaaten bekennt oder sich mit ihr zeigt, outet sich als Rassist. Da ist eine neue soziale Norm im Entstehen, die Veränderung geradezu erzwingen könnte. Sich neuen Erfahrungen auszusetzen, auf diese Weise andere Kulturen kennenzulernen, das hilft ganz sicher. Ich selbst hatte vor ein paar Jahren solch ein Erlebnis mit syrischen Flüchtlingen: Deren Kinder haben sich genauso danebenbenommen wie meine kleine Tochter (lacht). Ähnlichkeiten mit Menschen anderer Kulturen erkennen und wertschätzen, das hilft ungemein, um Gemeinsinn zu stärken.

Glauben Sie, dass die frühe Erziehung und Ausbildung von Kindern bei uns zu individualistisch ist, vor dem Hintergrund, dass soziales Lernen so zentral ist?

Ja, das glaube ich. Kleinkinder brauchen mehr Interaktion mit Gleichaltrigen, die nicht von einem Erwachsenen „überwacht“ wird. So etwas würde die Kreativität der Kinder sicher fördern. Und auch für die moralische Entwicklung ist es essenziell, dass Kinder sich auch mit ihresgleichen auseinandersetzen, ohne Supervision eines Erwachsenen – um ihren eigenen moralischen Kompass zu entwickeln. Dabei nutzt die Kooperation mit Gleichaltrigen immens.

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Michael Tomasello ist ein US-amerikanischer Anthropologe und Verhaltensforscher sowie Autor zahlreicher Bücher. Am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist er emeritierter Professor

Literatur

Michael Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Suhrkamp, Berlin 2020 

Kooperation

Menschen arbeiten zusammen, wenn sie die Arbeit gemeinsam planen und ihre Zielvorstellungen miteinander abstimmen. Dabei akzeptieren sie bestimmte Regeln und Verfahren, die vom Kontext, etwa der Unter­nehmenskultur abhängen. Zur Kooperation gehören der Austausch von Informationen und gegenseitige Unterstützung sowie Fairness und Vertrauen. Gleichzeitig gilt als wichtig, dass die Akteure bis zu einem gewissen Grad autonom bleiben könne

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter