Wofür ist Mitgefühl gut?

Was geschieht im Gehirn, wenn wir Mitgefühl empfinden? Die Psychologin Tania Singer schlägt Brücken zwischen Meditation, Hirnforschung und Kunst.

Eine junge Frau hält einen Dalmatiner im Arm der Mitgefühl ausstrahlt
Empathie ist ganz allgemein die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen. © Gary John Norman/Getty Images

Psychologie Heute Frau Professor Singer, wie war das, als die Kunst Sie umgehauen hat?

Tania SINGER Ehrlich gesagt: Ich lag schon. Das gehörte zur Versuchsanordnung. Ich lag flach auf dem Boden der großen Turbinenhalle in der Londoner Tate Modern; der Raum war von einer riesigen goldenen Sonne beleuchtet, die der Künstler Ólafur Elíasson dort installiert hatte – und in einem Spiegel unter der Decke, ganz weit oben in 35 Meter Höhe, sah ich mich winzig klein, auf dem Rücken liegend. So winzig, dass ich winken…

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Decke, ganz weit oben in 35 Meter Höhe, sah ich mich winzig klein, auf dem Rücken liegend. So winzig, dass ich winken und zappeln musste, um zu erkennen, welche der vielen kleinen Ameisen da unten ich war. Denn der Boden der Halle war voll; die Londoner waren in Scharen in die Ausstellung gepilgert wie zu einem Popkonzert. Eine Zeitung schrieb, die Schau sei für die Leute ein großartiges free concert. Und natürlich haben alle, wie sie da lagen, versucht, sich selbst an ihrem Winken und Zappeln zu erkennen.

PH Warum sagen Sie trotzdem, das Erlebnis habe Sie umgehauen?

SINGER Bildlich gesprochen hat es das tatsächlich. Weil mir durch diese künstlerische Installation eindrücklich vor Augen geführt wurde, wie sehr wir alle zusammengehören. Wie wichtig Gemeinschaft für uns ist. Und wie klein wir als Einzelne sind. Es war ein Kunstwerk, das erst durch die Menschen entstand. Und dadurch, dass sie sich ihrer selbst im Spiegel gewahr wurden. Ein faszinierendes Erlebnis.

PH Von da an waren Sie ein Fan des Künstlers Ólafur Elíasson?

SINGER Das vielleicht nicht. Nicht sofort jedenfalls. Ich habe diese Inszenierung sehr bewundert. Sie belegte in meinen Augen eine wichtige, grundlegende, mir aus meiner eigenen Arbeit durchaus vertraute Erkenntnis über unser Dasein: die Erkenntnis von Gemeinsamkeit. Was mir neu war und mich faszinierte, war die künstlerische Formulierung dieser Botschaft: Sie musste nicht erst mühsam entschlüsselt werden. Sie war schön und sinnlich – und teilte sich ganz intuitiv mit, allein über das Gefühl.

PH Und heute arbeiten Sie mit Ólafur Elíasson zusammen.

SINGER Richtig. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte. Die Ausstellung in der Tate Modern war 2003; dass Elíassons Arbeit mein Forschungsgebiet schon damals berührte, war Zufall. Wir wussten nichts voneinander. Es sollte dann bis 2010 dauern, bis wir uns kennenlernten. Da waren wir beide als Redner zur Konferenz „Falling Walls“ in Berlin eingeladen, die jedes Jahr am Tag des Mauerfalls, also dem 9. November stattfindet. Ólafur hat dort sein Konzept einer Kunst erläutert, in der es um Gemeinsamkeit geht, um soziale und ökologische Vernetzungen, um eine Ökonomie der Nachhaltigkeit und der Kooperation. Auch um geteilte Emotion. Und weil das ja seit vielen Jahren die Themen meiner wissenschaftlichen Arbeit sind – Mitgefühl, Empathie, compassion, emotionale Resonanz und Ansteckung – kamen wir ins Gespräch. Er war sehr interessiert, zumal er gerade einen künstlerischen Beitrag für die Olympischen Spiele 2012 in London vorbereitete.

PH Konnten Sie ihm helfen?

SINGER Nun, er hat oft bei mir angerufen damals. Wir haben intensiv miteinander kommuniziert. Es gab ja wirklich eine Menge Parallelen zu meiner Arbeit: Ich war gerade aus der Schweiz nach Leipzig gezogen, wo ich nun als Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften meine große Längsschnittstudie zum Mitgefühlstraining plante und vorbereitete: das ReSource-Projekt, ein Riesenprojekt! Wir hatten zuvor schon in Zürich Jahre in die Vorbereitung investiert …

PH Mitgefühl und Hirnforschung: Wie geht das zusammen?

SINGER Wir betreten da wirklich Neuland. Dazu gab es in der Literatur lange so gut wie nichts; erst in jüngster Zeit wächst das Interesse. Es geht uns um die Plastizität des sozialen Gehirns. Um Fragen also wie: Kann man so etwas wie Mitgefühl, positiven Affekt, Empathie, die Übernahme der Perspektive einer anderen Person – kurz: Kann man sozial-kognitive oder auch affektive und emotionale Fähigkeiten trainieren? Wann funktioniert das am effektivsten? Kann man es auch als Erwachsener noch? Und was mich als Neurowissenschaftlerin natürlich besonders interessiert: Wie verändern sich dabei Strukturen und Netzwerke im Gehirn?

PH Wir kennen Plastizität aus der Hirnforschung zu kognitiven Fähigkeiten. Da gibt es diese Geschichte von den Londoner Taxifahrern, bei denen ein bestimmter Teil des Gehirns – der nämlich, der für räumliche Orientierung zuständig ist – viel größer ist als bei Menschen, die sich nicht so viele Straßen, Namen und Verbindungen merken müssen …

SINGER Ein Klassiker. Plastizitätsforschung für räumliches Gedächtnis. Wird immer wieder gern zitiert, ist aber uralt. Wahrscheinlich stimmt der Befund längst nicht mehr, weil auch in London die Taxifahrer heute ein Satelliten-Navigationssystem benutzen. Aber zu erklären ist das Phänomen tatsächlich dadurch, dass die Leute sich jeden Tag in räumlicher Navigation trainieren.

PH Rechnen Sie in Ihrem Projekt auch mit solchen Befunden? Also damit, dass sich bei den Teilnehmern an einem Programm zu affektiven und emotionalen Fähigkeiten infolge dieser Übungen bestimmte Hirnregionen verändern? Vielleicht wachsen oder dichter werden?

SINGER Im Prinzip wäre das die Idee, ja. Aber wir wissen natürlich, dass es sich nicht um ein einzelnes Areal handelt. Das ist in der Neurowissenschaft so gut wie nie so. Es gibt nicht ein Areal für eine bestimmte isolierte Fähigkeit, sondern es sind meist weitverzweigte Netzwerke, zumal bei den komplexen Verhaltensdispositionen, über die wir hier reden. Aber in diesen Netzwerken lassen sich Veränderungen ausmachen. Wir haben durch frühere Forschung Belege dafür, dass sich schon nach einer Woche Training von Mitgefühl mehr Aktivität in relevanten Hirnarealen nachweisen lässt. Wenn wir das Training intensivieren, es zeitlich ausdehnen und die Effekte mit denen einer anderen Trainingssequenz vergleichen, wie wir es im Rahmen unseres Projekts tun – dann sollte sich eine Verbesserung in diesen Strukturen schon deutlich nachweisen lassen.

PH Physische Veränderungen?

Singer Natürlich: im Gehirn. Davon gehen wir aus. Als Effekte des Trainings sollten sich sowohl Veränderungen der grauen Substanz als auch der Hirnaktivitätsmuster zeigen. Genau das ist neuronale Plastizität – durchaus vergleichbar dem Muskelzuwachs und den verbesserten Kreislauffunktionen, wenn Sie in einem Fitnessstudio trainieren. Es gibt zum Beispiel eine lange Tradition, die hirnphysiologischen Veränderungen etwa bei besonders geübten Klavierspielern zu untersuchen und daraus auf günstige Entwicklungsphasen für das Erlernen solcher sensomotorischen Fähigkeiten zu schließen. Wann sollte man mit der Violine beginnen, damit die entsprechenden Hirnstrukturen noch plastisch sind? Wann ist die beste Zeit, eine Sprache zu erlernen? Das sind Themen, zu denen in den Neurowissenschaften seit Jahrzehnten Plastizitätsforschung betrieben wird und zu denen auch sehr solide Befunde vorliegen.

PH Und nun also: das beste Alter für Mitgefühl?

SINGER Das wäre eines unserer Ziele. Aber im emotional-affektiven Bereich sieht es mit den Befunden ganz anders aus. Also Fragen wie: Wann erlerne ich meine emotionale Bindungsfähigkeit? Gibt es kritische Phasen? In welchem Alter kann ich so etwas wie Empathie oder Mitgefühl am besten lernen? Wie entwickelt sich das, und welche Hirnregionen zeigen die dazu notwendige Plastizität? Kann ich so etwas trainieren wie die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen zu übernehmen? Mich in jemanden hineinzuversetzen? Wie erwerbe ich soziale Intelligenz? Zu alledem gibt es in der bisherigen Forschung sehr, sehr wenig. Vielleicht einiges zu negativen Affekten, zu Angst oder traumatischer Belastung. Aber positive Affekte, Liebe, Mitgefühl, prosoziale Motivation: Fehlanzeige! Was absolut erstaunlich ist, wenn man sich vorstellt, wie wichtig solche Fragen sind.

PH Sie sind aufgewachsen mit einer Zwillingsschwester, Nathalie. Spielt diese Konstellation eine Rolle für Ihr berufliches Interesse an sozialen Affekten?

SINGER Natürlich! Wenn Sie schon als Kind tagein, tagaus und in großer Nähe erleben, wie ansteckend Lachen oder auch Traurigsein ist, dann entwickeln Sie schnell auch eine systematische Neugier für Empathie oder Mitgefühl.

PH Diese beiden, Empathie und Mitgefühl, sind zentrale Konzepte Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Sind es Synonyme?

SINGER Ganz und gar nicht! Empathie ist ganz allgemein die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen: Wenn Sie zum Beispiel Schmerzen haben, Sorgen, Angst, was auch immer, und ich stehe dabei, dann erlebe ich als empathischer Mensch ähnliche Empfindungen. Solche affektive Resonanz ist praktisch universell: Fast jeder Mensch reagiert so. Mehr oder minder deutlich. Und das Phänomen ist in vielen Untersuchungen bestätigt: Man aktiviert dann neuronale Netze, die auch der eigenen Empfindung dieser Gefühle – zum Beispiel Schmerz – zugrunde liegen. Das ist wie eine Spiegelung … Und was für negative Empfindungen gilt, gilt natürlich auch für Lachen oder für Freude, die ich teile: Es sind dieselben Netzwerke, die dann in einem empathischen Beobachter aktiviert werden. Mitgefühl dagegen ist eine Reaktion auf ganz anderer Ebene. Das können wir auch hirnphysiologisch nachweisen: Wenn der eine leidet, dann geht der andere nicht in dieses Leiden hinein, sondern empfindet so etwas wie Fürsorge und Wärme, auch eine Motivation, dem Leidenden zu helfen. Stellen Sie sich etwa vor, was eine Mutter für ihr weinendes Kind empfindet: Sie stimmt nicht in das Weinen ein, sondern reagiert mit besonderer Zuwendung – und tut vielleicht auch etwas, um den Grund für Schmerz oder Traurigkeit zu beheben. Wir reden von Fähigkeiten, die eine Überlebensfunktion haben. Vielleicht sogar für die Gesellschaft …

PH Sie haben mal gesagt, Kunst und Wissenschaft lägen nicht so weit auseinander, wie die Menschen oft glauben. Lässt sich ein Forschungsprojekt also inszenieren wie ein Kunstwerk?

SINGER Also, ich denke, was Kreativität betrifft, sollten wir uns keinen allzu großen Illusionen hingeben. Natürlich gibt es sehr kreative Phasen, gerade dann, wenn man wissenschaftliches Neuland betritt. Und natürlich gibt es speziell in unserem Bereich Momente, in denen Ideen und Impulse aus ganz verschiedenen Quellen in kreativer Weise zusammengebracht werden – wir sozialen Neurowissenschaftler legen großen Wert auf interdisziplinäre Zusammenarbeit. Aber so ein Projekt hat auch seine sehr mühseligen Seiten. Zunächst einmal ist es ein riesengroßes Unterfangen, das strukturiert und organisiert werden muss. Wir reden, um mal die Rahmendaten zu nennen, von einer Längsschnittstudie mit vielen Forschern, fast 20 speziell ausgebildeten Lehrern und 200 Probanden, die wir zunächst einmal aus 2700 Personen auswählen mussten, zur Hälfte in Berlin, zur Hälfte in Leipzig.

Wir brauchten für unser Projekt Personen, die bereit und in der Lage sind, mehr als neun Monate lang jeden Tag 30 Minuten mentales Training zu absolvieren. Wir erfassen mehr als 50 Parameter, das Herz, das autonome Nervensystem; wir messen Kortisolspiegel, Hormone, Immunsystem, aber auch das subjektive Empfinden. Wir erheben Tests zum Verhalten und führen qualitative Tiefeninterviews, beobachten die Hirnaktivität regelmäßig im Scanner, also dem Magnetresonanztomografen bei uns in Leipzig, und fragen unsere Probanden fast jeden Tag über unsere Webplattform oder am Mobiltelefon: Was fühlen Sie gerade? Was denken Sie? Wie geht es Ihnen? Wirklich ein volles Programm! Vor allem aber sollten unsere Probanden keine Vorerfahrung mit den doch recht weitverbreiteten und sehr unterschiedlichen Techniken der Meditation haben. In der herkömmlichen Meditationsforschung stellt das ein Problem dar: Da sind die Teilnehmer häufig Menschen, die ohnehin gerade in ein retreat gehen …

Wir suchten Leute, die zwar motiviert sind, etwas zu tun für sich, etwas zu verändern, aber spezifisch vorgebildet sein sollten sie nicht. Das ist uns gelungen. Manche wissen nicht einmal, wer der Dalai-Lama ist.

PH Es sind buddhistische Mönche, Anhänger des Dalai-Lama, zum Teil aus Tibet, häufig auch aus westlichen Ländern, auf deren Lehren und Erfahrungen Sie Ihr Trainingsprogramm aufgebaut haben. Ist das nicht zunächst mal eine Distanzierung, befremdlich in einer doch maßgeblich von christlicher Tradition geprägten Kultur?

SINGER Es ist nicht wirklich wichtig, jedenfalls nicht im Hinblick auf etwaige religiöse Inhalte. Wir haben unser Programm sehr sorgfältig von solchen Inhalten befreit und mit psychologischen Techniken westlicher Herkunft durchmischt, haben es sozusagen säkularisiert. Jede Missionierung läge uns sehr fern.

PH Warum dann aber buddhistische Mönche? Sie hätten sich ja auch an der reichen Tradition christlicher Einkehr und Meditation orientieren können.

SINGER Das hat zwei Gründe, einen eher persönlichen, vielleicht biografischen und einen pragmatischen. Ich bin nach dem Psychologiestudium nach London gegangen, um dort Empathieforschung zu betreiben und mich als Neurowissenschaftlerin ausbilden zu lassen. Dort begegnete ich Matthieu Ricard, einem französischen Molekularbiologen, der sich dem Buddhismus zugewandt hatte und Mönch geworden war. Gleichzeitig kam der Kontakt zum Mind & Life Institute zustande, in dem der Dalai-Lama seit gut 25 Jahren den Dialog zwischen westlicher Wissenschaft und der kontemplativen östlichen Philosophie führt und fördert. Dieser Austausch geschieht etwa in sehr intensiven, offenen und fruchtbaren Konferenzen, zu denen Naturwissenschaftler, Mediziner, Ökonomen oder Psychologen beitragen.

PH Und der pragmatische Grund?

SINGER Ganz einfach: Wenn ein Hirnforscher die Plastizität bei sehr komplexen kognitiven und motorischen Fähigkeiten untersuchen will, dann holt er sich zum Beispiel Pianisten in sein Labor, die ihre Fähigkeit in vielen tausend Stunden eingeübt haben. Weil er wissen will, wie sich die entsprechenden neuronalen Netzwerke in ihrer vollen Ausprägung darstellen, bei Experten eben. Unser Experte war zunächst Matthieu Ricard, der sich als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hat.

PH Sie haben ihn in Ihren Scanner gelegt?

SINGER Richtig. Wir wollten ja ermitteln, wie sich langjährige Praxis in Mitgefühl, Aufmerksamkeit und Perspektiv-Übernahme in neuronalen Strukturen darstellt. Er hat für uns sogar im Scanner meditiert, um die Hirnaktivität sichtbar zu machen. Inzwischen haben wir unsere Befunde in vielen Studien an buddhistischen Mönchen oder anderen Experten in mentalem Training überprüft, konkretisiert und, wo nötig, revidiert. Ich glaube, diese Fähigkeiten werden im Buddhismus ganz besonders klar und entschieden entwickelt.

PH Jetzt möchten wir aber doch wissen, welche Rolle der Künstler Ólafur Elíasson bei alledem spielte.

SINGER Zunächst einmal war er sehr interessiert an den Inhalten. Insofern ist er als Künstler immer auch ein Forscher. Als wir nun unser Projekt auf den Weg bringen wollten, mit all den Trainern und Therapeuten und Ideengebern, habe ich ihn eingeladen: Da kommen alle diese compassion-Spezialisten zum Symposium nach Berlin, habe ich ihm gesagt – warum machen wir nicht gemeinsam einen Kunst-und-Wissenschaft-Abend, an dem wir unsere Gedanken austauschen? Er schlug vor, die Veranstaltung doch gleich ganz bei ihm im Atelier zu machen; er hat ja ein riesiges Studio am Prenzlauer Berg. Das war eine grandiose Idee! Die kreative Atmosphäre eines Künstlerateliers, dazu diese sehr unterschiedlichen Leute, Naturwissenschaftler und buddhistische Mönche, Meditationslehrer, Hirnforscher und Künstler: Das waren vier ganz besonders inspirierte und inspirierende Tage.

PH Sie haben gewissermaßen vorgegriffen und sich die Erkenntnisse Ihrer eigenen Forschungsarbeit zunutze gemacht: Sie haben sich gegenseitig mit Ihrer Begeisterung angesteckt.

SINGER Nicht vorgegriffen! Das sind bekannte Tatsachen. Nur werden sie im Alltag der Wirtschaft oder auch im Wissenschaftsbetrieb noch viel zu selten berücksichtigt. Aber so könnte man es nennen: gegenseitige Ansteckung! In dieser Begegnung sehr engagierter, aber auch sehr unterschiedlicher Spezialisten war wirklich etwas Neues, Frisches entstanden. Eine Bewegung geradezu. Und wir waren so beflügelt von der Kreativität und der euphorischen Stimmung und so überzeugt von unseren Plänen und Konzepten, dass wir beschlossen: Das müssen wir teilen!

PH Also ein Buch.

SINGER Das war der erste Gedanke. Aber schnell wurde uns klar, dass so ein konventioneller Symposiumsbericht zwischen zwei Buchdeckeln das Wesen unserer Zusammenkunft nicht annähernd hätte wiedergeben können. Er wäre dazu verurteilt gewesen, im Regal neben 439 anderen Berichten zu verstauben. Dabei hatten wir Podiumsdiskussionen geführt und Videoaufnahmen gemacht; Ólafur und ich hatten an den Abenden noch Interviews aufgezeichnet. Wir wollten alles wissen: Was ist compassion? Wofür ist es gut? Warum überhaupt darüber reden? Was könnte es gesellschaftlich bedeuten? Ganz nebenbei enthält dieses Buch zum ersten Mal eine Zusammenfassung aller wissenschaftsbasierten Trainingsprogramme zum Thema compassion und affiliative systems, die es zur Zeit auf dem Markt gibt. Es ist also auch so etwas wie eine Enzyklopädie. Da kam so viel zusammen – also sagten wir uns: Warum nicht ein ganz neues Format ausprobieren?

PH Ein E-book – warum sollte es unbedingt gratis sein?

SINGER Das gehört zum Konzept. Wir reden ja von Empathie, compassion, Mitgefühl. Da geht es um die erste Person Plural, um das Wir. Wir haben alle dazu beigetragen, jeder hat sein Wissen oder seine Fähigkeiten eingebracht; niemand hat ein Honorar bekommen. Es ist ein Wir-Buch.

PH Sie haben auch mit Wirtschaftsforschern zusammengearbeitet: Was können Manager oder Politiker von buddhistischen Mönchen lernen?

SINGER Nun, zum Beispiel all das kritisch zu hinterfragen: den Wettbewerb, den Druck, sich immer und überall durchsetzen und behaupten zu wollen, den rücksichtslosen Umgang mit Ressourcen, auch mit anderen Menschen. Sie könnten eine Haltung erlernen, die auf Vertrauen beruht, auf Altruismus und compassion. In Zürich habe ich mehr als vier Jahre lang mit dem Verhaltensökonomen Ernst Fehr zusammengearbeitet, um genau diese Motive und Fähigkeiten als wichtige Merkmale einer alternativen Ökonomie zu etablieren; wir haben gemeinsam ein Forschungsinstitut aufgebaut, das Laboratory for Social and Neural Systems Research, um dort unsere Arbeit auf ökonomischer und neurowissenschaftlicher Ebene aufeinander zu beziehen. Multidisziplinär also. 2010 war Fehr auch bei der Konferenz Altruism and Compassion in Economic Systems dabei, die wir mit Mind & Life und dem Dalai-Lama in Zürich organisiert hatten, um solche Konzepte endlich mal nach Europa zu bringen. Da fing es gerade an. Die Krise war noch ganz frisch. Und trotzdem hieß es noch oft: Nein, wie kann man denn nur …, wie kann man nur Altruismus und Wirtschaft in einen Satz bringen!

PH Unsere Kultur funktioniert nun mal so. Ich bin erfolgreich, wenn ich kompetitiv handle und denke. Wenn ich mein Denken danach ausrichte, dass ich meine Konkurrenten aus dem Weg räume. Und ich genieße den Erfolg, indem ich konsumiere. Unsere ganze Ökonomie steht und fällt mit diesem Muster. Warum also sollte ich umdenken?

SINGER Weil es anders nicht geht. Es geht nicht! Denken Sie an Klimakatastrophe, Finanzkrise, globale Spannungen. Denken Sie an Ihre eigene Gesundheit: Wir müssen einfach lernen, dass es andere Wege gibt. Und ich bestätige Ihnen: Es lässt sich lernen.

„Aber bitte keine Fragen zu meinem Vater“, stellt die Wissenschaftlerin klar. Diese Geschichte sei einfach zu oft erzählt worden. Sicherlich hat der Arzt und Hirnforscher Wolf Singer mit seiner umfassenden Erforschung neurophysiologischer Prozesse und ihrer Auswirkungen auf Wahrnehmung und Kognition, ja sogar auf Bildung, politische Entscheidungen und die Debatte um Willensfreiheit seiner Tochter manchen Impuls gegeben. Auch den Dialog westlicher Wissenschaft mit der östlichen Philosophie des Dalai-Lama im Rahmen des Mind & Life Institute führen sowohl Vater als auch Tochter.

Alles richtig, alles wichtig. Doch Tania Singer, Jahrgang 1969, hat in der Entwicklung ihrer Interessen einen entschieden eigenen Weg eingeschlagen: Sie studierte Psychologie in Marburg und Berlin, aber sie suchte auch die Nähe zur freien Kunst, arbeitete als Regieassistentin an Theatern in Frankfurt, Freiburg und Berlin und führte selbst Regie – wichtige Stufen auch für ihre wissenschaftliche Karriere, die sie zunächst ans Institute of Cognitive Neuroscience nach London, dann an die Universität Zürich führte, wo sie seit 2008 den Gründungslehrstuhl für Soziale Neurowissenschaft und Neuroökonomie innehatte und eng mit Forschern wie dem Verhaltensökonomen Ernst Fehr zusammenarbeitete. Seit 2010 ist sie Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Dort entwickelte Tania Singer ihr Konzept einer großangelegten Längsschnittstudie zur Plastizität des sozialen Gehirns, zu Empathie, positivem Affekt und zur Trainierbarkeit von Fähigkeiten wie Mitgefühl. Den Auftakt bildete ein Symposium, zu dem die Forscherin Mediziner, Neurowissenschaftler, Psychologen, Meditationstrainer und buddhistische Mönche nach Berlin einlud. Zur Dokumentation der Vorträge und Workshops entstand in Zusammenarbeit mit dem dänisch-isländischen Künstler Ólafur Elíasson ein umfangreiches E-Book, das unter der Adresse www.compassion-training.org zum Download bereitsteht – natürlich gratis, wie es dem Anliegen entspricht: Schließlich geht es auch um sharing, Teilen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2014: Konzentration