Brüchige Heimat

Wilhelm Schmid fragt nach den Folgen von Migration, Klimawandel und Digitalisierung für den Heimatbegriff

Die Heimat als ein Diskursthema hat es nicht leicht. Neukantianer wie Markus Gabriel (Moralischer Fortschritt in dunk­len Zeiten, Ullstein 2020) missbilligen jeden Versuch, dem Menschen diesseits eines der Aufklärung verpflichteten Weltbürgertums einen bevorzugten Ort zuzubilligen. Ein von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebener Essayband verpasste der Heimat gar einen heftigen Fußtritt – Eure Heimat ist unser Albtraum (Ullstein 2019).

Wilhelm Schmid, der Berliner Philosoph, hat jetzt ein 478 Seiten starkes Buch vorgelegt, das vom Heimat finden (so der Titel) und „Vom Leben in einer ungewissen Welt“ (Untertitel) handelt. Das in sieben Kapitel gegliederte Buch sieht die Heimat nicht nur als geografischen Raum, sondern auch als inneren Erfahrungsraum: Heimat sei, „wo Beziehung ist“ (Kapitel 1), man fühle sie „in der Natur“ (Kapitel 2), sie werde „mit Kunst und Kultur“ geschaffen (Kapitel 3), sie lasse sich im „ruhigen Leben auf dem Land“ (Kapitel 4), aber auch im „vibrierenden Leben in der Stadt“ finden (Kapitel 5), sie entstehe „beim Unterwegssein in Raum und Zeit“ (Kapitel 6), schließlich sei sie „in Phantasie, Utopie und Transzendenz“ erfahrbar (Kapitel 7).

Mehr als ein Ort

Schmid definiert Heimat als „verlässliche, eingespielte Wirklichkeit, auf die gebaut und vertraut werden kann“. Einerseits denkt er dabei an „Räume, denen ein Mensch sich zugehörig fühlt und die am ehesten die Gewissheit bieten, die er von einer Heimat erwartet“, worunter er „vorzugsweise die Wohnung, dann das Dorf, die Stadt, die Region, das Land“ versteht. „Heimat“, so Schmid, „ist jedoch viel mehr als ein Ort.“ Sie entstehe „durch die Beziehung zu sich selbst und anderen, zu einer Familie, einem Freundeskreis […], ebenso im Ambiente einer Sprache […], im Rah­men vertrauter Werte […], Meinungen und Denkgewissheiten.“

Schmid erkennt die Brüchigkeit eines solchen Heimatmodells: „Die Heimat hat eine große Zukunft vor sich, aber nicht mit dem Modell der Vergangenheit. […] Beständig kann sie nur sein, wenn sie auch Veränderung zu integrieren vermag.“ Heimat müsse „die Integration derer erleichtern, die auf der Suche nach einer neuen Heimat sind“. Der Autor reflektiert nicht nur die Migration, sondern auch den Klimawandel und die Digitalisierung hinsichtlich der Folgen für den Heimatbegriff.

Schmids Buch ist, wie er es selbst ausdrückt, „ein Mosaik aus lose verbundenen Episoden und Aspekten mit vielen Farben und Facetten“. Es macht seine Leserinnen und Leser mit einem gediegenen bildungsbürgerlichen Hintergrund vertraut, führt sie zu den „Pinien und Palmen in Montreux, wo bereits Vera und Vladimir Nabokov […]“, zu Max Frisch in „Montauk an der nordamerikanischen Atlantikküste“ und zum Nietzsche-Haus in Sils Maria. Wer eine „Apologetik der Heimat in dunklen Zeiten“ (um den Buchtitel von Markus Gabriel abzuwandeln) sucht, dem sei Wilhelm Schmids Buch wärmstens empfohlen.

Literatur

Wilhelm Schmid: Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt. Suhrkamp, Berlin 2021, 478 S., € 24,–.

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