Passiv-aggressiv?

Psychologie nach Zahlen: Fünf Erkenntnisse über passiv-aggressives Verhalten – und wie man ihm begegnen kann.

Eine Frau und ein Mann diskutieren, wobei sie ihre wahren Empfindungen unterdrücken
Nur scheinbar freundlich: Im Innern brodelt es häufig bei passiv-aggressiven Menschen © Till Hafenbrak

Es war ein Militärpsychiater im Zweiten Weltkrieg, der den Begriff vom passiv-aggressiven Verhalten erfand: Colonel Menninger beobachtete, dass sich einige Soldaten gegen die rigide Bevormundung wehrten, indem sie vorgaben, Befehle nicht zu verstehen oder vergessen zu haben, sarkastische Bemerkungen fallenließen, Vorgesetzte hinter ihrem Rücken schlechtmachten, sich ständig ungerecht behandelt fühlten. Menninger sah darin eine Reaktion der Unreife, die er passiv-aggressives Verhalten nannte. Die psychologische Forschung war sich nie ganz einig, ob sie das Phänomen unter die Persönlichkeitsstörungen zählen sollte. Die American Psychiatric Association hat es denn auch aus ihrem aktuellen Klassifizierungskatalog DSM-5 gestrichen, im ICD-System der Weltgesundheitsorganisation wird es immerhin noch unter „sonstige spezifische Störungen“ geführt.

1. Passiv-aggressive Taktiken

Der amerikanische Betriebswissenschaftler Preston Ni nennt in seinem Buch How to Successfully Handle Passive-Aggressive People typisch passiv-aggres­sive Taktiken wie:

  • Pseudohumor: ein verletzender Satz wie ein Messer, anschließend ein Grinsen und der Kommentar: „Nur Spaß!“

  • Sich dumm stellen: „Ach, hatten wir das wirklich besprochen?“ Verabredungen als Missverständnisse darstellen; Versprechungen aufschieben; alles verhindern, was notwendig wäre, damit der andere einen Erfolg hat, sich freut oder zufrieden ist.

  • Klatsch, Gerüchte verbreiten.

  • Schweigen, um andere zu bestrafen oder ihnen ein Gefühl von Unsicherheit zu vermitteln.

  • Die Schuld auf den anderen schieben – weil der ihn nicht mehr an einen Termin erinnert habe, weil er Dinge anders dargestellt habe …

2. Passiv-aggressives Verhalten nach Geschlechtern

Passiv-aggressive Klassiker in Beziehungen sind Sätze wie „Natürlich, wie du willst“ – in Situationen, in denen eigentlich klar ist, dass der Sprecher etwas anderes möchte. Oder auf die Frage, ob der andere sauer sei: „Nein, es ist nichts.“ Oder auch: „Ich denke nur nach.“ Im passiv-aggressiven Modus werden häufig widersprüchliche Signale eingesetzt: „Jetzt hast du die Ausfahrt wohl doch verpasst, Liebling!“ Die Verweigerung offener Kommunikation über ein Ärgernis wird mit einem Kosewort garniert.

Der Psychiater Scott Wetzler vom New Yorker Albert Einstein College of Medicine hat beobachtet, dass Frauen und Männer unterschiedliche passiv-aggressive Verhaltensweisen in Beziehungen zeigen: „Männer sind passiv-aggressiv auf eine besonders destruktive, plumpe Art, mit der sie Liebes- und Arbeitsverhältnisse durcheinanderbringen oder zerstören“, schreibt er in seinem Buch Warum Männer mauern. So agierende Männer hielten sich nicht an Versprechen und Abmachungen, schöben die Schuld gerne auf ihre Partnerin und beklagten sich sogar, wenn diese sie mit ihrem Verhalten konfrontiere. Anders als bei Frauen entlade sich der aufgestaute Frust bei Männern oft in einem Wutanfall, bevor sie wieder in das passive Verhalten mit Taktiken wie Stille und Schweigen wechselten. Die Folge: ein ständiges Klima von Unsicherheit.

3. Ursprünge für passiv-aggressives Verhalten

Menschen, die sich häufig passiv-aggressiv verhalten, stammen oft aus liebenden, aber sehr fordernden Familien, so die Neuropsychiaterin Lorna Benjamin von der University of Utah. Häufig sind es Erstgeborene, denen schon früh viel Verantwortung übertragen wurde. Das Gefühl, das sie ihren Erziehungsberechtigten gegenüber empfanden, wird dann später auf Autoritäten und Vorgesetzte übertragen. Wissenschaftler der Mayo-Klinik ordnen passiv-aggressives Verhalten auch vielen Narzissten zu. Die benutzen es, um andere zu bestrafen und sich selbst noch grandioser zu fühlen.

4. Gegenwehr

Der schlimmste Fehler beim Umgang mit passiv-aggressivem Verhalten seines Gegenübers: sich provozieren lassen – und dann mit genau der Wut zu reagieren, die der andere in sich versteckt und sich nicht zu zeigen traut. Um nicht in diese Falle zu gehen, ist es wichtig, dieses Verhalten möglichst rasch zu erkennen – und dann bewusst überlegt und ruhig zu bleiben, raten die Sozialarbeiterin Jody E. Long und ihre Koautoren in dem Buch The Angry Smile. Ein Warnzeichen, das sie aufzählen: Das Gegenüber zeigt immer wiederkehrend abblockende, verzögernde Reaktionen, die einen ärgern, ohne dass jede einzelne es wert erscheint, darauf zu reagieren.

Eric Barker, Autor von Karriereratgebern, warnt vor dem Versuch, sich in das passiv-aggressive Gegenüber hineinversetzen zu wollen. Stattdessen sollte man klar bei sich bleiben und sich auf wichtige Gespräche mit solchen Menschen gut vorbereiten. Seine Tipps: die Taktiken enttarnen, keine Entschuldigungen akzeptieren, nur Handlungen, nicht aber bloße Absichtserklärungen bewerten. Klare Ansagen machen und klare Antworten einfordern. Und: unbedingt eine Win-win-Situation anstreben, weil passiv-aggressive Charaktere alles daransetzen wollen, bloß nicht zu verlieren – und dafür notfalls auch auf zerstörerische Schritte zurückgreifen.

5. Therapie

In der Psychotherapie entwickelt passiv-aggressives Verhalten noch eine weitere Dimension: Manche Klienten mit diesem Verhalten nehmen Therapeuten als Autorität wahr, der sie sich verweigern wollen, indem sie versuchen, ihnen zu beweisen, dass ihre Diagnose falsch, der vorgeschlagene Therapieweg wirkungslos sei. Johann F. Kinzl, ehemaliger Direktor der Universitätsklinik für psychosomatische Medizin in Innsbruck, bezeichnet sie als „Ja-aber-Sager“. So werden verschriebene Medikamente nicht eingenommen und mit diebischer Freude dem Arzt gegenüber erwähnt, dass sie wohl nicht wirken; man sei allen Ratschlägen gefolgt, ohne eine Besserung festzustellen.

Der einzig sinnvolle Weg: die Strategien enttarnen. Die Klienten können in einer kognitiven Verhaltenstherapie lernen, ihre Gedanken zu überblicken, Gefühle wahrzunehmen, Wut zu spüren und ihre Annahmen über die Folgen einer Konfrontation damit zu revidieren.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2019: Die Kraft des Atmens
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