Gelassen bleiben

Wer möchte das nicht: Ruhe bewahren. Doch nichts scheint schwerer als das. Woran liegt es? Haben wir eine falsche Vorstellung von Gelassenheit?

„Du musst das alles gelassener sehen!“ Mit diesem Satz kann man einen gestressten Menschen in den Wahnsinn treiben. Als würde sich nicht jeder nach innerer Ruhe und Gelassenheit sehnen! Nur: Wie gelangt man in diesen Zustand? Und was genau ist damit gemeint? Worüber sprechen wir, wenn wir über Gelassenheit reden?

„Gelassenheit ist eine dynamische Geschichte“, sagt der Philosoph und Theologe Lukas Niederberger: „Die hat man nicht einfach einmal wie eine Fremdsprache für immer. Sondern Gelassenheit muss ich…

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Fremdsprache für immer. Sondern Gelassenheit muss ich immer wieder neu erkämpfen. Jedes Mal, wenn ich auf die Palme gehe, wenn mich Probleme herausfordern, wenn mich andere Menschen ärgern, wenn mich eine kritische Bemerkung verletzt, bin ich neu gefordert, gelassen zu werden.“

Es ist tatsächlich schwierig, Gelassenheit zu erlangen und zu bewahren, bestätigt der amerikanische Neuropsychologe Rick Hanson. Denn die Natur hat sie nicht für uns vorgesehen: „Von einem evolutionären Standpunkt aus gesehen, ist es eigentlich unnatürlich, über Gelassenheit zu verfügen, und ganz besonders über tiefe Gelassenheit.“ Unsere Vorfahren mussten immer wieder in Bruchteilen von Sekunden entscheiden, ob etwas ihr Leben oder das ihrer Nachkommen gefährden könnte. Aus diesem Grund reagiert die Amygdala, die „Alarmglocke“ des Gehirns, am stärksten auf das, was wir als unangenehm und damit als potenzielle Bedrohung erleben. „Mutter Natur“, erklärt Rick Hanson, „möchte, dass ihre Tierchen sich immer ein wenig unbehaglich und ängstlich fühlen. Auch wenn es gar keinen Grund dafür gibt. Denn so bleiben sie wachsam und sprungbereit.“ Aber, fügt er hinzu: „In unserer heutigen Zeit können wir es uns die meiste Zeit über leisten, diese grundlose Ängstlichkeit loszulassen. Während wir uns der echten Gefahren um uns herum durchaus bewusst sind.“

Anders gesagt: Auch wenn es von der Evolution so nicht geplant ist – es ist dem Menschen möglich, Gelassenheit zu erlangen. Die Alternsforscherin Ursula Staudinger geht davon aus, dass eine gewisse Entwicklung hin zu Gelassenheit in uns angelegt ist. „Das Schöne, was wir aus der Forschung wissen“, sagt sie, „ist, dass wir mit zunehmendem Alter eine immer größere Widerstandsfähigkeit entwickeln, also die Fähigkeit, mit widrigen Umständen, aber auch mit uns selbst besser umzugehen.“ Selbst wenn wir Schicksalsschläge oder krisenhafte Veränderungen erleben, „gelingt es mit zunehmendem Alter immer besser, uns unser Wohlbefinden wieder zurückzuerobern und eine neue emotionale Balance zu erlangen“, so Staudinger (siehe auch Seite 25).

Auch der Philosoph Wilhelm Schmid sieht einen Zusammenhang zwischen Älterwerden und Gelassenheit. In seinem Bändchen zum Thema Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden schreibt er: „Ein kultureller Sinn, der dem Älterwerden gegeben werden kann, ist die Entdeckung von Ressourcen, die das Leben leichter und reicher machen, gerade jetzt. Eine solche ist die Gelassenheit.“ Und er vermutet: „Gelassenheit zu gewinnen ist vielleicht überhaupt erst im Laufe des Älterwerdens möglich.“ Rick Hanson ist nicht dieser Meinung. Er erforscht das Phänomen Gelassenheit seit Jahren, und nach seiner Erfahrung ist Gelassenheit allen zugänglich, die bereit sind, etwas dafür zu tun.

Gelassenheit hat viele Gesichter

Dabei stellt sich die Frage: Reden die Experten alle von demselben Phänomen? Es gibt offenbar eine Gelassenheit, die sich unter bestimmten Voraussetzungen mit zunehmender Lebenserfahrung entfaltet und verstärkt. Und eine, die man in jedem Alter braucht und auch finden kann. Eine junge Mutter, deren Kind nicht aufhört zu schreien, wünscht sich – und braucht – vermutlich eine andere Art von Gelassenheit als ein Mensch, der weiß, er hat nun nicht mehr lange zu leben. Vielleicht sind diese Gelassenheiten aber auch nur Varianten einer einzigen grundlegenden Gelassenheit?

Lukas Niederberger unterscheidet zwischen verschiedenen Formen der Gelassenheit. Zum einen gibt es die „gute Gelassenheit, die quasi eine innere Ruhe ist, eine Seelenruhe“. Aber es gibt auch eine Gelassenheit, die im Grunde eine „versteckte Gleichgültigkeit“ ist. Sein besonderes Interesse gilt der dritten Form, der „engagierten“ Gelassenheit. Das ist, erklärt er, „die Gelassenheit, die ich bewahre, auch wenn ich mittendrin bin, wenn ich im Stress bin wenn ich vielleicht sozial engagiert bin oder eine Mutter mit ihrem Kind emotional total involviert ist. Und doch gleichzeitig sich eben nicht ausbrennen lässt oder sich nicht lähmen lässt oder ganz auffressen lässt.“

Niederberger leitet ein Bildungszentrum in Luzern. Dort lehrt er unter anderem, wie man einem Burnout entgehen kann. Viele seiner Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer arbeiten in sozialen Einrichtungen oder in der Medizin und sind dort sehr gefordert. Diese Menschen fragte er: „Was bedeutet Ihnen Gelassenheit?“ Ihre Antworten – und die Überlegungen, die Niederberger daran anknüpfte – flossen in sein Buch über Die Kunst engagierter Gelassenheit ein. Die, wie er betont, auch hilft, mit Konfliktsituationen konstruktiver umzugehen. Sprich: Dass ich offen bin in der Frage, wie komme ich von A nach B. Ich finde es wichtig, dass man im Leben Ziele hat und dass man auf diese Ziele losgeht. Doch zum Ziel führen meistens mehrere Wege, zum Beispiel wenn Sie auf einen Berg gehen. Und es geht darum, dass man nicht zu fixiert darauf ist, nur auf einem ganz bestimmten Weg hinaufzukommen.“

Diese Art des Fixiertseins und dementsprechend auch der mangelnden Gelassenheit, konstatiert der Theologe, findet man häufig in politischen Debatten. Aber nicht nur da: „Meine Frau sagt oft, wenn wir uns über eine Sache nicht einig sind: Ja, willst du jetzt recht haben oder glücklich sein? Und dann müssen wir beide schmunzeln. Oftmals ist es ja wirklich so, wir wollen einfach gern recht haben. Und es ist ja doch meist nicht möglich, dass beide recht haben, wenn der eine A und der andre B behauptet. Gelassenheit kann viel mit der Fähigkeit zu tun haben, auch die eigene Position zu reflektieren und zu relativieren.“

Es gibt Situationen, in denen es nicht allzu schwierig ist, gelassen zu sein. Wenn man auf einer Bergwiese liegt, in den blauen Himmel schaut und dem „Mäh“ der grasenden Schafe lauscht zum Beispiel. Doch selbst in diese Idylle können Gedanken, Sorgen, Grübeleien eindringen, die echte Gelassenheit und damit Entspannung verhindern. Niederberger spricht von „Gelassenheitshemmern“ und meint damit all das, was uns davon abhält, eine Sache, ein Problem, eine Aufgabe ruhig und entspannt anzugehen.

Auch das Streben nach Gelassenheit kann eine Falle werden

Einer der größten Gelassenheitshemmer, vermutet der Theologe, ist der weitverbreitete Irrglaube, „es müsse uns alles gelingen. In unserer Gesellschaft ist es ja quasi verpönt, zu scheitern oder Misserfolg zu haben. Aber jemand, der sehr engagiert ist, der sich politisch, in der Familie, sozial oder wo auch immer engagiert, der muss die Grundeinstellung haben, dass das Leben ein permanenter Lern- und Such- und Entwicklungsprozess ist. Und da gehören Versuch und Irrtum ganz wesentlich dazu.“

„Immer versucht. Immer gescheitert“, schrieb der irische Schriftsteller Samuel Beckett. Und fuhr fort: „Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Doch das, das wusste auch der Autor von Warten auf Godot aus eigener Erfahrung, ist leichter gesagt als getan. Die Angst, etwas falsch zu machen, falsch verstanden, nicht gemocht, ausgegrenzt zu werden, die Sorge um die Gesundheit oder das Aussehen, Schreckensszenarien von Terroranschlägen und Altersarmut, all das und vieles mehr verhindern, dass wir das Leben oder auch nur eine Situation entspannt angehen.

Selbst das Streben nach Gelassenheit kann zur Falle werden. „Wer Gelassenheit anstrebt, dem vergeht sie“, schrieb der Psychiater und Begründer der Logotherapie Viktor E. Frankl. Kein Wunder, meint Niederberger, denn Gelassenheit erreicht man am besten, indem man loslässt. Und fast alle Gelassenheitshemmer haben seines Erachtens „mit der Mühe zu tun, die uns das Loslassen bereitet. Beziehungsweise mit der starken Macht in uns, Menschen und Dinge, Gedanken und Gefühle, Erlebnisse und Situationen festhalten zu wollen.“

Dazu kommt erschwerend hinzu, „dass wir Unangenehmes noch schwerer loslassen können als Liebgewonnenes“, so Niederberger. „An Ärger und Wut, Verletzungen und Enttäuschungen, Grübeleien und Selbstzweifeln halten wir stärker fest als an Erfolgen und Geschenken, Lob und Träumen.“

Es ist allerdings nicht unsere Schuld, betont Paul Gilbert, Professor für Klinische Psychologie an der University of Derby, wenn wir uns aufregen, statt gelassen zu bleiben. Die Ursache dafür, schreibt er in dem Band Achtsames Mitgefühl, liegt im Zusammenspiel der intelligenten neueren Teile unseres Gehirns mit drei emotionalen Systemen, die uns von der Evolution zuvor mitgegeben wurden: „Das Bedrohungssystem hilft uns, Bedrohungen und Gefahren wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Das Antriebssystem hilft uns, Ressourcen aufzuspüren, die für unser Überleben und Gedeihen wichtig sind. Das Beruhigungs- und Bindungssystem ist der Ursprung von Gefühlen der Entspannung, des Wohlbefindens, der Sicherheit und Verbundenheit.“

Anders als ein Tier muss der Mensch nicht sofort automatisch auf Gefahr reagieren. Sein erweitertes Gehirn ermöglicht ihm, eine Situation zu analysieren, anstatt sofort wegzulaufen oder zuzuschlagen. Es kann aber, so Paul Gilbert, die Probleme auch verstärken, und zwar dann, „wenn wir in den zerebralen Rückkoppelungsschleifen – altes Gehirn versus neues Gehirn – steckenbleiben. Wenn also Bedrohungsgefühle unser Denken befeuern und diese Gedanken dann wiederum unsere Gefühle anheizen, die uns auch dann noch überfluten, wenn die Gefahr längst vorbei ist.“

In der heutigen Zeit, beobachtet Paul Gilbert, ist es aber vor allem das Antriebssystem, das uns die Gelassenheit raubt: „Die westlichen Gesellschaften sind zu stark darauf fixiert, die Emotionen des Antriebssystems zu verstärken. Dieses Streben, Haben-und Besitzenwollen ist fast wie eine Sucht, was zum Teil daher rührt, dass wir dadurch unser sympathisches Nervensystem ständig überstimulieren und damit unsere Dopaminausschüttung anregen. Es gibt Menschen, die sich nur dann gut fühlen können, wenn sie ständig etwas erreichen oder ein Verlangen befriedigen wollen. Und es ist gar nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die bewusst versuchen, zur Ruhe zu kommen, nervös und unruhig werden, fast als würden sie unter einem Dopaminentzug leiden.“

Wirksames Mittel gegen den Stress: Mitgefühl

Gleichzeitig gibt es zunehmend mehr Menschen, die unter dem Druck leiden, sich ständig beweisen zu müssen. Und Angst haben, nicht Schritt halten zu können. Beides kann zu dauerhaftem Stress bis hin zu psychischen Erkrankungen führen – und eine gelassene Haltung von vorneherein verhindern. Paul Gilbert wollte nun herausfinden, wie man dem entgegenwirken kann. Und er entdeckte eine wirksame Medizin gegen den Stress: Mitgefühl. In seiner Forschung stellte er fest, dass Mitgefühl das Beruhigungs- und Bindungssystem aktiviert. Dies, so Gilbert, erzeugt Zufriedenheit und Geborgenheit – und damit auch eine Basis für Gelassenheit:

„Was beruhigt ein Baby, wenn es in einen Stresszustand geraten ist und sein Bedrohungssystem aktiviert wurde? Normalerweise sind das die fürsorglichen, liebevollen Handlungen einer anderen Person. Selbst wenn wir als Erwachsene gestresst sind, erleben wir das Verständnis und die Freundlichkeit anderer als echte Hilfe. Das hängt teilweise damit zusammen, dass unser Gehirn darauf ausgelegt ist, sich angesichts von Freundlichkeit zu beruhigen.“

Ein freundliches Wort, eine liebevolle Berührung führen zur Ausschüttung von Endorphinen und von Oxytocin. Von Hormonen also, die mit innerer Ruhe und Wohlbefinden in Zusammenhang stehen und mit dem Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Und das gilt nicht nur für Freundlichkeit, die einem andere entgegenbringen. Die US-amerikanische Psychologin Kristin Neff fand heraus, dass dieser Prozess auch dann stattfindet, wenn man sich selbst mit Freundlichkeit und Mitgefühl begegnet. Und je öfter man das tut, desto gelassener kann man auf schwierige Situationen reagieren.

Auf Wiederholung setzt auch der Neuropsychologe Rick Hanson. „Entscheidend für unsere Überreaktionen auf alles, was angenehm oder unangenehm ist“, sagt er, „sind die subkortikalen Regionen, namentlich die Amygdala und der Hippocampus. Und die können wir trainieren.“ Hanson ist Mitbegründer des Wellspring Institute for Neuroscience and Contemplative Wisdom in Kalifornien. Zusammen mit dem Neurologen Richard Mendius erforscht er hier, wie man mithilfe kontemplativer Praxis, aber auch mit einfachen Übungen im Alltag das Gehirn in Richtung Gelassenheit beeinflussen kann. So fanden sie zum Beispiel heraus: „Durch Achtsamkeitspraxis und indem wir bewusst positive Emotionen und Erfahrungen wie Dankbarkeit oder Freundlichkeit gegenüber anderen kultivieren, können wir erreichen, dass die Amygdala sich beruhigt und nicht mehr so reaktiv ist.“

Kleine positive Erlebnisse in Ressourcen umwandeln

Der Hippocampus wiederum spielt eine wichtige Rolle dabei, Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis zu überführen. Auf diesen Prozess baute Rick Hanson seine Methode zum Erlangen von Gelassenheit auf. Sie besteht darin, kleine positive Erlebnisse, die man im Alltag hat – wie etwa ein freundliches Lächeln, das einem jemand schenkt, oder ein Akt der Hilfsbereitschaft –, in Ressourcen umzuwandeln: „Wir nehmen eine kleine heilsame Erfahrung, die wir gerade machen, wahr. Bleiben zehn, zwanzig Sekunden dabei, damit sie wirklich tief einsinken kann, und machen das ein paar Mal am Tag, immer wieder. Damit helfen wir dem Hippocampus, positive Alltagserfahrungen in dauerhafte Ressourcen zu verwandeln. Und bauen so Widerstandskraft, Selbstmitgefühl und einen Sinn für unseren persönlichen Wert auf. Was uns wiederum dabei hilft, nicht sofort zu reagieren, wenn das Leben uns vor Schwierigkeiten und Herausforderungen stellt.“

Doch was, wenn es nicht um Alltagsstress und die üblichen Ängste und Anstrengungen geht? Sondern um eine ernsthafte Erkrankung zum Beispiel, um Leben und Tod? Wie kann man in so einer Situation gelassen bleiben oder es nach dem ersten Schrecken wieder werden? In seinem Buch Der Zen-Weg zu einem authentischen Leben. Gelassenheit finden in unruhigen Zeiten erzählt der amerikanische Zenlehrer Ezra Bayda, wie er selbst mit einer Situation konfrontiert wurde, die seine Lehre und Praxis auf die Probe stellte: Er bekam bei einer Routineuntersuchung die völlig unerwartete Diagnose: Verdacht auf Nierenkrebs. Er erkannte, dass „für uns alle der Sturz durch das dünne Eis nur einen Arztbesuch weit weg ist. Und ich fiel direkt ins eisige Wasser.“

Doch dann versuchte er „ja zu sagen zu den aufkommenden Ängsten“. Dieses Bejahen ermöglichte ihm wahrzunehmen, was jetzt gerade wirklich geschah: Wie seine Angst sich ausdrückte, wie sein Körper reagierte, wie sein Geist versuchte, Szenarien zu entwerfen. Das machte ihn ruhiger und brachte ihn auf den Boden zurück. „Loslassen“ dagegen war für ihn keine Option, auch wenn es – nicht nur in spirituellen Kreisen – als Wundermittel gilt. „Loslassen zu wollen“, schreibt der erfahrene Zenlehrer, „ist auf eine subtile Weise dasselbe wie Unerwünschtes loswerden zu wollen, besonders Gedanken und Gefühle, die wir schwer erträglich finden. Wir sehen sie als Gegner und wollen, dass das Leben anders ist.“

Echte Gelassenheit, so Ezra Bayda, resultiert eher aus dem Gegenteil von loslassen, nämlich Seinlassen: „Seinlassen heißt, dass wir nicht versuchen, etwas loszulassen, und auch nicht, es zu ändern oder uns zu einem Einverständnis zu zwingen. Vielmehr erkennen wir einfach an, was da ist, und sagen ja dazu. Es muss uns nicht gefallen, aber wir müssen es auch nicht als Feind sehen. Wir müssen nur bereit sein, eben das zu erleben, was unser Leben genau jetzt ist.“

„Erfahrung macht gelassen“

Älterwerden kann Gelassenheit fördern, sagt die Psychologin Ursula M. Staudinger. Je mehr wir erlebt haben, desto klarer erkennen wir, dass manches „halb so wild“ ist

Frau Professor Staudinger, wie würden Sie als Wissenschaftlerin Gelassenheit definieren?

Es gibt drei Komponenten, die Gelassenheit ausmachen: Die erste Komponente bezieht sich darauf, dass es zur Voraussetzung von Gelassenheit gehört, ein gerüttelt Maß an Erfahrungen mit verschiedensten Lebenssituationen gemacht und reflektiert zu haben. Die zweite Komponente bezieht sich darauf, dass wir unter anderem aufgrund dieser zahlreichen Erfahrungen im Laufe der Zeit für gleiche Anlässe andere emotionale Ausschläge zeigen. Das heißt, gleiche emotionale Auslöser verursachen mit zunehmender Erfahrung weniger starke emotionale Reaktionen: Erfahrung macht gelassen. Und die dritte Komponente besteht darin, dass wir in dem Maße, in dem wir älter werden, unsere Ziele und Prioritäten im Leben verändern.

Das heißt?

Jede Lebensphase hat ihre eigenen Schwerpunkte und Zielsetzungen, und im Alter ist es so, dass wir damit beschäftigt sind, loszulassen und uns aus sozialen Rollen zu verabschieden. Das bringt zum einen natürlich einen Verarbeitungsprozess mit sich, auch einen gewissen Trauerprozess. Aber auf der anderen Seite eben auch eine größere Distanz zu manchen der Dinge, die uns im jungen und mittleren Erwachsenenalter sehr viel Sorgen gemacht und auch sehr viel Energie gekostet haben.

Es wird aber nicht jeder gelassen, nur weil er alt wird.

Ob wir es schaffen, gelassen mit dem Alter umzugehen, hat etwas damit zu tun, wie wir die Erlebnisse, die wir im Laufe unseres Lebens hatten, verarbeiten, wie wir sie einordnen und bewerten. Es hat etwas mit unserer Persönlichkeitsstruktur, mit unseren Persönlichkeitseigenschaften zu tun, die es uns leichter oder schwerer machen, Einschränkungen und Rückschläge zu verarbeiten und eventuell sogar auch ins Positive zu wenden.

Was steht der Gelassenheit im Alter im Wege?

Menschen, die ihr Leben lang sehr stark mit ihrer Körperlichkeit und ihrer Erscheinung gepunktet haben, fällt es besonders schwer, zu sehen, dass sich diese äußere Erscheinung mit den Jahren verändert. Und zwar in einer Weise, dass sie nicht mehr den gleichen Erfolg damit erzielen können in einer Gesellschaft, die so stark auf Jugendlichkeit ausgerichtet ist. Auch für Menschen, die stark davon gezehrt haben, eine Machtposition innezuhaben, wird es natürlich ganz schwierig, wenn sie diese Machtposition abgeben oder abgeben müssen. Sie verbinden das dann mit dem Alter und wehren sich deshalb gegen das Alter.

Und wie entwickelt sich nun Gelassenheit mit dem Älterwerden?

Durch ein Anwachsen an Erfahrungen mit dem Leben, mit mir selbst, mit anderen Menschen. Dadurch, dass ich auch besser in der Lage bin, vorherzusehen, was Situationen bei mir bewirken und wie ich auf andere Menschen wirke. All die Einsichten, die ich im Laufe des Lebens gewinne, helfen mir dabei, sukzessive meine emotionalen Reaktionen zu verändern. Dieser Wandel umfasst auch, wie stark ich etwas erreichen will, wie wichtig es mir ist und wie emotional ich entsprechend reagiere.

Was gehört noch zu diesem Prozess?

Die Auseinandersetzung mit dem Altern impliziert ja auch immer das Ende unseres Lebens und damit das Aufgeben der Selbstbestimmung und zuletzt der Existenz. Diese Auseinandersetzung bedeutet, dass ich lerne, mich mit dem zu arrangieren und auch mit dem zufrieden zu sein, was ich im Leben erlebt habe. Ich schöpfe dann sozusagen aus diesen Schätzen und bin viel weniger darauf gerichtet, was alles noch kommen und was ich noch gestalten kann.

Das geschieht nicht über Nacht?

Nein, das ist ein gradueller Prozess. Das sind Dinge, die brauchen Zeit, die brauchen Raum. Und wenn wir alles überfrachten mit Aktivität, geht das verloren.

Ursula M. Staudinger ist Psychologieprofessorin und Alternsforscherin. Seit Juli 2013 ist sie Gründungsdirektorin des Robert N. Butler Columbia Aging Centers und leitet das dazugehörige International Longevity Center (ILC) an der Columbia University, New York.

Literatur

Rick Hanson (mit Richard Mendius): Das Gehirn eines Buddha. Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit. Arbor, Freiburg 2010

Lukas Niederberger: Die Kunst engagierter Gelassenheit. Wie man brennt, ohne auszubrennen. Kösel, München 2011

Paul Gilbert: Mitgefühl. Wie wir Mitgefühl nutzen können, um Glück und Selbstakzeptanz zu entwickeln und es uns wohl sein zu lassen. Arbor, Freiburg 2011

Paul Gilbert u.a.: Achtsames Mitgefühl. Ein kraftvoller Weg, das Leben zu verwandeln. Arbor, Freiburg 2014

Ezra Bayda: Der Zen-Weg zu einem authentischen Leben. Gelassenheit finden in unruhigen Zeiten. Arbor, Freiburg 2015

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2017: Gelassen bleiben