Das Trauma im Damals lassen

Therapiestunde: Mit einer Narrativen Expositionstherapie lernt der Patient, sein vergangenes Trauma zu sortieren und sich der Gegenwart zuzuwenden.

Die Illustration zeigt einen Mann mit einer tickenden Bombe im Kopf, der eine Zange in der Hand hält um die Bombe zu entschärfen
Jederzeit kann Trauma getriggert werden. Mit der passenden Therapie lernt man, seine Ängste wieder selbst unter Kontrolle zu haben. © Michel Streich für Psychologie Heute

„Ich bin Traumatherapeutin.“ Wenn ich sicher sein will, dass bei einem Kennenlernen Leichtigkeit und Unbekümmertheit aus dem Gesicht meines Gegenübers weichen, dann antworte ich so auf die Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit. Oder aber es folgen verständnisvolles Nicken und der bedrückte Kommentar: „Ja, das brauchen wir in dieser Welt.“ Darum sprudele ich meist gleich weiter: „Ich bin Traumatherapeutin und bilde Menschen in Kriegs- und Krisenregionen und in Deutschland aus. Und es ist der allerbeste…

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und bilde Menschen in Kriegs- und Krisenregionen und in Deutschland aus. Und es ist der allerbeste Job, den ich mir vorstellen kann.“ Und wenn ich dann Glück habe, werde ich gefragt, warum.

Viele Menschen, die schreckliche Ereignisse erlebt haben – Unfälle, Naturkatastrophen, Überfälle –, kommen damit zurecht. Sie haben zwar ein Trauma erlitten, leiden aber nicht unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Erleben wir aber so viel, dass unsere Ressourcen nicht zur Verarbeitung ausreichen – Krieg, wiederholte sexuelle Gewalt, Folter –, brauchen wir Hilfe dabei, die Wunden unserer Seele zu heilen.

Sexuelle Ausbeutung an der Uni

Chima* war so ein Mensch, der Unterstützung brauchte. Seine Biografie war gekennzeichnet von traumatischen Ereignissen. Zunächst „nur“ Schläge in der Schule und ein bewaffneter Überfall. Doch als er in seinem afrikanischen Heimatland an der Universität politisch aktiv wurde, wandelte sich sein Leben dramatisch. Er studierte Umweltmanagement, gehörte zu den Besten seines Jahrgangs und hatte irgendwann genug von der Korruption und der sexuellen Ausbeutung der Kommilitoninnen durch die Professoren. Gemeinsam mit Freunden gründete er einen Verein, der den Machtmissbrauch offenlegte und fortwährend unbequemer wurde – nicht nur für die Universitätsleitung, sondern auch für die ortsansässigen Politiker.

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Für Chima begann damit ein wahres Martyrium: Verhaftungen und Folter durch die Polizei, Nachstellungen durch Schlägertruppen, eine Entführung, bei der sein bester Freund vor seinen Augen erschossen wurde. Und schließlich ein Überfall auf seine Familie, bei dem seine damals wenige Monate alte Tochter erschossen wurde. Die darauffolgende Flucht durch verschiedene afrikanische Länder, Griechenland und Italien hielt ihrerseits massive Gewalt­erfahrungen, Sklaverei, fehlende medizinische Versorgung und selbst in Deutschland noch einen Messerangriff bereit.

Bin ich verrückt?

Schon in der ersten diagnostischen Sitzung wurde deutlich, dass seine Erinnerungen ihn in Form von Albträumen und Flashbacks, Wutanfällen, Zittern und Herzrasen massiv plagten. Er konnte sich kaum konzentrieren und hätte am liebsten gar nicht über seine Vergangenheit gesprochen. Schlafprobleme und körperliche Beschwerden führten dazu, dass er täglich Schlaf- und Schmerzmittel einnahm, die einfach nicht wirken wollten.

Menschen mit einer PTBS haben oft den Eindruck, sie seien verrückt. Während „eigentlich“ alles in Ordnung ist, sind ihr Gehirn und ihr Körper ohne Unterlass in Alarmbereitschaft, scannen die Umgebung nach möglichen Gefahren und kommen kaum zur Ruhe. Chima konnte nie mit dem Rücken zur Tür sitzen – zu groß war die Gefahr, ein Angreifer könne hereinkommen.

Während eines traumatischen Ereignisses wird alles – sensorische Eindrücke, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen – intensiv abgespeichert, aber das „Wo und Wann“ wird kaum damit verknüpft. So entsteht bei vielen Traumata ein Erinnerungsnetzwerk, bei dem die jeweilige zeitliche und örtliche Einordnung fehlt. Tritt später ein Trigger auf, der dieses Netzwerk aktiviert, brechen alle Erinnerungen auf einmal über die Person herein.

Vor diesem Hintergrund erklärte ich Chima, dass es sich bei der PTBS um eine normale Reaktion auf eine unnormale Situation handele. Diese Anerkennung und Normalisierung führten zu einer ersten Erleichterung. „Also bin ich nicht verrückt?“, fragte er. „Nein. Was du erlebt hast, ist verrückt. Dein Gehirn und dein Körper versuchen zu verstehen und einzuordnen, was passiert ist, und schaffen es nicht. Lass uns diese Erinnerungen sortieren, damit sie zur Ruhe kommen können.“ Chima überlegte einen Moment und fragte dann: „Kannst du sie nicht einfach wegmachen?“

Viele Menschen mit einer PTBS wünschen sich genau das: ein Löschen der Erinnerungen, schnell und schmerz­los. Aber tatsächlich ist ein psychisches Trauma wie eine eitrige Wunde: Solange wir sie ignorieren oder lediglich Pflaster darauf kleben, ohne die Wunde zu säubern, wird sie immer weiter schmerzen. Nur wenn wir die Wunden der Seele gut säubern, können sie heilen.

Fokus: Im Hier und Jetzt ankommen

Es gibt zahlreiche traumatherapeutische Ansätze, darunter die narrative Expositionstherapie (NET). Entwickelt für Menschen, die multiple traumatische Momente durchlebt haben, ermöglicht sie weltweit Betroffenen, die fragmentierten Erinnerungen zu bearbeiten und im Hier und Jetzt anzukommen. Nach einer umfassenden Diagnostik werden die belastendsten Ereignisse in biografisch-chronologischer Reihenfolge im Detail besprochen. Als Therapeutin leite ich die Exposition, indem ich frage: „Wann war das? Was hast du gesehen? Was hast du in dem Moment gedacht? Wie war damals dein Herzschlag?“ Parallel werden diese Erinnerungen mit dem Hier und Jetzt kontrastiert: „Was siehst du jetzt? Was fühlst du jetzt?“ Indem mein Gegenüber alle Erinnerungsfragmente zu einem Ereignis benennt, werden sie zeitlich und räumlich einordnet und so als zusammenhängende Geschichte neu abgespeichert.

In der darauffolgenden Sitzung wird die so entstandene Narration vorgelesen. Durch diese erneute Auseinandersetzung mit dem Ereignis nimmt die Angstreaktion weiter ab. Anschließend wird das nächste Ereignis bearbeitet. Die NET umfasst zehn Expositionssitzungen, dazu eine einleitende und eine Abschlusssitzung. In zwölf Sitzungen kann so eine komplette Traumatherapie durchgeführt werden.

"Es ist meine Schuld, dass sie tot ist."

Mit der Erklärung, wir müssten die „Bücher im Schrank seiner Biografie“ aufräumen, konnte Chima sich gut verbinden, und so begannen wir die NET. Im Detail besprachen wir jene Momente, in denen er Gewalt, Unfälle und Folter erlebt hatte. Am belastendsten war für ihn natürlich die Ermordung seiner Tochter. Neben dem traumatischen Ereignis per se spielten Schuldgefühle und unverarbeitete Trauer massiv in den therapeutischen Prozess.

Erst nach der Exposition, der detaillierten Aufarbeitung jenes Tages erkannte er: Er hätte sie gar nicht retten können. All die Schuldgefühle („Ich bin ein schlechter Vater. Es ist meine Schuld, dass sie tot ist. Ich hätte wissen müssen, dass sie kommen“) konnten wir einer genauen Prüfung unterziehen. Und als klarwurde, dass er damals keine Handlungsalternative hatte, konnten wir die Trauer um seine Tochter einladen und mit den Expositionen fortfahren.

Sechs Monate nach Therapieabschluss lud ich Chima zur Nachuntersuchung ein. Seine Albträume hatten fast aufgehört, er hatte einen Deutschkurs abgeschlossen und eine Ausbildung begonnen. Das war zwar nicht das Gleiche, wie zur Uni zu gehen, aber ein (Neu-)Anfang. Und genau das ist der Grund, warum ich mit Leib und Seele Traumatherapeutin bin. Es hat auf dieser Welt immer Kriege, Gewalt und Zerstörung gegeben, und es ist anstrengend, ermüdend und manchmal schockierend, die damit verbundenen individuellen Geschichten zu hören. Aber die Momente, in denen wir einander begegnen und in denen diese Menschen wieder die Autorenschaft ihrer eigenen Lebensgeschichte einnehmen, sind es wert.

* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Klienten erkennbar machen könnten, wurden in diesem Artikel verändert.

Eva Barnewitz, M.Sc., arbeitet als systemische Therapeutin sowohl online als auch am Bodensee. Sie bildet in Deutschland und in Kriegs- und Krisen­gebieten Traumatherapeuten und Traumatherapeutinnen aus. Als Impact-Therapeutin nutzt sie kreative Methoden, um Leichtigkeit mit Tiefe zu verbinden.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung