Die U-Bahn quietscht, rumpelt und schlingert durch das dunkle Tunnelsystem unterhalb von Berlin. Im Wagen versuchen die Fahrgäste, den Lärm des Zugs zu übertönen. Sie schreien in ihr Handy. Die Gespräche lassen sich kaum ignorieren. Schließlich steht man dicht an dicht gedrängt nebeneinander, und manch einer rückt einem enger auf die Pelle, als einem lieb ist. Und von draußen schieben sich immer neue Fahrgäste in den Wagen.
Wer sich seinen Weg durch den modernen Großstadtdschungel bahnt, muss sich auf eine…
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sich auf eine nervliche Belastungsprobe gefasst machen. Lärm, Hektik oder dichte Menschenmengen sind allgegenwärtig. Nicht immer ist es einfach, dabei ruhig und entspannt zu bleiben.
Mehr affektive Störungen trotz besserer Gesundheitsversorgung
Entspannt wirkt dagegen der Psychiater Mazda Adli im persönlichen Gespräch. Die Geräuschkulisse der Metropole dringt nicht bis in sein Büro vor, und so steht einem konzentrierten Gespräch nichts im Wege. Adli, der als Chefarzt an der Fliedner-Klinik in Berlin arbeitet und an der Charité eine Arbeitsgruppe leitet, sagt: „Mich interessierte als Stressforscher zunehmend der urbane Lebensraum. Schließlich treten hier bestimmte seelische Störungen gehäuft auf –und das, obwohl beispielsweise die Gesundheitsversorgung besser ist als auf dem Land.“ Irgendetwas begünstige in großen Siedlungen offenbar psychische Störungen wie Depressionen.
Tatsächlich scheint das Leben in der Stadt verstärkt für Seelennöte zu sorgen. Das gilt längst nicht für alle psychischen Erkrankungen, aber doch für einige. 2010 nahmen Forscher um den klinischen Psychologen Jaap Peen von der Universität Amsterdam 20 Bevölkerungsbefragungen in einer Metaanalyse unter die Lupe. Die untersuchten Studien, darunter auch einige aus Deutschland, hatten sich die unterschiedliche Häufigkeit von psychischen Störungen auf dem Land und in der Stadt angeschaut. Peen und seine Kollegen konnten einen klaren Trend ausmachen: Städter leiden zu rund 20 Prozent häufiger an einer Angststörung als Menschen aus ländlichen Regionen. Bei affektiven Störungen wie Depressionen ist die Quote der Metropolenbewohner um 40 Prozent erhöht.
Ziehen nur Labile in Metropolen?
Macht also tatsächlich das Stadtleben unsere Seele krank? Oder könnte es nicht doch umgekehrt sein: Das urbane Treiben lockt psychisch anfällige oder bereits kranke Menschen besonders an? „Nach der sogenannten Selektionshypothese ziehen psychisch labilere Menschen verstärkt in die Stadt, weil es dort unter anderem eine bessere Gesundheitsversorgung gibt“, sagt Mazda Adli. „Gegen diese Theorie spricht aber, dass man in Studien zur Häufigkeit von psychischen Störungen solche möglichen Ursachen kontrollieren kann.“ Entsprechende Zusammenhänge wurden dabei bisher nicht gefunden.
Außerdem sei entscheidend, wie lange jemand in Kindheit und Jugend in der Stadt gelebt hat. Das zeigt das Beispiel der Schizophrenie, bei der Wahrnehmen und Denken der Betroffenen krankhaft verändert sind. In Metaanalysen der vergangenen Jahre offenbarte sich nicht nur: Wer in der Stadt geboren und groß geworden ist, hat etwa ein doppeltes Risiko, diese psychotische Störung zu entwickeln. Auch beginnt die Krankheit tendenziell früher. Damit nicht genug: Je größer das urbane Gebiet ist, in dem man die ersten Lebensjahre verbringt, desto wahrscheinlicher wird es, diese Störung zu entwickeln. Das Schizophrenierisiko hängt also eng mit der Stadtgröße zusammen.
Stadtbewohner nehmen wahrlich so manches in Kauf. Morgens von Vogelgezwitscher in ansonsten vollkommener Stille geweckt zu werden bleibt für viele nur ein schöner Traum. Stattdessen bringen einen Flug- und Verkehrslärm allmorgendlich ungewollt auf Trab. Spätestens im dichten Berufsverkehr schnellt der Stresspegel nach oben. Aber Lärm und Hektik sind nicht alles– eng ist es oft auch noch. Das offenbart der Blick aus dem Fenster eines typischen städtischen Hinterhauses: Das Fenster des Nachbarn ist manchmal nur eine Armlänge entfernt.
Sozialer Stress als Risikofaktor
Soziale Probleme und eine Umgebung mit vielfältigen Stressfaktoren sind im Allgemeinen in urbanen Gebieten eher anzutreffen als auf dem Land. Hinzu kommt, dass die Kriminalität in Ballungszentren im Allgemeinen höher ist. Und trotz großer Menschenmengen und hoher Bevölkerungsdichte bleibt –bei aller räumlichen Enge –dennoch häufig die emotionale und soziale Nähe auf der Strecke. So greifen hier Isolation und Einsamkeit viel stärker um sich als in ländlichen Gebieten. Es gibt in den Städten also einiges, was uns seelisch zusetzen kann.
Eine Ursache, die Forscher in den letzten Jahren zunehmend im Verdacht haben, ist Stress. Im Blickpunkt steht dabei vor allem der soziale Stress. Die Vermutung: Städter reagieren möglicherweise stärker auf bestimmte Belastungen als Bewohner ländlicher Regionen. Forscher um den Psychiater Florian Lederbogen vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim sind diesem Verdacht nachgegangen. Sie untersuchten mit funktioneller Magnetresonanztomografie gesunde Probanden, die aus unterschiedlich dicht bevölkerten Gebieten stammten.
Während die Versuchspersonen im Scanner lagen, bereiteten ihnen die Forscher reichlich sozialen Stress. Die Probanden rätselten unter Zeitdruck an mathematischen Aufgaben herum. Dabei war der Schwierigkeitsgrad so hoch, dass die Freiwilligen kaum richtige Lösungen zustande brachten. Das wurde ihnen auch prompt auf einem Monitor zurückgemeldet. Zusätzlich gab ihnen der Studienleiter über Kopfhörer ein wenig schmeichelhaftes Feedback – und vermittelte ihnen so den Eindruck, im Vergleich zu anderen besonders schlecht abzuschneiden.
Sozialer Stress = soziale Dichte + soziale Isolation
Der soziale Druck zeigte seine Wirkung: Die Werte des Stresshormons Kortisol sowie Blutdruck und Puls schnellten bei den frustrierten Rechnern nach oben. Doch viel entscheidender war: Bei der Auswertung stach den Forschern ein auffälliger Zusammenhang zwischen dem Wohnort der Probanden und den Reaktionen in ihrem Oberstübchen ins Auge. Er betraf die Amygdala. Sie sorgt bei uns für die emotionale Einfärbung von Situationen und löst als Reaktion auf eine Bedrohung etwa Angst oder Aggression aus.
In der Studie von Lederbogen und seinen Kollegen veränderte sich ihre Aktivität abhängig davon, wo die Teilnehmer zu Hause waren: Bei Dorfbewohnern blieb die Amygdala angesichts des sozialen Stresses ungerührt. Bei Kleinstädtern regte sie sich schon etwas mehr. Und am heftigsten reagierte das Gefühlszentrum bei Großstadtbewohnern. Das gleiche Ergebnis zeigte sich, als die Wissenschaftler das Experiment mit weiteren Versuchspersonen und einer anderen Methode, Stress zu erzeugen, wiederholten. Städte könnten also die stressabhängige Emotionsverarbeitung beeinflussen, vermuten die Wissenschaftler. Und die erhöhte Reaktion des Gefühls- und Angstzentrums stellt einen möglichen Mechanismus dar, der zwischen urbanem Leben und dem Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen vermittelt. Immerhin ist die Aktivität der Amygdala bei Angststörungen und Depressionen oftmals auffällig erhöht.
„Im Kontext der Stadt ist es vor allem sozialer Stress, der seelisch krank machen kann“, glaubt Mazda Adli. Sozialer Stress lasse sich vermutlich am besten beschreiben als die Summe aus sozialer Dichte und sozialer Isolation. „Soziale Dichte könnten beispielsweise diejenigen verspüren, die in einem Hochhaus mit vielen anderen Menschen auf engem Raum miteinander leben“, sagt der Berliner Psychiater. „Wenn die Wände so dünn sind, dass der Fernseher der Nachbarn von links und rechts lärmt.“ Eher nicht gemeint sind Menschen, die zwar in einem Ballungsraum leben – dort aber ein Haus mit großem Garten bewohnen.
Besonders schädlich: Sich bedroht fühlen
Soziale Dichte können wir natürlich auch morgens in der U-Bahn erleben. Aber für die meisten von uns ist diese Form von Stress nach wenigen Stationen wieder vorbei. „Ein Problem entsteht aber dann, wenn wir uns dem nicht selbst entziehen können“, betont Adli. „Darüber hinaus wirkt soziale Dichte besonders dann schädlich für die seelische Gesundheit, wenn sie mit einem Gefühl der Bedrohung einhergeht, wenn man sich ungeschützt fühlt.“ Das beobachtet der Berliner Stressforscher vor allem an Orten, wo Kriminalität und Gewalt an der Tagesordnung sind.
So sehr uns einerseits viele Menschen auf engstem Raum zu schaffen machen können, so sehr sind andererseits zwischenmenschliche Verbindungen essenziell für unser Wohlergehen und unsere Gesundheit. Doch gerade in Ballungsräumen bestehen diese Bande eben oftmals nur äußerst lose oder gar nicht. Und das kann für uns durchaus schwerwiegende Folgen haben.
Soziale Isolation geht beispielsweise mit erhöhten Stresshormonwerten einher, wie ein Team um den Psychologen Andrew Steptoe vom University College London 2009 in Erfahrung brachte. Vier Jahre später stieß Steptoe gemeinsam mit Kollegen auf einen beängstigenden Zusammenhang. Die Forscher nahmen sich die Daten von 6500 älteren Männern und Frauen aus einer Langzeitstudie zum Altern vor. Schließlich ist soziale Isolation vor allem für Menschen in reiferen Jahren ein Problem, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen in der eigenen Mobilität eingeschränkt sind und viele ihrer Weggefährten bereits verstorben sind. Den Grad der sozialen Abkapselung der Studienteilnehmer machten die Wissenschaftler an verschiedenen Faktoren fest: Waren die Befragten verheiratet oder nicht? Wie ausgeprägt war der Kontakt zu Familie und Freunden und wie groß ihr Engagement in Vereinen?
Risikofaktor Armut - nicht nur zu Hause, sondern auch in der Nachbarschaft
Wie sich herausstellte, verstarben im Verlauf von sieben Jahren eher sozial stärker isolierte Menschen als besser integrierte. Allerdings konnten Steptoe und seine Kollegen einen Verdacht ausräumen, den sie zuvor gehegt hatten. Überraschenderweise war es nicht die subjektiv empfundene Einsamkeit aufgrund fehlender Kontakte, die die seelische Gesundheit und letztlich das allgemeine Wohlergehen der Studienteilnehmer verschlechtert hatte. „Ihre negative Wirkung auf die psychische Gesundheit entfaltet soziale Isolation vermutlich weniger über das Gefühl der Einsamkeit, sondern über fehlende soziale Unterstützung“, kommentiert Mazda Adli den Befund der britischen Forscher.
„Wenn nun soziale Dichte und Isolation zusammenkommen, entsteht eine toxische Mischung“, so der Berliner Psychiater. Und das passiere besonders in Großstädten. „Eine Rentnerin, die ohne Kontakte und ohne die anderen Bewohner zu kennen, allein in einem Hochhaus räumlich beengt lebt, hätte demnach ein erhöhtes Risiko für psychische Beschwerden.“ Sie höre ständig die Geräusche der Nachbarn, könne sich dem nicht entziehen und habe dennoch keinen echten Kontakt zu ihnen.
Und doch stellt die Stadt längst nicht für jeden eine Gefahr für die mentale Gesundheit dar: Menschen mit einem gewissen Maß an Bildung, an ökonomischen Freiheiten und der Möglichkeit, an den Vorteilen der Stadt teilzuhaben, sind weniger anfällig für seelische Leiden. Von den Risiken betroffen sind in erster Linie ganz bestimmte Gruppen, neben älteren Menschen vor allem Migranten. In einer noch unveröffentlichten Studie haben sich Forscher um den Psychiater Andreas Heinz von der Berliner Charité Migranten in Berlin und deren seelische Gesundheit genauer angeschaut. Sie stießen dabei auf einen überraschenden Zusammenhang. „Nach ersten Ergebnissen unserer Studie trägt die Armut in der Nachbarschaft über die individuelle Verarmung hinaus zu psychischen Beschwerden bei“, sagt Andreas Heinz. Mit anderen Worten: Nicht nur die eigene Armut erklärt einen Teil der seelischen Leiden von Migranten, sondern auch die Armut um sie herum.
2050 werden zwei von drei Menschen in der Stadt leben
Ein weiteres Puzzleteil fand Andreas Heinz gemeinsam mit Kollegen in einer Übersichtsarbeit von 2013. Sie sichteten Untersuchungen zu urbanen Risikofaktoren von psychotischen Störungen wie Schizophrenie. Ein wichtiger Aspekt, den sie herausfiltern konnten, war soziale Fragmentierung. „Damit ist der Zerfall des sozialen Zusammenhalts gemeint“, erklärt Heinz. „Dazu gehören Vereinzelung und die Zersplitterung von Familien, aber auch Diskriminierung.“ Aufgrund der teilweise verhältnismäßig niedrigen Preise für Wohnraum leben relativ viele Migranten und ethnische Minderheiten in europäischen und amerikanischen Städten. Dort werden sie häufig Opfer von Ausgrenzung und Diskriminierung. Zusammengenommen bedeuten diese Einflüsse ein erhöhtes Erkrankungsrisiko.
Wie sehr individuelle Umstände und Faktoren der Umgebung ungünstig zusammenspielen können, haben Forscher um den Psychiater Stanley Zammit von der Cardiff University in Wales aufgedröselt: In ihrer Studie von 2010 hing das Risiko psychotischer Erkrankungen von mehr als 200 00 untersuchten Menschen in Schweden zum einen von persönlichen Bedingungen wie Einkommen oder dem Migrantenstatus ab. Zum anderen waren diese persönlichen Risikofaktoren verknüpft mit urbanen Einflüssen. Vor allem Menschen, die sich in ihrem Wohngebiet isoliert und fremd fühlten, hatten ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Zammit und seine Kollegen schreiben: „Umstände, in denen Individuen nicht zu den Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung passen, können zu erhöhtem Stress führen.“ Und sozialer Stress entsteht eben besonders dann, wenn wir uns in unserem gesellschaftlichen Status bedroht fühlen.
Das Problem urbaner Seelennöte wird dabei mit zunehmender Verstädterung immer dringlicher. Noch in den 1950er Jahren lebte gerade mal ein Drittel der Menschheit in Städten. Heute ist es bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Und bis 2050 werden zwei von drei Menschen in urbanen Gegenden wohnen. „Sozialer Dichte und Vereinzelung müssen wir entgegenwirken“, sagt Mazda Adli. Das Thema Stadt und psychische Gesundheit liegt ihm, der selbst sein ganzes Leben in Großstädten verbracht hat, sichtlich am Herzen. Doch wie kann man dem Problem begegnen?
„Städte sollten Gelegenheiten zur Interaktion bieten“
Man müsse Menschen geradezu dazu zwingen, am sozialen Leben teilzunehmen, zitiert Adli den amerikanischen Soziologen Richard Sennett. Um Stress und psychischen Erkrankungen vorzubeugen, kommt dabei nicht nur der Gesundheitspolitik eine wichtige Rolle zu, sondern auch der Stadtplanung. „Städte sollten so gestaltet sein, dass sie Menschen ausreichend Gelegenheit bieten, miteinander zu interagieren“, sagt Mazda Adli. In einer Stadt müsse eine Art „mediterranes Leben“ möglich sein. Konkret heißt das für den Berliner Psychiater:
- Stadtplaner sollten in Zukunft öffentliche Plätze und Straßen so gestalten, dass sie zum Verweilen einladen.
- Straßen sollten über Bürgersteige verfügen, auf denen man nicht nur laufen, sondern auch stehen, sitzen, spielen und kommunizieren kann.
- Und sie benötigen ein belebtes Sockelgeschoss mit ausreichend Ladenzeilen und Cafés. „Menschen brauchen einen Anreiz, sich möglichst viel vor und nicht hinter ihren Haustüren aufzuhalten.“
Adli möchte auch selbst zur Linderung der urbanen Seelennöte beitragen. Er will Stadtstress besser verstehen und eine der psychischen Gesundheit zuträgliche Stadtstruktur finden. Gerade ist er dabei, das Projekt „Stress and the City“ ins Leben zu rufen. Hierbei geht es um den interdisziplinären Austausch zwischen Neurowissenschaftlern, Psychologen, Architekten, Geografen und Stadtplanern. Das Ziel von Adli und seinen Mitstreitern ist unter anderem, eine Stress-App zu entwickeln. Die App soll die Nutzer nicht nur zu jeder Tageszeit verorten, sondern auch körperliche und psychische Parameter erfassen.
Die gute Nachricht: Urbane Gebiete haben auch viele Vorzüge
Bereits heute gibt es schon Apps, die die Modulation der Stimme registrieren und daraus Rückschlüsse auf die psychische Befindlichkeit der Person ziehen können. Mit der von Adli geplanten App könnten die Nutzer auch selbst eingeben, wie sie sich zu bestimmten Zeitpunkten fühlen, wie gerade ihr Anspannungslevel und ihre Befindlichkeit sind. Was manchem vielleicht als eine Form der totalen Überwachung erscheinen mag, hat allerdings rein wissenschaftliche Absichten.
„Wenn wir ganz viele solcher Daten hätten und zusammenführten, könnten wir eine Art Stresskarte erstellen“, sagt Adli. Auf diese Weise möchten er und seine Mitstreiter erfassen, wie sich einzelne Bevölkerungsgruppen in verschiedenen Stadtteilen zu unterschiedlichen Tageszeiten fühlen. Die Forscher wollen so herausfinden, für wen Stadtstress sich in welcher Weise auswirkt. „Wir könnten beispielsweise erfassen, wie stark sich Migranten oder ältere Menschen je nach Ort, Situation oder Integriertheit sozial bedroht oder ausgegrenzt fühlen. Wir stehen hier aber noch ziemlich am Anfang. Das Projekt ist noch ein frisch geborenes Baby.“
Bei all der Rede von den Nachteilen der Stadt darf man nicht vergessen: Urbane Gebiete können natürlich auch mit einer ganzen Reihe von Vorzügen aufwarten. Es gibt hier eine bessere gesundheitliche Versorgung, auch hinsichtlich mentaler Gesundheit. Außerdem werden vielfältige Zugänge zu Bildung und Kultur geboten. Kulturelle und soziale Vielfalt sind für das seelische Wohl durchaus wichtig. „Man weiß, dass eine Umgebung reich an Stimulation positiv für die psychische Gesundheit ist“, sagt Adli. Die Stadt tue also den meisten gut. „Ich persönlich liebe das Stadtleben, gerade in Berlin. Die Menschen, für die die Stadt zum Problem werden kann, müssen wir aber besser verstehen, um ihnen dann auch besser helfen zu können.“
Wieder zurück im Großstadtdschungel: In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause geht es mittlerweile etwas ruhiger zu. Und für ein anregendes Gespräch hat man zumindest ein kleines bisschen Stress gerne in Kauf genommen.
Mazda Adli, Jahrgang 1969, ist Chefarzt an der Fliedner-Klinik in Berlin. An der Charité leitet er eine Arbeitsgruppe zu affektiven Störungen
Literatur
Andreas Heinz u. a.: Urbanicity, social adversity and psychosis. World Psychiatry, 12/3, 2013, 187–197. DOI: 10.1002/wps.20056
Florian Lederbogen u. a.: City living and urban upbringing affect neural social stress processing in humans. Nature, 474/7352, 2011, 498–501. DOI: 10.1038/nature10190
Jaap Peen u. .: The current status of urban-rural differences in psychiatric disorders. Acta Psychiatrica Scandinavica, 121/2, 2010, 84–93. DOI: 10.1111/j.1600-0447.2009.01438.x
Andrew Steptoe u. a.: Social isolation, loneliness, and all-cause mortality in older men and women. Proceedings of the National Academy of Sciences, 110/15, 2013, 5759–5801. DOI: 10.1073/pnas.1219686110
Evangelos Vassos u. a.: Meta-analysis of the association of urbanicity with schizophrenia. Schizophrenia Bulletin, 38/6, 2012, 1118–1123. DOI: 10.1093/schbul/sbs096
Stanley Zammit u. a.: Individuals, schools, and neighborhood: A multilevel longitudinal study of variation in incidence of psychotic disorders. Archives of General Psychiatry, 67/9, 2010, 914–922. DOI: 10.1001/archgenpsychiatry.2010.101