Sollten wir alles verzeihen?

Im Interview spricht Susanne Boshammer über zweite Chancen, Unverzeihlichkeit und ihr neues Buch.

Die Illustration zeigt die Professorin für praktische Philosphie an der Universität Osnabrück, Susanne Boshammer
Susanne Boshammer ist Professorin für praktische Philosophie an der Universität Osnabrück. © Jan Rieckhoff

Frau Boshammer, wie bittet man angemessen um Verzeihung?

Von Benjamin Franklin stammt der Satz: „Entwerte deine Entschuldigung niemals durch eine Ausrede.“ Das ist ein guter Rat, denn die Bitte um Verzeihung verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn wir unser Verhalten im selben Atemzug rechtfertigen oder auf die Umstände schieben. Wer aufrichtig um Verzeihung bittet, steht zu seiner Schuld, zeigt echte Reue und versichert, den Schaden nach Möglichkeit wiedergutzumachen und sich zu bessern.

Was geht in uns vor, wenn wir jemandem verzeihen?

Wenn Menschen uns Unrecht tun, gehen wir auf Abstand. Wir sind wütend, machen Vorhaltungen und erwarten vom anderen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Das ändert sich, wenn wir verzeihen. Wir beschließen, unseren Groll versiegen zu lassen, geben die Vorwurfshaltung auf und erlauben der Person, die uns verletzt hat, Scham und Selbstvorwürfe zu überwinden und mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Wie ergeht es der Person, der wir verzeihen?

Viele Menschen empfinden es als befreiend, wenn ihnen verziehen wird. Schuldgefühle sind bisweilen eine schwere Last, die man nicht einfach so abwerfen kann. Was wir gesagt und getan haben, ist unwiderruflich. Wenn uns verziehen wird, dürfen wir das schlechte Gewissen hinter uns lassen und mit dem Geschehenen Frieden schließen. Das kann Menschen dabei helfen, ihre Selbstachtung zurückzugewinnen und aus ihren Fehlern zu lernen.

Also ist Verzeihen gut.

Verzeihen ist ein Ausdruck von Mitmenschlichkeit, denn wir alle machen Fehler und brauchen zweite Chancen. Schon aus Gründen der Fairness und der Solidarität spricht daher einiges für den Grundsatz: „Wenn du willst, dass man dir verzeiht, dann sei auch selbst dazu bereit.“ Entscheidend ist aus meiner Sicht jedoch: Wenn wir verzeihen, geben wir dem anderen zu verstehen, dass wir in ihm den ganzen Menschen sehen und nicht nur den Schuldigen, ihn nicht auf einzelne Taten reduzieren. Für das Verzeihen spricht also nicht allein, dass der andere auch nur ein Mensch ist, sondern dass er trotz allem, was er getan hat, immerhin ein Mensch ist.

Sollten wir folglich immer und alles verzeihen?

Wenn wir verzeihen, verzichten wir darauf, den anderen für sein Verhalten büßen zu lassen. In manchen Fällen lässt sich das nur schwer mit dem vereinbaren, was unser Sinn für Gerechtigkeit verlangt. Für die meisten Menschen gibt es eine Art rote Linie, an der ihre Vergebungsbereitschaft endet. Diese Grenze ist ein wichtiger Teil unserer moralischen Identität. Sie verleiht uns Kontur und unserem Zusammenleben normative Orientierung.

Was meinen Sie damit?

Wenn wir zu früh, zu oft oder zu bedenkenlos verzeihen, besteht die Gefahr, dass andere unser Entgegenkommen als Nachsicht oder gar Billigung missdeuten. Schon der Kirchenvater Lactantius warnte: „Wer immer verzeiht, der stärkt die Frechheit zu größeren Freveln.“ Sich selbst zu achten und die eigenen Rechte zu schützen erfordert mitunter Konfliktbereitschaft. Wer um des lieben Friedens willen umstandslos verzeiht, erweckt schlimmstenfalls den Eindruck, dass man es mit ihm ja machen kann, und riskiert so, den Respekt seiner Mitmenschen auf Dauer zu verlieren.

Susanne Boshammer ist Professorin für praktische Philosophie an der Universität Osnabrück und regelmäßiger Gast im Philosophischen Radio auf WDR5, wo es ihr besonderes Anliegen ist, philosophische Fragen allgemeinverständlich zu diskutieren

Susanne Boshammers Buch Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten ist bei Rowohlt erschienen (240 S., € 25,–)

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