Das Familienleben ist reich an Lachen und Tränen und Leiden. Man liebt einander, man kann einander nicht ausstehen, man verletzt sich gegenseitig, man versucht, miteinander zu leben, ohne allzu verbissen zu kämpfen, und sich zu trennen, ohne sich ganz aus den Augen zu verlieren. In diesem komplexen Gefüge ist der Platz der Eltern nicht immer einfach, ebenso wenig wie die Beziehung, die sie zu jedem ihrer Kinder unterhalten. Keine Mutter und kein Vater ist gänzlich frei von negativen Gefühlen. Kinder werden…
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negativen Gefühlen. Kinder werden nie zu dem, was man von ihnen erwartete; sie erfüllen nicht die Träume älterer Generationen, sind nicht immer dankbar, treu und loyal.
Man weiß das alles, aber das verhindert nicht, dass man darunter leidet. Irgendwann im Laufe ihres Lebens leiden alle Eltern. Viele zeigen das nicht und geben es nicht zu. Sie zwingen sich, Haltung zu bewahren, und tragen eine Maske des Gleichmuts, hinter der sich ihre geheime Unzufriedenheit verbirgt. Denn wenn auch jeder bereitwillig zugibt, dass die Elternrolle nicht immer befriedigend ist, so wagen es doch nur wenige, ihre Enttäuschung einzugestehen. Jeder glaubt, allein von einem Problem betroffen zu sein, das in Wirklichkeit alle haben. Eine Art Scham scheint die enttäuschten, die verletzten Eltern zurückzuhalten. Wenn man seine Kinder offen kritisiert, gilt man in den Augen der anderen als verbittert und kommt sich selbst unfähig vor, wie ein schlechter Vater oder eine schlechte Mutter.
„Ich bin begeistert darüber, wie mein Sohn sich entwickelt, er übertrifft in jeder Hinsicht meine Erwartungen“, erklärt eine Mutter. „Aber meine Tochter … wie soll ich es ausdrücken? Sie war nie mit mir auf einer Wellenlänge. Ich konnte es ihr nicht wirklich übelnehmen, fühlte aber, dass eine zunehmende Distanz zwischen uns entstand. Ich wollte sie selbständig und unabhängig – sie ist einsam. Ich hoffte, dass sie mutig werde – sie ist waghalsig. Ich vertraute ihr – sie bestahl mich. Das allein war schon schwierig zu akzeptieren, aber jetzt lässt sie alles fallen, um diesem Nichtsnutz, einem richtigen Ganoven zu folgen! Sie bricht sämtliche Brücken zu uns ab und schleudert mir ins Gesicht, ich habe immer ihren Bruder vorgezogen. Das ist unerträglich und ungerecht.“
Die Enttäuschung als Beigeschmack des Elternseins
Alle Eltern haben früher oder später den Eindruck, in ihrem herangewachsenen Kind nicht das bestätigt zu finden, was sie von ihm erwartet haben, als es noch klein war. Das ist alltäglich und liegt in der Natur der Dinge. Die Enttäuschung gehört zum bitteren Beigeschmack des Elternseins. Es ist eine schmerzhafte, aber notwendige Desillusionierung, weil sie dem Kind erlaubt, eigene Schritte zu gehen, wodurch es die wundervollen überraschenden Aspekte seiner Andersartigkeit entdeckt. Hier geht es aber nicht um diese üblichen Frustrationen, welche die Elternrolle zwangsläufig mit sich bringt.
Es geht vielmehr darum, was das Kind aus seinem Leben macht: Es geht um seine Entscheidungen, seine Liebesbeziehungen oder seine Arbeit, seinen Charakter, seine Misserfolge oder seine Erfolge. „Mein Sohn hat sich verändert, er ist durch andere Menschen ein anderer geworden. Das hätte ich bei ihm nie für möglich gehalten! Das passt nicht zu ihm, das entspricht nicht seinem Wesen.“ So sprechen Eltern über einen Sohn, der sie enttäuscht hat.
Müssen die Eltern feststellen, dass ihr Kind einen bedenklichen Kurs eingeschlagen hat, sind sie oft fassungslos. Sie sind unfähig, die Entscheidungen, Gedanken oder Reaktionen ihres Kindes zu verstehen, und fühlen sich deshalb von der Situation überfordert, selbst wenn sie noch so tolerant sind. Sie würden gern einen Einwand vorbringen, Genaueres erfragen, aber sie bringen kein Wort heraus. „Wozu? Das würde nur zu Streit führen. Ich habe gelernt, meinen Mund zu halten und meinen Kummer hinunterzuschlucken. Ich frage mich immer wieder, was ich wohl angerichtet haben mag.“
Zwischen den Eltern und dem erwachsenen Kind tut sich dann meist eine schwer definierbare Kluft auf, die Argumente und Gespräche unmöglich macht. Manchmal ist der Abbruch der Beziehung unausweichlich. Das kann ohne sichtbare Krise durch eine allmähliche, fast unmerkliche Distanzierung geschehen, die jeder zu verschleiern sucht. „Seit mein Sohn geheiratet hat, habe ich ihn aus den Augen verloren. Er ist weggezogen und hat unsere Gegend verlassen“, berichtet ein Vater. „Er hat einen verantwortungsvollen Posten, der viel Einsatz erfordert und ihm nur wenig Freizeit lässt. Er und seine Frau verkehren mit Leuten, die uns ganz und gar nicht ähnlich sind. Ich weiß, dass er zu Weihnachten nicht zu Besuch kommen wird und uns auch nicht zu sich einladen wird. In seinem neuen Leben ist einfach kein Platz für uns. Er vergisst sogar, uns anzurufen.“
Aus einem Kontaktabbruch entsteht eine Kluft des Schweigens
Bei Eltern, denen jedes Gespräch, und sei es auch noch so chaotisch und selten, als einzige Kontaktmöglichkeit zu ihren Kindern verwehrt bleibt, stellt sich das überwältigende Gefühl ein, vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Meistens verstummen sie und ergehen sich in Grübeleien. Sie haben nicht den Mut, die Fragen, die sie beschäftigen, anzusprechen und ihre Ratlosigkeit, ihre Zweifel, ihre innere Leere einzugestehen. Es ist ihnen nicht mehr möglich, von den Kindern zu sprechen, ja überhaupt zu sprechen, nicht einmal in den eigenen vier Wänden.
Diese Stille entsteht auch zwischen den Partnern. Wie soll man dem anderen mitteilen, was man sich selbst nicht zu sagen getraut? Es wird unmöglich, die Frage nach dem Sohn oder der Tochter zu stellen, ohne dass sich eine Flut von Leid und Bitterkeit Bahn bricht, ohne dass sich auch die Partnerin oder der Partner selbst schlimme Vorwürfe macht und das Verlangen aufkommt, die Schuld zu teilen. Der Ehepartner soll seinen Teil der Verantwortung übernehmen: Er war nicht oft genug da, er hat nichts verstanden, er ist nicht im richtigen Moment eingeschritten.
Nur wenige Ehepaare überstehen unbeschadet die langen, düsteren Jahre emotionaler Einsamkeit, die auf die Zerwürfnisse in der Familie folgen, vor allem, wenn ihnen dadurch die Zuneigung ihrer Kinder entzogen wurde. Jeder grübelt in seiner Ecke. Keiner weiß, wie er den Partner oder die Partnerin beruhigen soll, der genauso leidet wie er selbst.
Manche Eltern können den vollzogenen Bruch nicht akzeptieren und weigern sich, die Trennung von ihren Kindern als endgültig zu betrachten. Sie klammern sich an die Hoffnung auf eine Versöhnung. Was immer geschehen sein mag, für sie sind die Brücken niemals abgebrochen. Sie warten und hoffen. Manche schicken weiterhin freundliche und großmütige Botschaften, sie zeigen, dass sie geduldig sind, und geben zu erkennen, dass sie da sind, sie signalisieren, dass sie es gut meinen. Mit anderen Worten: Sie wollen ihre Schwächen als liebende und gekränkte Menschen überwinden, den Groll, die Verbitterung, die Wut verdrängen. Sie möchten Frieden schließen, um – wenn schon nicht die Liebe – doch zumindest die Zuneigung ihrer Kinder zurückzugewinnen.
Der Weg zur Versöhnung ist lang
Allerdings ist der ersehnte Friede nicht leicht zu haben. Der Wille reicht nicht immer aus; das ist besonders dann der Fall, wenn die Wunden tief und noch nicht verheilt sind. Wenn Eltern wieder Kontakt mit ihrem Kind aufnehmen und ihm die Hand reichen wollen, müssen sie ihren Zorn überwunden und einen langen persönlichen Weg zurückgelegt haben. Wenn der einzige Beweggrund fehlende Zuneigung ist, laufen sie Gefahr, ihre Schritte zur Versöhnung mit einem Übermaß an Forderungen und Erwartungen zu konterkarieren.
„Erst nach einer langen Arbeit an mir selbst habe ich meiner Tochter verzeihen können“, gesteht eine Mutter. „Es ist mir nicht leichtgefallen, zu akzeptieren, was aus ihr geworden ist. Ich hielt sie für kindlich, aber großzügig, ein bisschen gedankenlos, aber herzensgut. Es war unerträglich für mich, zu erkennen, dass sie egoistisch, habgierig und verbittert ist. Als sie noch ein Kind war, schien alles so vielversprechend! Mit ihrem jetzigen Leben als Erwachsene hat sie mich krank gemacht. Ich musste mich einer Behandlung unterziehen – ich habe eine Psychotherapie gemacht –, um ihr alles verzeihen zu können, was ich ihr vorgeworfen hatte, und mir selbst nicht mehr für all die Gefühle böse zu sein, die ich empfand.“
Dieser Erfahrungsbericht macht die enge Beziehung zwischen elterlichem Verzeihen und der Trauer deutlich. Es geht nicht mehr um Geben und Zurückgeben. Wenn man seinen Kindern verzeihen will, verliert der familiäre Austausch an Bedeutung zugunsten des persönlichen Friedensbedürfnisses. Man könnte sagen, dass die Prozesse der Trennung wichtiger werden als die Bedürfnisse nach Bindung.
Die Sehnsucht nach der Vergangenheit beenden
Verzeihen bedeutet den Verzicht auf das Kräftemessen (Rache, Machtausübung, Einflussnahme), bedeutet, unnötige Kämpfe und Leiden aufzugeben: Schluss mit der Sehnsucht nach der Rückkehr in die Vergangenheit! Der Prozess des Verzeihens besteht darin, die verknoteten Fäden der Entfremdung und des Grolls zu entwirren, von Gier und Hass geprägte Bindungen abzubrechen und bereit zu sein, auf jede Anschuldigung, jeden Machtanspruch und jeden Vorwurf zu verzichten.
Es geht also um einen echten Trennungsvorgang. Den Kindern verzeihen, ganz gleich was man von ihren Entscheidungen oder ihren Handlungen hält, heißt für die Eltern, zu akzeptieren, dass ihr Weg von ihnen wegführt, ja dass sie sie sogar aus den Augen verlieren und dass sie für all das, was sie je für sie getan haben, keine Gegenleistung oder Dankbarkeit erwarten.
Der Bericht einer Mutter von drei Kindern zeigt, wie schwer und langwierig dieser Vergebungsprozess ist, soll er am Ende gelingen: „Lange Zeit habe ich nicht ohne einen außergewöhnlich heftigen inneren Schmerz an meine Kinder denken können, es war wie ein Gefühl, versagt zu haben, gescheitert zu sein. Nach und nach habe ich jedoch aufgehört zu leiden. Ich habe akzeptieren müssen, auf ihre Zukunft keinen Einfluss zu haben. Das war schrecklich. Eine brutale Trennung. Hätte ich nicht stark mit mir gekämpft, dann wäre es mir nicht gelungen, mein Leben zu leben, ohne ständig an ihre Leben zu denken. Ich hatte nie über all das in Begriffen von Verzeihen nachgedacht, weil die Kinder mir, objektiv gesehen, niemals Böses zugefügt haben. Sie haben eben nur Wege eingeschlagen, die ich für sie nicht vorgesehen hatte. Sie haben sich der Freiheit bedient, die ich ihnen geben wollte. Aber in Wahrheit geht es wirklich um Verzeihen. Ich habe ihnen endlich verziehen, dass sie ihre eigene Wahl getroffen haben, um ihr Leben zu leben und meins zu verlassen.“
Maryse Vaillant (1944–2013), ursprünglich Erzieherin, war Klinische Psychologin. Sie hat lange Jahre mit Jugendlichen und Familien gearbeitet, insbesondere auch im Bereich jugendlicher Gewalt und Kriminalität. Sie veröffentlichte über zehn psychologische Sachbücher in renommierten französischen Verlagen.
Sophie Carquain ist Journalistin und Autorin von literarischen Werken wie auch von Sachbüchern.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem im Verlag Hans Huber, Bern erschienenen Buch der beiden Autorinnen: Wenn Liebe nicht mehr genügt. Wie Eltern ihren erwachsenen Kindern verzeihen können (ISBN 978-3-456-85310-9).
Weitere Literatur zum Thema:
Angelika Kindt: Wenn Kinder den Kontakt abbrechen. Hilfestellungen und Strategien einer verlassenen Mutter. Südwest, München 2011
Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie. Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten. Piper, München 2013
Tina Soliman: Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen. Klett-Cotta, Stuttgart 2011
„Ich will nicht, dass sie mir verzeihen“
Warum manche erwachsenen Kinder die ausgestreckte Hand der Eltern nicht ergreifen können
Keine Beziehung ist einseitig. Viele Eltern wissen das, wenn sie mehrmals eine Aussöhnung, die ihnen so sehr am Herzen lag, versucht haben, ohne dass ihre Kinder darauf eingegangen wären. Diese übereilten Versuche führten bald zu neuen Krisen, neuen Vorwürfen und neuer Zwietracht. Denn der heimliche Groll, der weiterschwelt, kann bei nächster Gelegenheit wieder auflodern, wenn man nicht bedenkt, was das Bedürfnis der Eltern, Nähe und Kontakt zu ihren Kindern zu finden, für diese bedeuten kann: Vereinnahmung oder Eingesperrtsein. Denn es gibt Wünsche nach Frieden, hinter denen das Bedürfnis steht, wieder Einfluss zu nehmen. Und es gibt emotionale Gefängnisse, die mehr als alles andere gefürchtet werden.
„Ich will keine Vergebung von meinen Eltern“, erklärt eine Tochter aufgebracht; seit über 20 Jahren hat sie ein unterkühltes Verhältnis zu ihnen. „Das sind zwei alte Egoisten, die sich nie wie richtige Eltern verhalten haben. Reichlich kindlich, kläglich und aggressiv haben sie uns das Leben zur Hölle gemacht. Wir, meine Schwester und ich, haben einen lebenslangen Schaden davongetragen. Sie ist ihnen noch ziemlich nahe geblieben, aber ich habe keine Verbindung mehr mit ihnen. Ich lasse sie in ihrer kleinen engstirnigen Welt verschimmeln. Neulich hat sie mir erzählt, dass die Alten Frieden schließen wollten. Dass sie mir eine hilfreiche Hand reichten und bereit seien, mir meine Jugendsünden zu verzeihen … Das verschlug mir dann doch den Atem. Für wen halten sie sich? Ich will ihr Verzeihen nicht! Ich brauche es nicht. Ich brauche nichts mehr von ihnen.“
Ein Abbruch der Beziehung scheint manchmal das einzige Mittel zu sein, Abstand von Eltern zu gewinnen, die allzu vereinnahmend sind. Dasselbe gilt für Eltern, die als toxisch, bösartig, als tatsächlich oder möglicherweise gefährlich gelten. Da Familienbeziehungen sehr grausam sein können, behalten Kinder oft mancherlei Gründe in Erinnerung, um auf Abstand zu den Eltern zu bleiben. Denn es gibt eben heilsamen Zorn, kluge Fluchten, notwendigen heimlichen Groll, ebenso wie es gefährliches Verzeihen gibt.
Manche Kinder fürchten, wenn sie akzeptieren würden, dass man ihnen verzeiht, hieße das für sie, über alle ihre Anstrengungen, dem elterlichen Einfluss zu entkommen, hinwegzusehen. „Es macht mir schon Kummer, wenn ich an meine Mutter, an ihr Alleinsein denke, aber ich habe einen Abstand zwischen ihr und mir schaffen müssen. Es war anders nicht möglich! Sie hat nie verstanden, dass mein Leben mir gehört. Ich habe mich aus ihrer Umklammerung herausziehen müssen, um ich selbst werden zu können.“
Diese Äußerungen finden ein Echo bei vielen Kindern, deren Verhältnis mit ihren Eltern abgekühlt ist. Wie wir gesehen haben, sind gewisse Brüche notwendig, und viele Dramen sind Überlebensversuche. Viele Kinder bedauern ihren Entschluss nicht, selbst wenn ihre Eltern darunter leiden. Natürlich sind sie sich bewusst, sie verletzt, die familiären Gesetze überschritten, sich den elterlichen Anordnungen widersetzt, sich vom Weg entfernt zu haben, der ihnen vorgezeichnet war. Sie können zwar darunter leiden, aber sie sehen keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen, dass sie leben.
Über den eigenen Schatten springen
Wie können Sie sich mit der eigenen Kindheit und den Eltern versöhnen?
Vergeben – wie geht das? Zunächst: Vergebung ist keine einmalige Entscheidung. Vergebung ist ein Prozess, der seelische Arbeit, Zeit und Geduld erfordert. Vergebung ist wahrscheinlich eine der schwierigsten „Reisen“ im Leben eines Menschen. Doch von der Bewältigung dieser Wegstrecke hängt ab, ob Sie eine freie, eigenständige Person sein können. Und zwar unabhängig davon, ob Ihre Eltern noch leben oder nicht.
Die Reise „Vergeben“ hat verschiedene Stationen:
1. Die wichtigste Voraussetzung ist, dass Sie der Trauer einen Raum geben. Sie müssen sich verabschieden von der Kindheit, die Sie nicht gehabt haben und die Sie niemals mehr haben können. Es ist notwendig, dass Sie die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufgeben und nicht mehr länger mit dem Gestern hadern. Sie erkennen an, dass das Leben nicht gerecht zu Ihnen war, und akzeptieren, dass Sie rückwirkend nichts mehr verändern können: weder das, was geschehen ist, noch die Menschen, von denen Sie in Ihrer Kindheit vernachlässigt worden sind.
2. Es ist notwendig, dass Sie eine klare Entscheidung treffen: „Ich will vergeben.“ Diese Entscheidung können Sie jedoch erst treffen, wenn Sie nicht nur einsehen, sondern auch spüren: „Ich vergebe nicht anderen zuliebe, sondern ausschließlich, weil es mir guttun wird!“ Es ist ein Willensakt, etwas, zu dem Sie sich entscheiden, weil Sie wissen und einsehen, dass es gut und richtig für Sie ist, wenn Sie loslassen und sich von den belastenden Folgen einer schweren Kindheit selbst befreien.
Wenn Sie vergeben, weisen Sie der Vergangenheit und den erlittenen Verletzungen den Stellenwert zu, den diese verdienen, und sehen sie als das, was sie wirklich sind: ein Teil von Ihnen, aber eben nur ein Teil. Ihre Identität ist nicht mehr länger durch das definiert, was in Ihrer Vergangenheit geschah. Sie sind mehr als nur ein Opfer von Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit.
3. Angenommen, Sie haben sich entschieden zu vergeben. Wie geht es weiter? Der nächste Schritt dürfte der schwerste sein. Denn untrennbar verbunden mit dieser Entscheidung ist die Notwendigkeit, den Eltern mit Nachsicht und Verständnis zu begegnen. Das setzt voraus, dass Sie es schaffen, die Eltern als getrennt von sich selbst zu betrachten, als Mann und Frau, die eine eigene Geschichte haben und die erst in zweiter Linie Ihre Eltern sind. Wenn die Eltern noch leben, können Sie sie nach Einzelheiten aus ihrem Leben fragen. Wenn sie bereits gestorben sind, wissen Sie vielleicht selbst einige Antworten, oder es gibt ältere Verwandte, die Sie fragen können. Indem Sie in die Geschichte Ihrer Eltern eintauchen, wechseln Sie die Perspektive: Sie betrachten deren Leben nicht mehr aus der Warte des Kindes, das Sie einmal waren, sondern aus einer Erwachsenenperspektive.
Wenn Sie sich für die Frau hinter der Mutter, den Mann hinter dem Vater interessieren und mehr erfahren möchten, dann ist es für das Verständnis wichtig, dass Sie den Blick weiten. Betrachten Sie nicht nur die Situation Ihrer Eltern, als diese jünger waren, sondern schauen Sie auch auf die Generationen davor (siehe dazu das Interview mit der Schriftstellerin Annette Pehnt auf Seite 28: „Ich wollte zu viel von meiner Muttter“). Wie waren Ihre Großeltern, was konnten diese ihren Kindern bieten? Gab es in den Familien der Großeltern irgendwelche Schicksalsschläge und Vorkommnisse? Wenn es Ihnen gelingt, etwas über die verschiedenen Generationen in Erfahrung zu bringen, dann sehen Sie Ihre Eltern nicht länger als unverrückbare Instanz, sondern als Menschen, die in einen Gesamtkontext eingebunden sind.
Als Kind können wir uns natürlich nicht in die Eltern einfühlen – und das wäre auch überhaupt nicht angebracht, sondern eine Überforderung für unsere kindlichen Seelen. Aber als Erwachsener können wir das tun, und wir sollten es tun – zu unserem eigenen Nutzen. Allerdings ist uns der Gedanke, sich in die Eltern einzufühlen, meist völlig fremd, oder wir glauben, diese hätten unser Verständnis nicht verdient. Das mag ja durchaus sein. Aber wir haben es verdient, über das Verständnis für die Eltern die oftmals verheerenden Folgen einer schwierigen Kindheit abzuschwächen und unseren Frieden mit dem Geschehenen zu machen.
Literatur
Ursula Nuber: Lass die Kindheit hinter dir. Das Leben endlich selbst gestalten. Dtv, München 2012
Bertold Ulsamer: Inneren Frieden finden mit den Eltern. 7 Schritte zur Versöhnung. Kösel, München 2013