Das Jenseits im Diesseits

Friedhöfe sind nicht nur Orte des Gedenkens. Wie wirken sie auf uns? Welchen Einfluss hat ein Besuch? Kai Schuster über die Psychologie des Friedhofs.

Eine grüne Gießkanne am Friedhof
Die Faszination von Friedhöfen hat sehr viele Facetten. © plainpicture/Yvonne Röder

Es gibt wenige Orte, die so eindeutig zu sein scheinen: Der Friedhof ist der Platz, an dem Tote beerdigt sind und der den Angehörigen einen Raum des Gedenkens gibt. Aber warum besuchen so viele Menschen Friedhöfe? Der Pariser Friedhof Père-Lachaise ist ebenso ein Touristenmagnet wie der Hamburger Friedhof Ohlsdorf. Der Wiener Zentralfriedhof sowieso – und das beileibe nicht erst seit Wolfgang Ambros’ Rockhit Es lebe der Zentralfriedhof aus den Siebzigern.

Die Faszination von Friedhöfen hat sehr viele…

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iedhof aus den Siebzigern.

Die Faszination von Friedhöfen hat sehr viele Facetten. Beim Betreten eines Friedhofs, berühmt oder nicht, vollzieht sich oft eine Stimmungsänderung; sie gelten als Orte der Ruhe und Parks für die Seele. Es ist fast so, als würden wir eine besondere Welt des Berührtwerdens betreten. Das Unvorstellbare des Todes kommt uns selten so nahe wie an diesem Ort; hier erleben wir seine Unausweichlichkeit. Dieser unfassbare Gedanke bekommt unabhängig von der eigenen religiösen Verankerung durch die materialisierte Kultur der Grabstätte eine erträgliche Seite.

Stätte der Trauer

Auf dem Friedhof findet die Trauer einen Raum. Gleichsam einem Gespräch an der Haustür können wir hier mit unseren Verstorbenen sprechen, ihnen von uns erzählen, Freude und Sorge mitteilen. Leider vor einer verschlossenen Tür. Dennoch tröstet diese Verbindung, und es berührt ungemein, Trauernde an einem Grab zu sehen. Wie sel­ten fühlen wir uns dann so weich und auch fremden Menschen als Mensch derart verbunden. Manchmal weinen wir in durchdrungener und diffuser Trauer still mit.

Friedhöfe sind letztlich Orte der tiefs­ten Menschlichkeit. Das Grab der Angehörigen ist zugleich die Schnittstelle zwischen dem Jenseits und dem eigenen Leben: durch Erinnerungen, aber auch durch die Liebe oder zumindest die Verbundenheit mit den Verstorbenen, der durch mehr oder weniger starke Mühen bei der Grabpflege Ausdruck verliehen werden kann. Selbst aus dem Jenseits können Verwandte gehörigen Druck ausüben.

Der Friedhof ist also eine Stätte der Trauer und Erinnerung – weniger des Leids. Leid verspüren wir bei der Beerdigung, wo das Sterben eines geliebten Menschen mit dem ritualisierten Abschiednehmen Frieden finden kann. Treffen Fremde beim Flanieren über den Friedhof zufällig auf einen Trauerzug oder sehen Trauernde an einem Grab, versuchen sie, diese intime Situation weiträumig zu umgehen. Lieber Abstand halten.

Nähe und Verbindung

Wir können auf Friedhöfen Prominente besuchen, die lange vor uns gelebt haben und die wir nie persönlich kennenlernen konnten. Darüber schaffen wir Nähe zu ihnen, aber auch Verbindung untereinander: Für jedes kulturelle Milieu gibt es berühmte Tote, die eine kollektiv geteilte Resonanz erzeugen. Wer hat als Angehöriger einer bestimmten Schicht in der Jugend nicht selbst das Grab von Jim Morrison besucht? Mittlerweile waren schon die Kinder dort und sind ebenso für paar Minuten in die verklärte Vergangenheit eingetaucht wie ihre Eltern.

Der Friedhof ist ein Ort des Erlebens und Reflektierens des eigenen Lebens, neudeutsch der Identitätsarbeit, inklusive der Endstation. Gerade die ab dem 17. Jahrhundert entstandenen Parkfried­höfe verbinden Tod und Leben auf eine sinnliche Weise. Zu verdanken haben wir ihre Entstehung den Umbrüchen vom Bild des „Jenseits“ durch die Refor­mation: Nach der Trennung der Grab­stätten vom Kirchengebäude wurden viele Friedhöfe zu Naturinseln in den immer stressiger werdenden industrialisierten Städten.

Dass Friedhöfe auch übergeordnete Umweltqualitäten haben, zeigt sich im Kontext der Forschung zu Wirkungen des Klimawandels auf Städte. Sie sind Räume der Biodiversität und Luftreinigung und tragen dazu bei, dass Städte nicht noch mehr überhitzen. Diese Qualitäten spüren wir direkt: Auf dem Friedhof finden wir bei Sonne Schatten und einen „entschleunigten“ naturnahen Erholungsraum mit Sitzplatz, wobei wir teils seltene Vogelarten sowie Eichhörnchen beobachten können, was auch für Kinder Grund genug ist, gerne mit auf den Friedhof zu gehen.

Orte des Wandels

Zur Entspannung trägt auch bei, dass zumindest die größeren Friedhöfe Toiletten und Trinkwasser bereitstellen und oft ein Café auf dem Gelände oder zumindest in direkter Nähe den Weg zwischen Diesseits und Jenseits und zurück verschönert. Glaubt man der maslowschen Bedürfnispyramide, ist damit schon einiges für das Über- und Erleben getan; zumindest Eltern und Großeltern auf Spielplätzen träumen regelmäßig von solchen Bedingungen.

Ganz sicher bleiben Friedhöfe immer Orte des Wandels, und neue kulturelle Praktiken werden die Friedhofskultur bereichern sowie möglicherweise zu Erstaunen führen; das gesellschaftliche Phänomen der Pluralisierung erreicht früher oder später jeden Friedhof. So gibt es nicht nur auf dem Dortmunder Hauptfriedhof einen Spielplatz – dort sinnigerweise auch mit Seniorensportgeräten. Anderswo joggen die Menschen auf den Wegen zwischen den Gräbern oder nutzen den Friedhof als Ort zur sonstigen Erfindung: Bereits um 1800 waren Picknicks auf dem berühmten Assistenzfriedhof in Kopenhagen gängige soziale Praxis.

Friedhöfe sind eben nicht nur stille Orte des Nachdenkens, der Trauer und der Ruhe. Sie sind Orte der Begegnung, mit sich selbst und anderen, aus dem Jenseits und dem Diesseits.

Literatur

Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal (Hg.): Raum für Trauer. Erkenntnisse und Herausforderungen. Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal, Kassel 2019

Jürgen Breuste u.a.: Stadtökosysteme. Funktion, Management und Entwicklung. Springer, Berlin 2016

Norbert Fischer: Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Springer, Wiesbaden 2016

Martin Venne u.a.: Öffentliche Leistungen und Funktionen aktiver Friedhöfe. Abschlussbericht zum DBU-Forschungsprojekt. PlanRat, Kassel 2017

Prof. Dr. Dr. Kai Schuster ist seit 2010 Professor für Soziologie, Architekturpsychologie und Sozialpsychologie an der Hochschule Darmstadt. Gemeinsam mit Marc Kirschbaum führt er zudem das Büro pragmatopia in Kassel, das zu Themen aus Architektur und Gesellschaft forscht und berät

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern