Ausgebrannt

Wenn Körper und Seele streiken, werten viele Betroffene das als individuelles Versagen. Warum Burnoutsymptome ein Zeichen von Kompetenz sind.

An manchen Tagen konnte die Pflegedienstleiterin eines großen Krankenhauses nur noch Halbsätze herausbringen. Auf unerklärliche Weise war ihr Wortschatz drastisch zusammengeschrumpft. Obwohl sie sich schon morgens beim Aufwachen vollkommen zerschlagen fühlte und ihre Beine sich kaum noch bewegen wollten, arbeitete sie weiter, telefonierte, diktierte, rechnete, schrieb Berichte, rannte im Stechschritt von Station zu Station. Je schwächer sie sich fühlte, desto unerbittlicher schwang sie die innere Peitsche:…

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zu Station. Je schwächer sie sich fühlte, desto unerbittlicher schwang sie die innere Peitsche: „Stell dich nicht so an. Reiß dich verdammt nochmal zusammen!“ Doch dann brach sie mitten in einem Gespräch mit ihren Mitarbeitern in Tränen aus und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Die Hausärztin diagnostizierte ein Burnoutsyndrom, schrieb sie krank und schickte sie in psychotherapeutische Behandlung. Erst im Verlauf der Therapie wurde Bianca Rösler klar, dass die Erschöpfung sich schon über Jahre aufgebaut und sie alle Warnsignale ignoriert hatte.

Burnout, das klingt nach Schwäche, Versagen, Energiemangel, Kontrollverlust und Kapitulation. Deshalb blickt Gunther Schmidt oft in verwunderte Gesichter, wenn er seine Vorträge mit dem Satz beginnt: „Burnout ist eine Kompetenz.“ Der ärztliche Leiter der privaten sysTelios-Klinik in Siedelsbrunn bei Heidelberg und Begründer des hypnosystemischen Ansatzes wirbt dafür, Burnout nicht nur durch die Mangelbrille zu betrachten, sondern auch die Kompetenz zu würdigen, die in der Erschöpfung und im Zusammenbruch zum Ausdruck kommt (siehe Interview Seite 22). Wenn der Organismus signalisiere „Halt! Stopp! So geht es nicht weiter“, sei die erzwungene Pause eine angemessene Antwort des biologischen und emotionalen Systems auf die dauerhafte Überlastung, erklärt Schmidt und spricht von verletzten „Vertragsbedingungen des Organismus“. Dieser teile durch Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Gereiztheit mit, dass er etwas anderes braucht.

Gerade weil die Betroffenen sich als Versager auf der ganzen Linie fühlen und oft von Vorgesetzten und Kollegen als nicht belastbar abgestempelt werden, sei es wichtig, ihnen eine andere Interpretation für ihre Symptome anzubieten und diese als „Leibwächter“ und „Sinn-Wecker“ zu verstehen. „Wer Erschöpfungssymptome nur als Schwäche und Inkompetenz erlebt, will sie so schnell wie möglich weghaben. So bleibt das problemverursachende Muster jedoch bestehen.“ Hilfreicher und langfristig heilsamer sei es, die Symptome zu übersetzen in Botschaften über wichtige Bedürfnisse, die lange missachtet oder nicht erfüllt wurden.

Gunther Schmidt plädiert dafür, die mittlerweile kontrovers diskutierte Abgrenzung zwischen Burnout und Depression beizubehalten und beide Diagnosen nicht in einen Topf zu werfen. Ein Teil der Burnoutpatienten zeige auch Symptome, die üblicherweise mit einer schweren Depression verbunden sind, die Dynamik der Erkrankung sei jedoch deutlich anders. „Viele, die an Burnout erkrankt sind, empfinden es als vernichtend und abwertend, wenn sie eine psychiatrische Diagnose bekommen und als depressiv bezeichnet werden. Sie sehen sich dann überhaupt nicht gewürdigt in ihrer Kompetenz und ihrem überdurchschnittlichen Einsatz, den sie vor dem Zusammenbruch gezeigt haben, und halten sich für verkorkst und krank, was den Heilungsprozess nicht gerade befördert.“ Aus Loyalität mit seinen Klienten wehre er sich gegen den individualisierenden und pathologisierenden Blick auf Erschöpfung, so Gunther Schmidt.

Auch Christoph Middendorf, Facharzt für psychotherapeutische Medizin und ärztlicher Geschäftsführer der Oberbergkliniken, die unter anderem auf die Behandlung von Burnout spezialisiert sind, sieht im natürlichen Rückkoppelungsmechanismus des Gehirns, das auf chronische Überlastung mit Stoppsignalen reagiert, eine wichtige Ressource. Allerdings sei es manchmal in der Therapie ein längerer Prozess, Patienten mit der Idee vertraut zu machen, dass sie ihren Körper nicht einfach beherrschen und zu Höchstleistungen zwingen können wie eine Maschine. „Wir leben in dem Irrglauben, wir könnten die Natur vollkommen nach unseren Wünschen formen. Dieses mechanistische Verständnis haben wir auch auf uns selbst und unseren Körper übertragen und denken, wir könnten alles erreichen. Ein Burnout konfrontiert uns jedoch damit, dass unsere Natur das nicht mitmacht und sich wehrt.“ Viele sehen die Klinik als Reparaturwerkstatt und hoffen, schnell wieder fit zu werden, um weitermachen zu können. Sich einzugestehen, dass Burnout kein kleiner Schwächeanfall ist, sondern möglicherweise ein ganzes Lebenskonzept infrage stellt, sei ein schmerzhafter Lernprozess.

Gunther Schmidt geht es in der therapeutischen Arbeit darum, die inneren Antreiber zu erkennen, die Menschen dazu bringen, über ihre Grenzen zu gehen und sämtliche Stoppsignale zu ignorieren. Das sieht auch Middendorf so. Er hält die Fähigkeit, nein sagen zu können, für einen goldenen Schlüssel in der Burnoutbehandlung. Der Mediziner zitiert gerne den Satz: „Nein ist das beste orale Burnoutverhütungsmittel.“ In der Therapie lernen seine Patienten, zu überhöhten inneren Ansprüchen nein zu sagen. In der Praxis heißt das zum Beispiel: den Bericht abgeben, wenn er zu achtzig Prozent gut ist, und auf die letzten zwanzig Prozent, die unverhältnismäßig viel Kraft und Zeit kosten, verzichten. Den Schreibtisch verlassen, obwohl nicht alles erledigt ist. Abends keine Mails mehr checken. Im Urlaub nicht in der Firma anrufen, um zu hören, wie es so läuft. In Rollenspielen üben Patienten, sich Kollegen und Vorgesetzten gegenüber auf angemessene Weise abzugrenzen. „Ich erledige das gerne morgen für dich, jetzt habe ich Feierabend.“ „Wenn ich das neue Projekt übernehmen soll, möchte ich dafür eine andere Aufgabe abgeben.“

Meditation wird häufig als Kuschelecke missbraucht

Auch wenn die Oberbergkliniken Achtsamkeit in ihr Therapiekonzept integriert haben und damit werben, sieht Christoph Middendorf den gegenwärtigen Hype um Achtsamkeit als Allheilmittel im Umgang mit Stress und Burnout auch kritisch. Meditation sei ohne Frage ein empfehlenswerter Weg, zur Ruhe zu kommen, den Körper zu spüren, Warnsignale rechtzeitig wahrzunehmen und die eigenen Muster zu erkennen. „Manchmal lernen Menschen jedoch auch, mithilfe von Achtsamkeit Dinge zu akzeptieren, die ihnen schaden. Unter dem Motto, ganz wertfrei und entspannt das Problem gar nicht an sich heranzulassen, wird wunderbar meditiert, aber nichts verändert.“ Meditation werde dann als Kuschelecke missbraucht, in der man sich regeneriert, ohne anstehende Veränderungen anzupacken. Um nicht gleich im nächsten Burnout zu landen, könne es wichtig sein, den eigenen Gestaltungsspielraum zu nutzen und mit dem Vorgesetzten über eine neue Aufgabenverteilung und andere Arbeitszeiten zu verhandeln. „Achtsamkeit sollte nicht zum Fluchtweg werden. Dann kann sie sogar kontraproduktiv werden“, sagt Middendorf.

Ob mithilfe von Achtsamkeit, hypnosystemischer Balance oder Verhaltenstherapie, letztlich geht es bei allen therapeutischen Ansätzen darum, verschüttete Stärken wieder zu entdecken, Kraftquellen zu aktivieren, einen gesünderen Umgang mit Belastungen zu finden und wieder in Balance zu kommen. Gunther Schmidt unterstützt seine Klienten, aus der negativen Selbstsuggestion, die ihnen ständig vorgaukelt, nicht gut genug zu sein, auszusteigen und eine neue Sensibilität für die wertvollen Signale des Körpers zu entwickeln. „Wenn ich auf meine Körperreaktionen achte und spüre, wie weit ich gehen kann und wann ich mich übernehme, ist das eine Stärke und keine Schwäche. Dann bin ich relativ gut vor Burnout geschützt.“ Gunther Schmidt nennt das „die eigene Endlichkeit anerkennen“. Ich erkenne an, dass ich nicht alles schaffen kann, und akzeptiere meine Begrenztheit mit Würde und Stolz. „In unserer gesellschaftlichen Ideologie wird Endlichkeit tabuisiert. Wir tun so, als gäbe es keine Grenzen. Doch das stimmt nicht. Burnout spiegelt auf der individuellen Ebene unser kulturelles Muster, das Begrenzungen leugnet. Insofern ist Burnout auch eine Chance für Kulturveränderungsprozesse.“

Zu seinem Engagement für Burnouterkrankte gehört für Gunther Schmidt auch, die Strukturen zu sehen, die Burnout begünstigen. „Unternehmen müssen lernen, Mitarbeiter, die mit Erschöpfung reagieren, nicht als schwach, faul oder unmotiviert abzustempeln. Burnoutsignale sind wichtige Informationen für eine Organisation, die signalisieren, was man an der Arbeitsverteilung, der Kommunikation und am Klima verbessern kann“, sagt Schmidt. Mangelnde Transparenz, Entscheidungen, die als unfair empfunden werden, unklare Arbeitsaufträge, fehlende Anerkennung, kaum Gestaltungsspielraum, zu wenig Ressourcen, um den Anforderungen gerecht zu werden, ständige Umstrukturierungen, Personalabbau. All das sind Risikofaktoren für Burnout in Unternehmen und Organisationen.

Obwohl in einigen Führungsetagen die Erkenntnis angekommen ist, dass Stressbewältigungskurse allein nicht ausreichen und sich auch an Arbeitszeiten und Arbeitsstrukturen etwas ändern muss, landen die meisten Unternehmen in der Individualisierungsfalle und erwarten von ihren Mitarbeitern einseitig ein besseres Stressmanagement. „So wie Patienten sich nicht gerne infrage stellen, ist die Frage, wie sich die Mitarbeiter fühlen und ob sie genügend Gestaltungsspielraum, Fairness, Transparenz und Anerkennung bekommen, in Unternehmen auch nicht sehr beliebt“, sagt Christoph Middendorf. „Die Mitarbeiter sollen funktionieren und schnell und effizient die Ziele erreichen.“ Burnout sei aber immer ein Zusammenspiel von äußeren und inneren Faktoren. Auch resiliente, also belastbare Menschen mit einer robusten Grundausstattung und einem stabilen sozialen Umfeld können in schwierigen Organisationsstrukturen an Burnout erkranken.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2016: Ausgebrannt