Herr Galuska, Sie haben als Klinikleiter Pionierarbeit geleistet, um Meditation in die Psychotherapie zu integrieren. Inzwischen ist Meditation ein Megatrend. Wie bewerten Sie den gegenwärtigen Hype?
Ich freue mich darüber, dass etwas gesellschaftsfähig geworden ist, wofür ich in den neunziger Jahren viel Prügel bezogen habe. Von Anfang an habe ich mich für ein ganzheitliches Therapiekonzept eingesetzt, das Meditation integriert. Dafür wurde ich heftig kritisiert und der Esoterik bezichtigt.
Wie…
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das Meditation integriert. Dafür wurde ich heftig kritisiert und der Esoterik bezichtigt.
Wie haben Sie Meditation genau in der Klinik eingesetzt?
Alle Patienten bekamen eine Einführung in Achtsamkeit und hatten dann die Möglichkeit, morgens eine halbe Stunde lang an einer stillen Meditation teilzunehmen oder am Nachmittag diverse Meditationsformen mit Bewegung und Stimme auszuprobieren. Die Patienten, die Achtsamkeitsmeditation praktiziert haben, waren sehr erfreut, dass sie irgendwann ihre Gefühle beobachten konnten, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Der innere Beobachter, der sich in der Meditation entwickelt, ist sehr hilfreich, um sich aus dem aktuellen Geschehen zu lösen und es zu betrachten. Dann fühlt man sich nicht mehr ausgeliefert und gewinnt eine heilsame Distanz. Diese Erfahrungen haben uns ermutigt, Meditation als genuines Element einer stationären Behandlung anzubieten.
Einen inneren Beobachter, der oft als ein innerer Kritiker fungiert, kennen die meisten. Sie sprechen aber von einer anderen Art des Beobachtens, oder?
Wir haben von Anfang an eingeführt, dass man jede Meditation mit einer wohlwollenden Haltung sich selbst gegenüber beginnt. Wir starten die Meditation, indem wir sagen: Finden Sie einen guten Sitz, spüren Sie Ihre Aufrichtung, den Atem. Und dann öffnen Sie Ihr Herz für sich selbst und nehmen Sie eine fürsorgliche Haltung ein, so dass alles, was in den nächsten Minuten auftaucht, mit Wohlwollen betrachtet wird. Auf diese Weise kann auch der innere Kritiker betrachtet werden. Es ist sehr hilfreich, überhaupt zu registrieren, dass es da eine selbstkritische, selbstverurteilende Stimme gibt. Ein Teil von mir beobachtet, was gerade in mir geschieht, und ist dadurch bereits raus aus dem Kreislauf. Das ist zunächst nur eine Einsicht, es bedeutet nicht, dass man gleich damit aufhören kann, sich zu verurteilen. Aber man kann diese Einsicht in die Psychotherapie mitbringen und sagen, mir fällt auf, dass ich große Schwierigkeiten habe, mich wohlwollend zu betrachten, und immer an mir herumnörgele. So arbeiten Psychotherapie und Meditation zusammen.
Oft wird Meditation aber reduziert auf eine Stressbewältigungsmethode.
Das bedauere ich sehr. Wir leben in einer sehr funktionalen, technisch denkenden Gesellschaft. Das spiegelt sich auch in vielen Ratgebern und Coachingansätzen: Tu dies, tu jenes, dann geht es dir besser. Meditiere, dann kannst du dich besser entspannen. Meditation kann wesentlich mehr. Es geht nicht nur um Stressreduktion, sondern um die Entwicklung einer spirituellen Orientierung, eines Bezugs zu etwas Größerem, eines neuen Sinnverständnisses. Im Moment wird Meditation funktionalisiert als eine Gesundheitskompetenz. Das kann man machen, es ist auch nicht falsch, aber damit beschneidet man das gewaltige Potenzial. In den alten Traditionen wurde Meditation nicht entwickelt, damit Menschen entspannter sind, sondern damit sie einen fundamental anderen Bezug zum Leben bekommen und erkennen, dass es etwas viel Größeres gibt, als das Alltagsbewusstsein uns vorgaukelt.
Auch wenn Meditation nachweislich heilsam wirkt, so ist sie sicher nicht für jeden geeignet. Wann ist Meditation kontraindiziert?
Die Frage muss präzisiert werden: Welche Art der Meditation ist für welchen Menschen zu welchem Zeitpunkt hilfreich? Wenn sich jemand hinsetzt, die Augen schließt und überflutet wird von traumatischen Bildern oder Ängsten, ist das ein Zeichen, dass er keine stille Meditation mit geschlossenen Augen praktizieren sollte. Möglicherweise ist jedoch eine Gehmeditation mit geöffneten Augen oder eine Tanzmeditation heilsam. Viele Patienten, die schlecht sitzen können, kommen gut mit Gehmeditation zurecht und finden auf diese Weise Stabilität und Erdung. Wenn jemand in einer akuten Psychose und/oder manisch ist, ist Meditation unmöglich. Das sind aber extreme Krankheitszustände. Für die meisten gilt die Frage: Welchen Weg wähle ich? Generell kann man sagen, dass es in Phasen, in denen man sehr aufgewühlt ist, besser ist, mit offenen Augen zu meditieren oder eine meditative Bewegungsform zu wählen, die erdet. Eine Meditationsform wie Zen oder Vipassana, die eher konfrontierend und aufdeckend wirkt, ist nicht für jeden zu jedem Zeitpunkt geeignet.
Es gibt zahlreiche Forschungen zu Meditation. Welche Fragestellung liegt Ihnen am Herzen?
Mich interessiert, wie Achtsamkeit uns helfen kann, mehr Bewusstheit zu entwickeln für das, was wir tun und wie wir es tun. Wir sind eine sehr unbewusste Gesellschaft und haben wenig Gewahrsein dafür, wie wir unsere Kultur, unser Bildungs- und Medizinsystem gestalten. Achtsamkeit ist der Kern jedes Bewusstseins. Wenn ich einen inneren Beobachter habe, muss ich nicht wie ferngesteuert reagieren, ich kann auch gar nicht oder anders handeln und mich aus alten Fixierungen lösen. Wer Achtsamkeit intensiv praktiziert, entdeckt einen stillen weiten Raum, in dem Verbundenheit, Frieden, Gelassenheit, Liebe spürbar ist. Wir brauchen eine innere Kompetenz und Größe, um dem äußeren Fortschritt gewachsen zu sein und ihm etwas Inneres entgegensetzen zu können, was genauso mächtig ist. Wir können in den Weltraum fliegen, aber wir brauchen auch die Fähigkeit, den Weltinnenraum, wie Rilke es ausgedrückt hat, zu erforschen. Es braucht ein tieferes inneres Lauschen: Was ist Menschsein? Was geht, was geht nicht? Was ist gut für uns? Das ist das revolutionäre Potenzial von Meditation.
Joachim Galuska ist ärztlicher Direktor und Mitbetreiber der Heiligenfeld-Kliniken für psychosomatische Medizin in Bad Kissingen