Plötzlich spielte das Herz nicht mehr mit. Kurz nachdem Arthur Sauerwald seine Arbeit verloren hatte, erlitt er einen Infarkt. Lange Jahre hatte er für seinen Chef geschuftet, in der kleinen norddeutschen Firma Paletten und Kisten gebaut. Wie ein Sklave fühlte er sich in dieser Zeit behandelt, hatte sogar nebenbei das Auto des Chefs gewaschen. Stillgehalten, die cholerischen Attacken und den ständigen Stress ertragen. Alles, um seine Familie zu versorgen. Damit die Töchter studieren konnten. Dann fand er…
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Familie zu versorgen. Damit die Töchter studieren konnten. Dann fand er den Mut und bot seinem Chef Paroli. „Ich wollte die Wahrheit sagen.“ Als Reaktion kam die fristlose Entlassung. Und das war dann zu viel. Kurze Zeit später hatte er den Herzinfarkt. „Ich konnte plötzlich nicht atmen, habe keine Luft gekriegt, als säße ein dicker Kloß im Hals“, erzählt er. „Meine Frau rief den Notarzt. Zum Glück war nach fünf Minuten der Krankenwagen da. Es war sehr knapp.“
Sein Psychologe aus der Mühlenbergklinik im norddeutschen Malente, Dieter Benninghoven, kennt viele solcher Geschichten. Typisch sei bei einem Großteil seiner Patienten „eine bestehende Spannung oder depressive Stimmung. Dazu kommt dann ein akut belastendes Ereignis, und schon haben wir eine besonders kritische Situation, die einen Herzinfarkt begünstigt.“
Eine Erfahrung, die die Forschung der vergangenen Jahre bestätigt. „Für etwa jeden dritten Herzinfarkt sind seelische Ereignisse verantwortlich, zum Beispiel Depressionen, beruflicher oder privater Stress oder auch der Verlust eines geliebten Menschen. Das zeigen zahlreiche Untersuchungen“, sagt Christiane Waller, die sich als leitende Oberärztin an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm mit dem Verbindungsgeflecht von Herz und Psyche befasst. „Wir wissen heute, dass psychosoziale Belastungsfaktoren das Risiko für eine koronare Herzkrankheit ähnlich stark erhöhen wie etwa das Rauchen oder Störungen im Fettstoffwechsel. Aber im Vergleich zu den klassischen Risikofaktoren ist der Einfluss psychosozialer Faktoren lange Zeit unterschätzt worden.“
Die Interheart-Studie zeigte schon im Jahr 2004, dass Leistungsdruck und Stress als Risikofaktoren genauso bedeutsam sind wie Rauchen, Bluthochdruck und Übergewicht oder Diabetes. Dafür hatten die Forscher Herzinfarktpatienten aus 52 Ländern untersucht. Sie fanden überall das gleiche Bild.
Aber wie wirkt der Stress im Körper? Er beeinflusst dort zahlreiche Prozesse, die eigentlich dafür da sind, unser Überleben zu sichern. Wie schon vor Tausenden von Jahren, als unsere Vorfahren noch vor Säbelzahntigern flüchten mussten, schüttet unser Körper bei Angst und Anspannung Stresshormone aus. Das ist zunächst Adrenalin und dann zeitversetzt Kortisol. Die akute Stressreaktion des Körpers soll die Leistungsfähigkeit steigern, uns bei der Flucht helfen: Die Gefäße weiten sich, Blutdruck und Pulsfrequenz steigen, das Blut zirkuliert schneller und versorgt Muskeln und Gehirn mit Sauerstoff. Gleichzeitig wird die Blutgerinnung gesteigert, damit der Mensch im Notfall einer Verletzung nicht verblutet.
Doch das Problem ist: Bei Dauerstress verkehren sich all diese Reaktionen ins Gegenteil. Die Gefäße verengen und versteifen sich, und es kommt dadurch schneller zu Ablagerungen von Fett und Kalk, zu Arteriosklerose in den Adern. Damit wiederum steigt das Risiko für einen Herzinfarkt.
Der Mythos von der „Managerkrankheit“
In der Rehaklinik erhält Arthur Sauerwald zum ersten Mal eine Ahnung davon, dass seine Psyche wohl an dem Herzinfarkt beteiligt war. Er ist erstaunt, weil er sich nicht für den typischen Patienten hält. Sicher, er habe Stress gehabt, aber er sei ja weder Manager einer großen Firma noch wöchentlich um die Welt gejettet. Doch der Gemeinplatz, dass vor allem die Angestellten in den Topetagen infarktgefährdet seien, gilt in der Forschung inzwischen als widerlegt. „Wir haben lange gedacht, dass der Herzinfarkt die typische Managerkrankheit ist“, sagt der Psychologe Dieter Benninghoven. „Inzwischen wissen wir, dass das eher nicht stimmt. Das ist ein Mythos.“
Jemand, der in der Hierarchie weiter unten angesiedelt ist, hat ein genauso hohes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, wie ein Topmanager, vielleicht sogar ein höheres. Das legt eine große britische Langzeituntersuchung mit öffentlichen Bediensteten nahe. In der Whitehall-Studie, die mehr als 10 00 Angestellte von britischen Behörden über einen Zeitraum von durchschnittlich elf Jahren begleitete, stellten die Forscher fest, dass Männer und Frauen in höheren Positionen, also mit einem größeren Entscheidungsspielraum im Job, kein höheres Risiko für einen Infarkt haben als Beschäftigte mit ganz durchschnittlicher Arbeitsverantwortung.
Und mit noch einem Mythos räumen die Forscher auf: Früher dachte man, herzgefährdet sei vor allem ein ganz bestimmter Persönlichkeitstyp, die sogenannte „Typ A“-Persönlichkeit: ehrgeizig, ruhelos, karrierebewusst. Die beiden Kardiologen Meyer Friedman und Ray H. Rosenman hatten diesen TypA im Jahr 1959 als besonders infarktgefährdet charakterisiert. „Dies stimmt so nicht mehr“, sagt Bernd Löwe, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie aus Hamburg. „Zahlreiche, auch längerfristige Studien konnten die Typ-A-Persönlichkeit nicht als Risikofaktor für Herzerkrankungen bestätigen.“
Dennoch könnte das Merkmal „Ärger“ weiterhin eine Rolle spielen. Besonders gefährdet scheinen Personen zu sein, die ihren Ärger entweder gar nicht oder nur in Gestalt heftiger Wutausbrüche ausdrücken können. Eine Metastudie der US-Forscher Elizabeth Mostofsky, Elizabeth Penner und Murray Mittleman untermauert die Vermutungen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen intensiven negativen Emotionen und dem Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall gibt. Die Auswertung zeigt darüber hinaus, dass bei Personen, deren Blutgefäße in Herz oder Hirn bereits geschädigt sind, schon kurze Attacken von psychischem Stress in Form von Wutausbrüchen lebensgefährlich sein können. Die Forscher berechneten, dass in den zwei Stunden, die auf einen Wutanfall folgen, das Risiko für einen Herzinfarkt um nahezu das Fünffache, die Gefahr eines Hirninfarkts um mehr als das Dreifache steigt. Das Risiko eines platzenden Aneurysmas im Kopf steigt laut den Berechnungen in der Stunde nach einem Wutanfall sogar um mehr als das Sechsfache. Die Gefühlsausbrüche können laut der Studie auch zu Herzrhythmusstörungen führen.
Depression: die doppelte Gefahr
In seiner Klinik beobachtet Dieter Benninghoven, dass Menschen in bestimmten Lebensabschnitten besonders herzgefährdet sind. Typisch sei etwa, dass ein Infarkt beim Übergang vom Berufsleben zur Rente passiert. „Das finden wir klinisch häufig“, sagt er. „Meist kommt dann auch noch eine Depression hinzu, weil die Neuorientierung nicht gelingt.“
Wie Depressionen auf das Herz wirken, auch das hat man in den vergangenen Jahren vermehrt untersucht. Professor Christoph Herrmann-Lingen leitet in Göttingen eine renommierte Forschungsgruppe zur Psychokardiologie, der Disziplin, die das Wechselspiel von Herz und Psyche untersucht. Dabei haben sie zum Beispiel die interessante Erkenntnis gewonnen, dass Depressionen bei Herzpatienten oftmals ein anderes biologisches Erscheinungsbild haben als bei Menschen mit der Grunderkrankung Depression. Normalerweise haben Patienten bei einer Depression einen erhöhten Spiegel des Stresshormons Kortisol. Bei depressiven Herzpatienten hingegen ist der Kortisolspiegel niedrig. „Wahrscheinlich ist es bei Herzpatienten eine Depression aus einer vitalen Erschöpfung heraus: Die Vorgänge, die den Stress normalerweise kompensieren sollen, sind erschöpft. Deshalb verringert sich der Kortisolspiegel“, vermutet Christoph Herrmann-Lingen.
Eine Studie von Christiane Waller mit ihrer Arbeitsgruppe am Ulmer Klinikum stützt diese Theorie. Die Forscher unterzogen vier Probandengruppen – Gesunde, Patienten mit Herzerkrankungen, depressive, aber herzgesunde Menschen sowie depressive und herzkranke Patienten – einem sozialen Stresstest. Dieser bestand darin, vor unbekanntem Publikum eine freie Rede zu halten und verschiedene schwere Rechenaufgaben zu lösen. Üblicherweise schnellt unter einer solchen Anspannung der Spiegel des Stresshormons Kortisol im Blut in die Höhe. „Kortisol erfüllt bei Stress eine wichtige schützende Aufgabe im Körper: Es wirkt dämpfend auf Entzündungsvorgänge und Autoimmunprozesse“, erklärt Waller. Genau diesen biologischen Schutzreflex fanden die Forscher bei den depressiven Probanden ohne Herzerkrankung: Bei ihnen lagen die Kortisolwerte am höchsten. Deutlich weniger stiegen sie bei Herzpatienten an. Und am geringsten war der Kortisolspiegel bei den Teilnehmern, die sowohl unter Depressionen als auch unter einer koronaren Herzerkrankung litten.
„Depressionen gehen mit einer erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Kortisol einher“, erklärt Waller. „Ein Zuviel des eigentlich schützenden Kortisols führt langfristig allerdings zu einer vermehrten Fettablagerung in den Gefäßen und zur Arterienverkalkung. Damit steigt für depressive Patienten das Risiko, eine koronare Herzerkrankung zu entwickeln.“ Die aktuelle Studie zeigt nun: Sobald zur Depression diese Schädigung der Herzarterien hinzukommt, verkehrt sich die Kortisolausschüttung – sie nimmt ab. „Warum das so ist, ist bislang noch nicht geklärt“, so Waller. Die fatale Folge ist jedoch, dass durch den Kortisolmangel wiederum entzündliche Prozesse begünstigt werden, die zu einer Verschlechterung der Herzerkrankung beitragen und das Risiko für akute Gefäßverschlüsse und Herzinfarkte erhöhen.
Kortisol könnte also dafür verantwortlich sein, dass Depressionen mit einem erhöhten Risiko für Herzkrankheiten einhergehen und diese bei depressiv Erkrankten zudem häufiger tödlich verlaufen. „Vor allem Depressionen, die aufgrund von chronischem Stress auftreten, erhöhen das Risiko für Herzerkrankungen“, sagt Christiane Waller, die Forscherin aus Ulm. Und auch Patienten, die bereits herzkrank sind und eine Depression entwickeln, haben ein deutlich höheres Risiko, früher zu sterben als Nichtdepressive mit Herzleiden.
Hilft Psychotherapie dem depressiven Herzen?
Doch die Hoffnung, depressive Herzpatienten mithilfe von Psychotherapie zu heilen, hat sich bisher leider nicht erfüllt. Gerade ging eine große Studie der Göttinger Wissenschaftler mit einer Enttäuschung zu Ende. In der SPIRR-CAD-Studie hatten die Forscher getestet, ob schrittweise Psychotherapie die depressiven Symptome lindert. In zehn Kliniken bundesweit wurde dies überprüft. Eine Therapie aus tiefenpsychologischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Bausteinen bildete die Basis der Behandlung. 285 depressive Koronarpatienten hatten zunächst drei Einzelsitzungen und bei Fortbestehen der Depression zusätzlich 25 Stunden Gruppentherapie. Die Wirkung verglichen die Forscher mit einer gleich großen Gruppe depressiver Herzpatienten, die keine Psychotherapie erhalten hatten. Ernüchterndes Ergebnis: Insgesamt, auf die Gruppe bezogen, sah man keinen deutlichen Effekt. Nur bei jenen Menschen, die besonders stark von negativen Gefühlen belastet waren, zeigte sich bei 60 Prozent ein Rückgang der Depression. Herrmann-Lingen: „Wir hätten erwartet, dass es bei allen besser hilft. Aber es bleibt eine Reihe von Leuten depressiv.“
Die Forscher verweisen aber auf eine andere Spur: Körperliche Aktivität hilft, wie kleine erfolgversprechende Studien zeigen. Sobald man vom Sofa runterkommt, verbessert sich die depressive Symptomatik. Bewegung muss also ein Teil der multimodalen Therapie sein, fordern die Wissenschaftler. Vielleicht ist sie deshalb hilfreich, weil sie Alltagsstress entgegenwirkt. „In erster Linie sind Herzkrankheiten Stresskrankheiten“, resümiert Herrmann-Lingen, „man sollte daher nicht einseitig auf die Depressionen schauen, die ja auch oft eine Stressfolge sind. Es ist vielversprechender, die Stressanfälligkeit zu verringern, um den Verlauf der Herzkrankheit und zugleich auch das seelische Befinden zu verbessern.“
Doch bis heute wird das Wissen um die enge Verflechtung zwischen Herz und Psyche von manch einem Kardiologen noch nicht so ernst genommen, wie es angemessen wäre. Es ist ja sicherlich auch einfacher, einem Herzkranken kardiologische Medikamente zu verschreiben, als lange mit ihm zu sprechen und ihn zu überzeugen, psychologische Hilfe anzunehmen, vielleicht sogar Psychopharmaka zu erwägen. Viele Patienten ahnen zwar die seelischen Auslöser ihrer Krankheit, fühlen sich aber damit allein gelassen. Zu wenige Kliniken kümmern sich um ganzheitliche Ansätze, die die körperliche und seelische Seite gleichwertig behandeln.
Dabei spielt gerade für Menschen, die bereits herzkrank sind, die Psyche eine entscheidende Rolle. Denn nach einem überstandenen Herzinfarkt entwickelt etwa jeder Dritte leichte bis mittelschwere, jeder Sechste schwere Depressionen. Für junge Menschen ist der Schock, dem Tod ins Auge geblickt zu haben, ein besonders großes Problem. Einige von ihnen steigern sich in eine starke Angst hinein, wieder einen Infarkt zu bekommen.
Doch Stress, Angst und Depression sind nicht das einzige Gift für unser schlagendes Organ. Auch Einsamkeit geht ans Herz. Wissenschaftler der University of York haben jüngst 23 Studien mit insgesamt 181 00 Erwachsenen analysiert. Bei Menschen mit fehlenden sozialen Kontakten traten Herzinfarkt oder andere koronare Ereignisse zu 29 Prozent häufiger auf als bei anderen. Das betrifft sowohl Männer als auch Frauen. Demnach hat Einsamkeit einen genauso starken Effekt wie eine zu hohe psychische Belastung am Arbeitsplatz oder die Folgen von Angst. Allerdings muss dieser Zusammenhang erst noch in Langzeitstudien bestätigt werden.
Von gebrochenen und glücklichen Herzen
Besonders deutlich zeigt sich die enge Verflechtung von Herz und Seele bei einem außergewöhnlichen Phänomen. Es gibt Menschen, die nach dem Tod eines nahen Angehörigen zusammenbrechen, mit Schmerzen in der Brust und Luftnot: Anzeichen eines Herzinfarkts! Doch in der Klinik stellt sich dann heraus: Das EKG ist zwar verdächtig, doch die Herzkranzgefäße sind nicht mal ansatzweise verstopft. Dann ist das ein sogenanntes Broken-Heart-Syndrom. Es trifft überwiegend ältere Frauen nach der Menopause. Wissenschaftler vermuten, dass die extreme Belastung der Betroffenen das vegetative Nervensystem besonders stark aktiviert. Das bewirkt wohl eine massive Ausschüttung von Stresshormonen ins Blut, die wiederum die Herzwand überreizen, vor allem in der Nähe der Herzspitze. Daraufhin verkrampft der Herzmuskel – und die Symptome ähneln denen eines Herzinfarkts.
Entgegen häufiger Annahmen ist das „gebrochene Herz“ nicht ungefährlich. Ernsthafte Komplikationen können sich gerade in den ersten Stunden entwickeln, etwa ein kardiogener Schock oder starke Herzrhythmusstörungen. Die gute Nachricht: Anders als beim Herzinfarkt bleibt beim Broken-Heart-Syndrom in der Regel keine Narbe oder Funktionsstörung des Herzmuskels zurück, wenn die akute Phase überstanden ist.
Übrigens können nicht nur gebrochene Herzen zur Gesundheitsgefahr werden, sondern auch glückliche. Laut einer neuen Studie von Jelena Ghadri und ihrem Team an der Universität Zürich können die Symptome des Broken-Heart-Syndroms auch von positiven emotionalen Ereignissen hervorgerufen werden. Die meisten der 485 befragten Patienten mit diesem Syndrom führten die Herzprobleme auf negative Emotionen zurück. Auslöser waren Stress oder Trauer, die von Todesfällen, Unfällen oder schlimmen Sorgen herrührten. Vier Prozent jedoch vermuteten ein freudiges Ereignis wie eine Geburtstagsparty, Hochzeit oder die Geburt eines Enkelkindes als Auslöser. Das war dann ein „Happy-Heart-Syndrom“.