Wer zu einem Psychotherapeuten geht, darf mit baldiger Besserung seiner Leiden rechnen – das versprechen jedenfalls die Vertreter der Zunft. „Psychotherapie ist wirksam“, verkündet zum Beispiel die Bundespsychotherapeutenkammer und ergänzt: „Je länger, umso besser.“ Auch ein Beitrag im Branchenblatt Der Nervenarzt zeugt nicht von falscher Bescheidenheit. „Die Psychotherapie zählt zu den wirksamsten Verfahren in der Medizin“, versichert das Autorenteam um Professor Ulrich Schnyder von der Universität Zürich.…
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das Autorenteam um Professor Ulrich Schnyder von der Universität Zürich. Man verfüge heute über wissenschaftlich belegte Therapiewirkungen „für fast alle psychiatrischen Störungsbilder“.
Leider sind solche selbstbewussten Statements, die gerne mit Forderungen nach mehr Geld für die Branche verbunden werden, viel zu optimistisch, wie Emily Holmes von der Universität Cambridge und Michelle Craske von der University of California in Los Angeles im Wissenschaftsmagazin Nature konstatieren. „Für einige Krankheiten, etwa die bipolare Störung (manische und depressive Phasen wechseln sich ab, d. Red.), sind psychologische Behandlungen nicht effektiv oder stecken in den Kinderschuhen“, bedauern die beiden angesehenen Therapieforscherinnen. „Bei Ängsten und Zwängen beispielsweise hilft die Konfrontationstherapie fast der Hälfte der Leute nicht, und eine beachtliche Minderheit erlebt einen Rückfall.“ Auch bei Suchterkrankungen sieht es nicht viel besser aus. Nur gut die Hälfte der behandelten Alkoholiker ist anderthalb Jahre nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in einer deutschen Suchtklinik noch trocken.
Geradezu verzweifelt ist die Lage beim Kampf gegen hohes Übergewicht – einen der großen Killer in reichen und zunehmend auch in armen Ländern. Da sich den gefährlichen Pfunden praktisch nur mit einschneidenden Verhaltensänderungen – mehr Sport, gesünder essen – beikommen lässt, sind die Chancen ohne psychologische Unterstützung gering. Mit allerdings auch. Die ersten Abnehmprogramme prominenter Psychologen in den 1970er Jahren wurden zwar als Erfolg verkauft, doch in Wirklichkeit brachten sie kaum etwas. Einen der jüngsten Versuche von führenden Experten kommentiert Kelly Brownell von der Duke University in Durham so: „Ein weiteres gutes Forscherteam wurde in die Knie gezwungen von einem Problem, das der Behandlung einfach trotzt.“
Am besten fasst die Lage vielleicht Steven Hollon zusammen. „Psychotherapie wirkt schon“, sagt der renommierte Depressionsspezialist von der Vanderbilt University in Nashville, „sie wirkt nur nicht so gut, wie man denken würde, wenn man die Fachliteratur liest.“ Denn was in der Fachliteratur steht, ist manipuliert, wie Hollon und viele andere Wissenschaftler nachgewiesen haben. Die Erforscher psychologischer Therapien haben geschummelt. Einen Beleg dafür lieferte Hollon zusammen mit Ellen Driessen und Pim Cuijpers, beide Professoren an der Freien Universität Amsterdam. Das Team wollte wissen, was in den 55 Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Depressionen herausgekommen war, die von der nationalen Gesundheitsbehörde der USA zwischen 1972 und 2008 finanziell gefördert worden waren. Sie stellten fest: Die Ergebnisse beinahe jeder vierten Studie wurden nie veröffentlicht. Das Team fragte deshalb bei den Forschern der verschwiegenen Studien nach. Wie sich zeigte, schnitt die Therapie in den verheimlichten Studien wesentlich schlechter ab als in den veröffentlichten. Würden alle berücksichtigt, müsste die Erfolgsbilanz dieser Depressionsbehandlung also deutlich nach unten korrigiert werden – und fiele noch negativer aus als die für die Behandlung mit Antidepressiva.
Tricks und methodische Mängel
Es werden aber nicht nur die Resultate enttäuschender Studien verschwiegen. Die anscheinend erfolgreichen Behandlungsstudien verdanken ihre guten Zahlen oft vor allem großzügigen Untersuchungsmethoden der Forscher. Als Cuijpers, Hollon und andere sich 115 Depressionsstudien genauer ansahen, erwiesen sich 104 als mehr oder weniger schlecht gemacht. Dafür suggerierten sie gute Erfolge: Die Behandlung half scheinbar jedem zweiten Depressiven. Die elf guten Studien bewiesen etwas anderes: Nur einer von acht Patienten hatte wirklich viel von der Therapie.
Die Probleme betreffen keineswegs nur die Behandlung von Depressionen, sondern viele Therapien. „Die Fachliteratur zur Psychotherapie ist derzeit von zu schlechter Qualität, als dass sie eine verlässliche Hilfe für Therapeuten, Patienten und Verantwortliche in den Entscheidungsgremien wäre“, wettert der Psychologieprofessor James Coyne von der University of Pennsylvania in Philadelphia in einem „Manifest“.
Gut für die Ergebnisse, aber fatal für die Patienten ist eine häufig praktizierte Herangehensweise. Ein Teil der Kranken wird gleich behandelt, ein anderer Teil kommt erst einmal auf eine Warteliste und dient als Vergleichsgruppe. Doch das Warten schadet dem Patienten. Es signalisiert ihm, dass erst einmal keine Besserung zu erwarten ist, weil die Therapie ja erst noch kommt. Das führte zu einem umgekehrten Placeboeffekt, kritisiert der Professor für Psychiatrie Mathias Berger von der Universität Freiburg, „weil dem Patienten ja gesagt wird: Du kriegst nichts, du musst warten“.
So bescheiden die Erfolge von Psychotherapie in vielen Studien sind – im echten Leben sind sie wahrscheinlich noch geringer. Denn die meisten Studien werden an Universitätskliniken gemacht. Da kontrollieren die Forscher, ob die Therapeuten richtig behandeln. Vor allem aber wählen sie die Patienten sorgfältig aus. Wer an gleich mehreren Störungen leidet, wird oft nicht aufgenommen, obwohl das fast die Regel ist.
Wenn Forscher ausnahmsweise überprüfen, wie gut Therapien unter eher normalen Umständen helfen, fallen die Ergebnisse oft noch kläglicher aus. So verschwand die Depression bei nicht einmal jedem Vierten der Patienten, die in drei psychiatrischen Klinikambulanzen in Amsterdam behandelt wurden.
Psychotherapie: besser als Tabletten?
Bei einigen Störungen hilft Psychotherapie wahrscheinlich nicht besser als Medikamente, wie neue Studien zeigen. So versuchten sieben deutsche Kliniken in den letzten Jahren, gut 400 Erwachsenen zu helfen, die ähnliche Probleme hatten wie zappelige Kinder – sie litten an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Ein Teil nahm an 22 zweistündigen Gruppentherapiesitzungen teil, in denen sie von Gefühlskontrolle über Stressmanagement bis hin zu Achtsamkeit alle möglichen therapeutischen Techniken lernten. Andere schauten wie bei einem Arztbesuch gelegentlich auf eine Viertelstunde bei einem Studienleiter vorbei. Da konnten sie Probleme ansprechen, Psychotherapie erhielten sie jedoch nicht. Doch das machte kaum einen Unterschied – beiden Gruppen ging es nach einem Jahr etwas besser. Wirklich aufwärts ging es jedoch mit denen, die ein Medikament gegen AHDS bekamen – mit oder ohne Psychotherapie. Ähnlich war vor etlichen Jahren schon eine vergleichbare große Studie mit ADHS-geplagten Kindern ausgegangen. Auch bei Depressionen schneidet Psychotherapie im Vergleich mit Medikamenten enttäuschend ab. Auf kurze Sicht wirkt sie ähnlich schlecht oder vielleicht sogar noch etwas weniger. Ihre Fürsprecher argumentieren, dass sie dafür aber langfristig schütze, während Medikamente nur so lange greifen, wie die Patienten sie nehmen. Doch auch darauf ist kein Verlass. Zumindest bei Kindern und Jugendlichen ist nach einem Jahr kein Nutzen mehr nachzuweisen.
Schlechte Noten für kognitive Therapien
Ernüchternd sind besonders die neueren Resultate zur führenden psychologischen Behandlung von Depressionen bei Erwachsenen. In der kognitiven Verhaltenstherapie lernen die Patienten, negative Gedanken über sich und die Welt durch realistischere zu ersetzen, und sie üben, wieder am Leben teilzunehmen. Oddgeir Friborg von der Arctic University of Norway analysierte nun den Trend in 70 Studien. Als die Therapie Ende der 1970er Jahre neu war, glänzte sie – zumindest auf dem Papier. Doch seither ging es stetig bergab. Heute hilft sie gerade noch halb so gut.
Ein Teil der frühen Erfolgsmeldungen kam sicher daher, dass die ersten Studien nicht streng genug durchgeführt und oft nur die positiven Resultate veröffentlicht wurden. Doch es gibt wohl auch andere Gründe. Möglicherweise waren die Therapeuten früher besser in der Behandlung ausgebildet – manche hatten sie selbst mitentwickelt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Patienten heute nicht mehr so sehr an die Therapie glauben wie seinerzeit. Damals „wurde kognitive Verhaltenstherapie oft als Goldstandard für die Behandlung zahlreicher Störungen präsentiert“, blickt Friborg zurück. Doch die Studienergebnisse wurden immer schlechter, und die Patienten konnten sie im Internet nachlesen. Daher ist es für Friborg „nicht unvorstellbar, dass das Vertrauen und der Glaube an die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist“.
Dafür avancierte das „Verändern verzerrten Denkens“ in den letzten Jahren zu einem neuen Star unter den Psychotherapien. Zum Beispiel wurde CBM, wie die Methode nach der englischen Bezeichnung cognitive bias modification abgekürzt wird, zur „neuen klinischen Waffe“ ausgerufen. Bei dem Verfahren wird versucht, schädliche automatische Verzerrungen des Denkens oder der Aufmerksamkeit umzutrainieren. Führende Fachzeitschriften druckten euphorische Berichte. Doch jetzt sind viele Forscher frustriert. „Die klinische Wirksamkeit von CBM ist bislang enttäuschend“, resümiert Ernst Koster von der belgischen Universität Gent. So lässt sich – von einigen Ausnahmestudien abgesehen – nicht belegen, dass CBM tatsächlich gegen Ängste hilft. Zu diesem Resultat kam Ioana Cristea im Jahr 2015 im British Journal of Psychiatry. Das gleiche Bild erhielt sie für die Versuche, Depressionen mit dem Verfahren zu behandeln.
Noch die besten Chancen hat CBM im Kampf gegen den Alkohol. In einer deutschen Rehaklinik absolvierten Hunderte von Patienten zusätzlich zum normalen Klinikprogramm ein CBM-Training. Ein Jahr später waren 59 Prozent der so Trainierten immer noch trocken, ohne das Training schafften das nur 46 Prozent. Als der Versuch wiederholt wurde, waren die Ergebnisse ähnlich gut.
Die Psychotherapie hilft – wenn auch längst nicht allen und bei weitem nicht so gut, wie ihre Protagonisten versprechen. Bisher wird aber auch nicht viel in ihre Verbesserung investiert. In der Europäischen Union werden weniger als zwei Prozent der Gelder für medizinische Forschung für psychische Erkrankungen ausgegeben und nur ein Bruchteil davon für die Entwicklung psychologischer Therapien. Mit mehr Geld könnten Forscher die Behandlungen vielleicht so verbessern, dass sie wirken, wie die Therapeuten es jetzt schon versprechen.
Literatur
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Ioana A. Cristea, Robin N. Kok, Pim Cuijpers: Efficacy of cognitive bias modification interventions in anxiety and depression: meta-analysis. The British Journal of Psychiatry, 2015, 206/1, 7-16; DOI: 10.1192/bjp.bp.114.146761
Emily A. Holmes, Michelle G. Craske: Ann M. Graybiel: Psychological treatments: A call for mental-health science. Nature 2014, 511, 287–289, doi:10.1038/511287a
Kelly D. Brownell: The humbling experience of treating obesity: Should we persist or desist? Behaviour Research and Therapy, 2010, 48/8, 717-719, doi:10.1016/j.brat.2010.05.018
Ellen Driessen, Steven D. Hollon, Claudi L. H. Bockting, Pim Cuijpers, Erick H. Turner: Does Publication Bias Inflate the Apparent Efficacy of Psychological Treatment for Major Depressive Disorder? A Systematic Review and Meta-Analysis of US National Institutes of Health-Funded Trials. PLOS One, 2015, DOI: 10.1371/journal.pone.0137864
P. Cuijpers, A. van Straten, E. Bohlmeijer, S. D. Hollon and G. Andersson: The effects of psychotherapy for adult depression are overestimated: a meta-analysis of study quality and effect size. Psychological Medicine 2010, 40:211-223, doi:10.1017/S0033291709006114
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