Stumme Gefährten

Meist sind sie einfach nur da, unsichtbar und schweigsam. Was steckt hinter dem Eindruck mancher Menschen, einem stummen Begleiter zu haben?

Endlich muss ich in einen unruhigen, albtraumdurchwobenen Schlummer gefallen sein; und langsam aus ihm erwachend, noch halb versunken in Träumen, öffnete ich die Augen. Das zuvor sonnenbeschienene Zimmer war jetzt von Dunkelheit umhüllt. Augenblicklich spürte ich, wie ein Schrecken meinen gesamten Körper durchlief. Nichts war zu sehen, und nichts war zu hören; doch eine übernatürliche Hand schien auf der meinen zu ruhen. Mein Arm lag auf der Decke, und die namenlose, unvorstellbare, stumme Gestalt oder…

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Arm lag auf der Decke, und die namenlose, unvorstellbare, stumme Gestalt oder Erscheinung, zu der die Hand gehörte, schien nah an meiner Bettseite zu sitzen … Ich weiß nicht, wie dieser Sinneseindruck schließlich entschwand, doch als ich am Morgen aufwachte, erinnerte ich mich an alles, und tage- und wochenlang verlor ich mich in wechselnden Versuchen, den rätselhaften Vorfall zu erklären. Ja bis zum heutigen Tag zerbreche ich mir darüber oft den Kopf. Herman Melville: Moby Dick

Da ist jemand; an deiner Seite oder genau hinter dir. Ein Empfinden, ein Eindruck von einer Person oder Instanz, unhörbar und unsichtbar. Eine solche Begegnung ist eine der ungewöhnlichsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, und dennoch auch eine, die vielen von uns vertraut ist. Diese Erlebnisse, im Fachjargon als „gefühlte Präsenzen“ (sensed presences) oder „extracampine Halluzinationen“ bezeichnet, werden in einer Vielzahl von Quellen und Kontexten beschrieben, zum Beispiel in Todesnähe, bei Trauernden, während besonderer Schlafzustände oder bei neurologischen Störungen.

In der eingangs zitierten Passage aus Moby Dick beschreibt Melville eine gefühlte Präsenz beim Erwachen aus dem Schlaf. Überhaupt ist eine ganze Palette von außergewöhnlichen Erlebnissen in dem Niemandsland zwischen Schlaf und Wachen angesiedelt, einschließlich kurzen Schüben von Bildeindrücken und Sprachfetzen beim Einschlafen (hypnagoge Halluzinationen) oder Fragmenten von Träumen beim Erwachen (hypnopompe Halluzinationen).

Gefühlte Präsenzen sind eine häufige Begleiterscheinung der Schlafparalyse, eines Phänomens, mit dem ein Drittel der Bevölkerung irgendwann im Leben Bekanntschaft macht: Beim Erwachen aus dem Schlaf haben sie den Eindruck, ihr Körper sei gelähmt. Selbst das Atmen fällt ihnen schwer. Viele beschreiben, dass sie während dieser Lähmung das intensive Gefühl hatten, dass jemand oder etwas mit ihnen im Raum gewesen sei, oft an einer ganz bestimmten Stelle. Bisweilen schien sich diese Präsenz auf den Betreffenden zuzubewegen, und in manchen Fällen setzte sie sich als beklemmendes Druckgefühl auf den Brustkorb und hinterließ ein namenloses Grauen. Dämonenartige Nachtmahre, Inkuben und Sukkuben, wie sie in Volksüberlieferungen geschildert werden, sind möglicherweise auf solche Erlebnisse während einer Schlafparalyse zurückzuführen.

Doch auch von wohlwollenden Begegnungen wird berichtet. Die vielleicht häufigsten Beispiele stammen von Menschen, die einen akuten Trauerfall zu beklagen haben.

In einer Überblicksarbeit kamen Paolo Castelnovo und seine Kollegen von der Universität Mailand unlängst zu dem Ergebnis, dass Trauer in bis zu 60 Prozent der Fälle von irgendeiner Art von halluzinatorischen Erlebnissen begleitet war. Von diesen entfielen 32 bis 52 Prozent auf gefühlte Präsenzen. Vor allem im ersten Monat nach dem Verlust berichteten die Trauernden oft von heftigen Gefühlen gegenüber der verstorbenen Person, die ihnen noch immer anwesend erschien. In einigen Fällen kann dieser Zustand jahrelang anhalten.

Im Gegensatz zu den ängstigenden Erlebnissen während einer Schlafparalyse werden die Präsenzerlebnisse bei Trauernden oft von einem Gefühl von Trost und Sehnsucht getragen.

Ähnlich freundliche Begegnungen sind von Menschen in extremen Situationen überliefert, in denen sie um ihr Leben kämpfen mussten. Sogenannte third man experiences – Schilderungen von unsichtbaren Führern oder Begleitern auf Polar- oder Hochgebirgsexpeditionen, während Schiffshavarien oder Naturkatastrophen – sind zahlreich (siehe Seite 68). Diese Präsenzen werden von denen, die sie erleben, meist als menschenfreundlich beschrieben und als nahe und verbunden empfunden. Bisweilen wird ihr Erscheinen von Geräuschen, gesprochenen Worten oder undeutlichen visuellen Eindrücken wie einem Schatten oder Umriss begleitet. Häufiger aber gehen sie mit keinerlei Sinneseindrücken einher. Gleichwohl scheint der „dritte Mann“ – wie auch bei anderen Präsenzen – typischerweise an einem bestimmten Ort lokalisiert zu sein. In manchen Fällen haben Menschen in existenzbedrohlichen Situationen den Eindruck, dass die Gestalt sie führt und aus der Gefahr geleitet.

Ein weiterer typischer Kontext von Präsenzerfahrungen sind neurologische oder psychiatrische Erkrankungen wie etwa Parkinson, die Lewy-Körper-Demenz oder Hirnverletzungen. Bei Parkinson sind sie ein häufiges Begleitphänomen; eine Studie von 2015 taxiert ihre Häufigkeit auf 50 Prozent. Parkinsonerkrankte schreiben ihren unsichtbaren Begleitern üblicherweise keine bestimmte Gemütsbewegung oder Absicht zu. Die Patienten lokalisieren sie meist neben oder unmittelbar hinter sich.

Gespürte Präsenzen gehen also meist nicht mit klaren Sinneseindrücken einher. Dennoch fühlen sie sich wie echte Wahrnehmungen an – anders als etwa die bloße Überzeugung, dass jemand anwesend sei.

Was geht da vor sich?

Obwohl sie in so unterschiedlichen Kontexten auftreten, legen ihre Ähnlichkeiten die Frage nahe, ob solchen Präsenzerscheinungen ein einheitlicher kognitiver und neurologischer Mechanismus zugrunde liegt. Grob kann man drei Erklärungshypothesen unterscheiden: Körperkartierung, Bedrohung und soziale Repräsentation.

Die gebräuchlichste Deutung geht davon aus, dass Präsenzen aus einer Art Riss in der mentalen Kartierung des Selbst resultieren, also der Repräsentation des eigenen Körpers im Gehirn. In Extremszenarien des Überlebenskampfes sind Präsenzerlebnisse nicht der einzige außergewöhnliche Bewusstseinszustand, von dem Betroffene berichten. Diese Grenzerfahrungen gehen mit einer ganzen Anzahl von „autoskopischen Phänomenen“ einher, zum Beispiel dem Gefühl, aus dem eigenen Körper herauszutreten, oder dem Eindruck, einem Doppelgänger zu begegnen. Da auch die unsichtbaren Begleiter für die, die sie wahrnehmen, einen Bezug zur eigenen Person zu haben scheinen, wurde vermutet, dass sie eine Art Außenprojektion des Selbst sein könnten, hervorgerufen durch extreme Situationen und großen Stress.

Dieser Gedanke wird von neuropsychologischen Befunden gestützt. Zwar können Präsenzen und ähnliche außergewöhnliche Erlebnisse nach einer Schädigung ganz unterschiedlicher Hirnregionen auftreten. Doch oft sind Areale betroffen, die mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers, seiner Lage und Bewegung zu tun haben, etwa der insuläre Kortex oder der Übergang von Schläfen- und Scheitellappen. Stimuliert man die letztgenannte Region auf elektrischem Wege, so kann man Präsenzerlebnisse sogar von außen herbeiführen – diesem Hirnareal scheint also eine Schlüsselrolle bei solchen Erscheinungen zuzukommen.

Was bei der Hypothese, Präsenzen beruhten auf einer fehlerhaften Körperkartierung, allerdings zu kurz kommt, sind die starken Affekte, von denen diese Erlebnisse oft begleitet werden. Vor allem Präsenzen während einer Schlafparalyse versetzen den Schlafenden in starke Furcht und Bedrängnis, begleitet von der Gewissheit, dass die Wesenheit, die da im Zimmer lauert, keine hehren Absichten verfolgt. Vor diesem Hintergrund geht James Allan Cheyne von der University of Waterloo davon aus, dass solche Präsenzerscheinungen am Rande des Schlafes aus dem Gefühl einer Bedrohung resultieren, die man irrtümlich in der Außenwelt ansiedelt. Er vermutet folgenden Mechanismus: Die Betreffenden erwachen langsam aus einere REM-Schlafphase. Doch während sie allmählich zu Bewusstsein kommen, haben sich die Begleiterscheinungen des REM-Schlafs noch nicht verflüchtigt, nämlich die Lähmung der Körpermuskulatur und das Traumerleben. Dies könnte ein aktivierendes Alarmsystem in Gang setzen, das dem Erwachenden Gefahr signalisiert und für den Eindruck verantwortlich ist, von einer übelwollenden Präsenz bedroht zu werden.

Andere Forschergruppen wiederum haben Präsenzerlebnisse als soziale Halluzinationen beschrieben, als eine Art reine, unvermittelte Wahrnehmung eines sozialen Gegenübers, losgelöst von Sinneseindrücken wie dessen Gesichtsausdruck oder Stimme. Tatsächlich wirken die unsichtbaren Akteure, die Personen während einer Präsenz erleben, als hätten sie eine eigene Identität. Bei Parkinsonerkrankten repräsentieren sie oft vertraute und bis vor kurzem anwesende Personen, die eben erst die Szene verlassen haben. Auch bei den Präsenzerlebnissen von Trauernden ist die fortdauernde Identität des Verstorbenen das Schlüsselelement.

Alle drei Erklärungen haben ihre Berechtigung. Wenn wir besser zu verstehen beginnen, wie Präsenzerlebnisse mit unseren mentalen Karten zusammenhängen, auf denen wir selbst und andere Personen räumlich repräsentiert sind, werden wir vielleicht auch mehr über ein anderes außergewöhnliches Phänomen erfahren: das Stimmenhören.

„Manchmal weißt du einfach, dass er da ist“

Hearing the Voice nennt sich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Durham University. Es wurde 2012 eingerichtet, um besser zu ergründen, wie und warum Menschen Stimmen hören, die sonst niemand hören kann (der Fachbegriff lautet: „auditorische verbale Halluzinationen“). An einem der ersten Forschungstreffen nahm Adam teil, ein Stimmenhörer. Adam beschrieb seinen „Sprecher“ mit den Worten: „Wissen Sie, manchmal braucht er gar nichts zu sagen; manchmal weißt du einfach, dass er da ist.“ Das heißt, Adam nahm die Stimme, die er so oft hörte, auch dann wahr, wenn sie still war; als ob sie eine Identität oder einen Urheber hätte, der auch ohne seine „übliche“ akustische Erscheinungsform anwesend sein konnte.

Die Phänomenologie dieses scheinbar paradoxen Phänomens wurde sorgsam untersucht und hat eine lange psychiatrische Vorgeschichte. Bereits vor einem Jahrhundert erwähnte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler solche „geräuschlosen Stimmen“ in seiner Aufzählung von Halluzinationen. Doch mit dieser Bezeichnung ist meist gemeint, dass jemand Worte in seinem Kopf vernimmt, ohne dass diese Worte über einen sinnlichen Höreindruck vermittelt werden. Hingegen war der Sprecher, von dem Adam berichtete, nicht nur auf akustischem Wege nicht zu hören, sondern er war tatsächlich stumm. Er glich also einer „gefühlten Präsenz“.

Obwohl derartige Erlebnisse von Stimmenhörern nicht allzu oft erwähnt werden, sind sie doch nicht einmalig. Es gibt durchaus anekdotische Schilderungen von Stimmen, die präsent sind, ohne zu sprechen. Auch stumm nehmen sie eine bestimmte Position im Raum ein, und in einigen Fällen scheinen sie an der Seite des Stimmenhörers auf die Welt zu „schauen“. In einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Umfrage des Hearing the Voice-Projekts beschrieben 69 Prozent der 153 konsultierten Stimmenhörer ihre Stimmen als charaktervoll und eigene Persönlichkeiten, und 66 Prozent verbanden ihre Stimmen mit außergewöhnlichen Körperempfindungen oder -veränderungen. In einigen Fällen wird sogar explizit auf ihre Präsenz hingewiesen: „Mir ist nie jemand mit einer so mächtigen Präsenz begegnet wie meine Stimmen. Sie sind laut und fühlen sich gewaltig an. Sie wirken sehr stark im Hier, wenn ich sie höre.“

In solchen Fällen scheint es nachvollziehbar, diese Stimmen nicht bloß als akustische Sinneserlebnisse aufzufassen, sondern als Präsenz im Sinne eines sozialen Akteurs. Diese Betrachtungsweise ist nicht unbedingt neu. Verschiedene psychotherapeutische Ansätze stellen die sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt, von denen die Stimmen auszugehen scheinen. Die Stimmenhörer-Bewegung selbst fordert seit langem ein Verständnis dieser Erfahrung, die anerkennt, dass die Betreffenden mit den Stimmen als bedeutungsvollen Instanzen interagieren.

Jedenfalls könnte die Erforschung solcher ungewöhnlicher Erfahrungen etwas Licht auf die kognitiven und neurobiologischen Mechanismen werfen, die den Erfahrungen von eigener und fremder Identität zugrunde liegen. Präsenzen zeigen uns die „anderen“, die wir die ganze Zeit über mit uns tragen, die stillen Begleiter, die uns führen oder jagen, unterstützen oder verwirren, trösten oder erschrecken.

Dr. Ben Alderson-Day ist Psychologe und Forschungsassistent an der Durham University in Nordengland. Im Rahmen des Projekts Hearing the Voice forscht er dort mit Menschen, die Stimmen hören.

Dieser Text ist ein leicht gekürzter Nachdruck des Beitrags The silent companions aus der Zeitschrift The Psychologist (29:4, 2016, pp. 272–275), bei der das Copyright für die englische Originalfassung liegt. Deutsche Übersetzung: Thomas Saum-Aldehoff für Psychologie Heute.

Shackleton und der vierte Mann

Wenn er später auf diese seltsame Tour am Rande des Todes zurückblickte, war Ernest Shackleton überzeugt, „dass die Vorsehung uns führte“. Soeben war der Polarforscher nach einer anderthalbjährigen Odyssee durch das Eis und das Eismeer der Antarktis mit einer Handvoll Männern auf der Insel Südgeorgien gestrandet. Mit ihrem winzigen Beiboot hatten sie eine 1500 Kilometer lange Höllenfahrt durch Sturm und Kälte zurückgelegt und waren schließlich, am Ende ihrer Kräfte, im Mai 1916 an der menschenleeren Südküste der Insel an Land gegangen. Nur noch ein letzter Marsch quer über die Insel lag vor ihnen, dann müssten sie einen der Walfangstützpunkte im Norden und damit endlich wieder einen Außenposten der Zivilisation erreicht haben. Von dort aus würden sie dann die Rettung ihrer Kameraden in die Wege leiten, der vollständigen Besatzung ihres havarierten und schließlich im Eis versunkenen Expeditionsschiffes Endurance. In einem improvisierten Lager auf Elephant Island, einem lebensfeindlichen Ort am Rande des antarktischen Kontinents, harrten diese Männer aus. Ihr Leben hing davon ab, dass Shackleton und seine Gefährten es schaffen würden, Hilfe herbeizuholen.

Mitten in der Nacht brachen sie zu ihrem Marsch auf: Expeditionsleiter Ernest Shackleton, Endurance-Kapitän Frank Worsley und der Zweite Offizier Tom Crean. Zu Tode erschöpft, kämpften sie sich einen Tag und zwei Nächte lang durch das bergige, eisige Inland von Südgeorgien. Und während all dieser Zeit hatten alle drei das seltsame Gefühl, als marschierten sie nicht allein. „Ich weiß, dass es mir während des langen und aufreibenden Marschs von 36 Stunden über die unbenannten Berge und Gletscher oft so vorkam, als wären wir zu viert und nicht zu dritt“, schrieb Shackleton später. Worsley beschrieb es so: „Wieder ertappe ich mich dabei, wie ich die Mitglieder unserer kleinen Gruppe zähle: Shackleton, Crean und ich und – wer war der andere? Natürlich waren wir nur zu dritt, aber es ist seltsam, dass wir immer eine vierte Person hinzudenken, wenn wir gedanklich auf unsere Überquerung zurückschauen, um uns dann zu berichtigen.“ Als der Dichter T. S. Eliot von Shackletons denkwürdiger Expedition las, war er von dieser Anekdote so fasziniert, dass er die Geschichte vom „dritten Mann“ (der ja eigentlich ein vierter war) in seinem Poem The Waste Land verarbeitete.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2017: Schwäche zeigen!