Als junger Psychologe arbeitete ich in einer psychiatrischen Klinik. Und ich gebe es lieber gleich zu: Da war diese eine Patientin, nennen wir sie Frau Grau, bei der ich, gemessen an meinem Anspruch, völlig versagt hatte. Eine Frau mit schwersten Depressionen, und ich junger Kerl hatte mir vorgenommen, sie mit meinen therapeutischen Werkzeugen irgendwie zu heilen.
Sie galt seit langem als unheilbar und litt bereits seit zwei Jahrzehnten unter stärksten Symptomen. Losgegangen war alles, als sie ihre wenige…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
unter stärksten Symptomen. Losgegangen war alles, als sie ihre wenige Monate alte Tochter völlig unerwartet über Nacht verlor. Der plötzliche Kindstod hatte zugeschlagen und ihr das Wertvollste genommen, was sie besaß. Massive Schuldgefühle ergriffen die Frau und ließen sie nicht mehr los, raubten ihr den Schlaf, die Lebensfreude und jeglichen Antrieb. Tiefster Seelenschmerz, Selbstmordfantasien und völliger Rückzug waren die Folge.
So kam es, dass sie einen großen Teil ihres Lebens mit Psychotherapien, Behandlungen in psychosomatischen Fachkliniken und Tageskliniken verbrachte. Die Jahre gingen ins Land und vieles um die Patientin herum veränderte sich. Was blieb, waren die Depression und die immer wiederkehrenden Behandlungsversuche. Eigentlich erwartete niemand mehr, dass sich daran noch einmal etwas ändern könnte. Der Stapel ihrer Behandlungsakten hatte eine beeindruckende Höhe.
Wenn man alles probiert und nichts hilft
Und jetzt war sie auf meiner Station gelandet. Ich war jung, gut ausgebildet, motiviert, frohen Mutes und krempelte im sprichwörtlichen Sinn die Ärmel hoch, um mich frisch ans psychotherapeutische Handwerk zu machen. Sie bekam von mir so ziemlich alles geboten, was die Kunst zu bieten hat. Vieles davon schien tatsächlich noch neu für sie zu sein.
Wir arbeiteten an „dysfunktionalen Kognitionen“, vollzogen Entschuldungsrituale, beschäftigten uns mit inneren Anteilen, befragten das Unbewusste mittels Hypnose, aktivierten Ressourcen und versuchten es mit Genusstraining. Wir arbeiteten traumatische Erinnerungen auf, nahmen mehrgenerationale Perspektiven ein, suchten nach Sinn, arbeiteten an Akzeptanz – und wer weiß was noch alles.
Ich verschlang reihenweise Fachbücher und tauschte mich mit zahlreichen Kollegen aus. Ich beschäftigte eine ganze Handvoll Supervisoren damit, mit mir den Fall und mein Vorgehen zu reflektieren. Aber es tat sich: nichts. Sie blieb genauso stockdepressiv, wie sie gekommen und wie sie es ihr halbes Leben lang gewesen war.
Eine kleine Begegnung im Flur
Offensichtlich waren also auch Therapeuten keine Zauberer – auch ich nicht. Anscheinend hielt man besser einen gewissen Abstand zu entsprechenden Allmachtsfantasien. Profis wie Patienten sind gut beraten, Therapien nicht mit Erwartungen und Hoffnungen zu überfrachten – oder? Was aber ist eine Seelenheilkunde wert, die offenbar nichts bewirkt? Was taugen dann all die ausgefeilten Therapieschulen, die langjährigen Ausbildungen zum Psychotherapeuten und die beeindruckenden fachlichen Gedankengebäude?
Doch dann das: Nach einem halben Jahr und endlosen Bemühungen kam Frau Grau in mein Sprechzimmer und war wie ausgetauscht. Regelrecht beschwingt trat sie mir strahlend und mit bester Laune entgegen, ein Mensch mit Lebenskraft. Ihre vormals aschfahle Erscheinung hatte sich binnen kürzester Zeit verändert und in ein Freudenfest der Lebensbejahung gewandelt. „Sagen Sie, … das ist ja … ähm, … warum um alles in der Welt geht es Ihnen denn so gut?“, stammelte ich vor lauter Überraschung.
Was dann kam, warf meine Idee davon, was Psychotherapie ist und wie sie funktioniert, komplett und nachhaltig über den Haufen: Vor lauter Schuldgefühlen habe sie wieder einmal nicht schlafen können. Einige Zeit nach Mitternacht sei sie dann aufgestanden und habe das Zimmer verlassen. Auf dem Flur sei ihr Nachtschwester Olga begegnet, man sei ins Gespräch über dies und das gekommen. Olga habe mit hartem russischem Akzent von ihrer Heimat erzählt.
Die Lösung jenseits der Bücher
Und dann irgendetwas erwähnt in die Richtung, dass ja jeder Mensch eine Art persönlichen Engel habe und dass die Engel sich alle untereinander kennen würden und miteinander in Kontakt stünden und dass natürlich auch ihr Kind so einen Engel habe und und und. Ich kam da, ehrlich gesagt, gar nicht richtig mit. Das Fazit lautete auf jeden Fall: Alles gut. Kein Grund mehr für Schuldgefühle. Ende der Durchsage.
Die Engel hatten es gerichtet. Die Depression war weg. Und sie blieb es zu meinem Erstaunen auch. Was aber eben auch weg war, waren meine Gewissheiten über Psychotherapie. Wiederum wälzte ich zahllose Fachbücher, um mich zu vergewissern, nicht doch etwas übersehen zu haben. Aber der Dreh mit den osteuropäischen Engeln stand tatsächlich nirgends. Diese Lösung war aus fachlicher Sicht einfach nicht vorgesehen gewesen.
Häufiger, als mal denkt, kommen hilfreiche Impulse nicht von Therapeuten, sondern aus unerwarteter Richtung. Therapeuten haben kein Monopol auf wohltuende Worte, heilsame Erzählungen und den richtigen Kniff. Es lohnt sich, in vielerlei Richtung offen für das Neue zu bleiben. Vor lauter hirnschmalzzersetzender und schweißtreibender Sucherei nach der richtigen Lösung darf man nicht versäumen, die Offenheit für hilfreiche Impulse zu kultivieren.
Neues wagen
Dabei geht es nicht um blinde Hoffnung, sondern die fortwährende Kultivierung der Neugier. Wichtig ist, dass ich verstehen will und meine Klienten einlade, sich selbst mit Neugier zu begegnen. Sie kann sich in Form von Fragen zeigen, die Menschen sich selbstversöhnlich stellen: Wie gehe ich mit mir selbst um? Was mache ich hier eigentlich? Wie gehe ich meine Probleme und Symptome bisher an? Was davon funktioniert, was nicht? Was könnte ich statt dessen denken oder tun?
Psychotherapie ist keine Aneinanderkettung von Werkzeugen, die es gilt, in der richtigen Reihenfolge anzuwenden. Im Kern ist Psychotherapie ein Beziehungsangebot. Therapeuten laden Ihre Klienten ein, sich selbst besser zu behandeln. Und sie laden sie mit ihrem Interesse am Gegenüber ein, herauszufinden, wie das gehen könnte. Therapeuten können ihre Patienten ermutigen, Nichtfunktionierendes bleibenzulassen, und sie dazu „verführen“, Neues zu wagen. Frau Grau hatte das Neue gewagt. Sie hat sich auf Olgas Sicht der Dinge eingelassen.
Stefan Junker ist promovierter Diplompsychologe, approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Lehrtherapeut, Demokratieaktivist und Autor der Titel Krise–Hirn an! und Wie verteidigt man die Demokratie? (Books on Demand). Mehr Infos: doktorjunker.de