Am Anfang eines Marathonlaufs

Krafteinteilung und das Wahrnehmen der positiven Aspekte schützt uns vor Aufzehrung in der Corona-Krise, sagt Therapeut Michael Broda.

Liebe Patienten,

diesen Brief möchte ich Ihnen schreiben, weil ich mir Gedanken um Sie mache. Diese von Corona dominierten Zeiten sind für alle nicht einfach und die Einschränkungen unseres gewohnten Lebens entwickeln sich in einer nie geahnten Geschwindigkeit. Kaum mehr etwas erscheint sicher, planbar oder unter Kontrolle. Wie sehr muss dies gerade die Menschen tangieren, mit denen wir in der Vergangenheit an den Themen „Kontrolle“ oder „Sicherheit“ gearbeitet und versucht haben, mehr Vertrauen in das, was kommt, zu entwickeln. Menschen, die ohnehin panische Ängste vor Kontrollverlust oder Verschmutzungen und Infektionen haben. Für Sie alle möchte ich ein paar Hilfestellungen in dieser Krise geben:

Nutzen Sie jetzt Ihre sozialen Kontakte

Nicht im persönlichen Zusammenkommen, sondern am Telefon, mit Video- und Kurznachrichten. Das Gefühl der Nähe und Verbundenheit ist unser bedeutsamster Schutz vor Ängsten und Depressionen.

Halten Sie Gedanken an das Virus nicht fest

Wir haben in der Therapie geübt, Gedanken loszulassen oder wegfließen zu lassen. Ein Nachgrübeln, wie es weiter geht, was in vier Wochen sein wird oder wie sich Ihr Leben nachhaltig verändern wird, führt nur dazu, dass es Ihnen schlechter geht und ändert nichts. Niemand von Ihnen kann durch Gedanken die weitere Entwicklung beeinflussen.

Nehmen Sie Ihren Alltag unter Kontrolle

Wenn schon die Entwicklung der Pandemie für Sie nicht kontrollierbar ist, geben Sie Ihrem Tag eine Struktur. Machen Sie sich einen Tages- und Wochenplan, bauen Sie dort auch Aktivitäten ein, die Ihnen guttun, oder machen Sie sich an Dinge, die Sie schon lange erledigen wollten und nie Zeit dazu fanden.

Entwickeln Sie ein Gefühl der Dankbarkeit

Wir haben noch keine Zustände wie in Norditalien, haben zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf und eine funktionierende Heizung. Wir erleben Menschen, die helfen und sich aufopfern.

Helfen Sie und seien Sie solidarisch

Wenn Sie es noch können – kaufen Sie für ältere Menschen ein, kümmern Sie sich um Nachbarn und erkundigen Sie sich, wie es Menschen in Ihrem sozialen Umfeld geht. Kaufen Sie nur das ein, was Sie auch brauchen – so dass für alle etwas da ist.

Achten Sie auch auf positive Gefühle

Mehr Zeit für sich zu haben war für viele ein langgehegter Wunsch – jetzt könnte er umgesetzt werden. Nehmen Sie sich Zeit für Dinge, die Ihnen guttun: ein Buch, Musik, achtsames Wahrnehmen Ihrer Umwelt, ein Hobby, das Sie vernachlässigt haben, Sport und Bewegung. Es geht jetzt nicht darum, der Krise unbedingt etwas Positives abgewinnen zu wollen – es geht darum, Ihre Psyche vor den grenzenlosen negativen Gefühlen zu schützen. In dem Moment, in dem ich Ihnen diesen Brief schreibe, scheint die Sonne, Büsche blühen und das ganze Leben verläuft ruhiger.

Dieses wahrzunehmen und zuzulassen hilft der inneren Gefühlsbalance. Wir stehen am Anfang eines Marathonlaufs. Teilen Sie sich bitte Ihre Kräfte so ein, dass Sie auch in einigen Wochen noch psychische Energie haben. Wenn Sie physisch und psychisch einigermaßen unbeschadet durch diese Krise kommen, sind die Sorgen, Ängste und Nöte, die Sie bislang so gequält haben, möglicherweise gar nicht mehr so bedeutsam.

Passen Sie auf sich und Ihre Psyche auf!

Ihr

Michael Broda

Michael Broda arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Dahn. Er ist Mitherausgeber und Schriftleiter der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog und Mitherausgeber der LehrbücherPraxis der Psychotherapie und Techniken der Psychotherapie

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