„Hatte ich vielleicht unbemerkt Sex?“

Therapiestunde: ​Frau W. meidet die Öffentlichkeit aus Angst, sie könne sich sexuell aufreizend verhalten. Was hat ihr toter Vater damit zu tun? ​

Die Illustration zeigt eine nackte Frau , die sich in einer Muschel versteckt und Angst hat, sie könnte sich in der Öffentlichkeit sexuell aufreizend verhalten
Aus Angst vor der eigenen Laszivität verlässt die Patientin ihr Haus nicht mehr. © Michel Streich

Frau W., 32 Jahre, suchte einen Therapieplatz, weil sie aus dem Gedanken, sie habe sich obszön und sexu­ell verführend verhalten, keinen Ausweg mehr fand und ihre Wohnung deswegen nicht mehr verließ. Musste sie doch einmal Besorgungen machen, notierte sie ge­nau die Zeiten und Kilometerstände, um sich eine Plausibilitätssicherheit zu geben, dass sie nicht unbemerkt mit einem Mann geschlafen haben könnte.

Da diese „Sicher­heit“ aber immer weiter hinterfragt wurde, kreisten ihre Gedanken permanent um diese…

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weiter hinterfragt wurde, kreisten ihre Gedanken permanent um diese Frage, und die quälende Ungewissheit belastete sie sehr. Langfristige Folge: Aufgabe ihres Berufs als Bauzeichnerin, Berentung, deutliche Probleme in der Partnerschaft, zunehmende depressive Phasen, sozialer Rückzug, keine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mehr, medikamentöse Behandlungsversuche, stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie – ihr Leben hatte jegliche Lebensqualität verloren.

Dies war der Zeitpunkt der ersten Psychotherapie bei mir. Es wäre ja jetzt naheliegend – und manche Kollegen würden dies auch verfolgen –, der Patientin zu unterstellen, dass sie möglicherweise ein gesteigertes Interesse an sexuellen Abenteuern habe, das sie sich aber nicht eingestehen könne. Davon halte ich im Grunde genommen nichts, denn Zwangsgedanken heften sich an Gedanken, die zwar meist um die Themenbereiche „Schuld“ und „Scham“ gruppiert sind, das geschieht aber meines Erachtens inhaltlich eher zufällig.

Wieder Lebensqualität

Insofern fokussierte ich bei Frau W. auch nicht auf eine sexuelle Thematik, sondern zunächst einmal darauf, wie sie ihrem Leben wieder etwas mehr Qualität geben könnte. Sie fing langsam wieder an, Handarbeiten auszuführen, was ihr früher großen Spaß gemacht hatte, telefonierte nach und nach mit Freundinnen und traute sich dann auch gemeinsame Unternehmungen mit ihrem Mann zu – wobei er auch als Rückversicherer diente.

Parallel zu den vereinbarten Aktivitäten erzählte sie mir aus ihrem Leben: alkoholkranker, gewalttätiger Vater mit Waffenbesitz, schwache verängstigte Mutter, die sie als kleine Tochter schon vor der Gewalt des Vaters schützen musste. Er war ein hochangesehener Bürger, dessen hässliche Seite außer der Kernfamilie im Dorf niemand sah oder sehen wollte. Seit dem Tod des Vaters vor fünf Jahren wohnten Frau W. und ihr Mann weiterhin im selben Mehrparteienhaus mit väterlicher Verwandtschaft, die ihr vorwirft, am Tod des Vaters schuld zu sein.

Ritualisierte Rückversicherung

Frau W. darf die Wut, die sie eigentlich auf den Vater haben müsste, der ihre Kindheit und Jugend mit seinen unberechenbaren Gewaltausbrüchen und der permanenten (Todes-)Bedrohung geprägt hatte, nicht äußern, weil er ja von allen anderen als ein liebenswerter Zeitgenosse wahrgenommen worden war. Diese Wut sorgt für die enorme Spannung und bahnt sich einen Weg in ritualisierten Rückversicherungen bei Gedanken an ihre vermuteten sexuellen Handlungen.

Hier kämpft sie gegen die Scham an und bleibt in ihrer Ohnmacht den Gedanken gegenüber immer noch ein wenig handlungsfähig, da sie durch ihr Sicherheitsverhalten den Eindruck hat, das Schlimmste gerade noch verhindert zu haben. Dazu kommt noch die Fusion von Gedanken und Handlung: Frau W. ist nicht in der Lage, den Gedanken nur als Gedanken zu sehen – er vermischt sich mit der Handlung und steigert damit die Hochspannung.

Mir ging es zunächst darum, Frau W. wieder ein Gefühl der Beeinflussbarkeit des gedanklichen Geschehens und des emotionalen Erlebens zu ermöglichen. Wir wendeten uns ihrer Biografie zu, ließen Emotionen bei Erinnerungen an den Vater entstehen; ich bat sie, diese zu versprachlichen und bei besonders belastenden die Haltung der erwachsenen Frau W. einzubringen, wie sie das Kind schützen und wie sie als Beobachterin der biografischen Szene dem Kind zu Hilfe kommen könne. Dadurch wurde es ihr möglich, sich aus Selbstvorwürfen zu lösen und die Vorwürfe und die Wut auf den Vater auszudrücken. Dabei lernte sie auch, wieder mehr den eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen.

Dinge lassen sich ändern

Parallel dazu thematisierten wir die Wohnsituation in dem väterlichen Haus: Es standen dort günstige Mietkosten der permanenten Spannung mit der Verwandtschaft gegenüber. Frau W. fing an, ihren Mann von der Notwendigkeit eines Wohnungswechsels zu überzeugen. Nach längerer Suche fanden sie ein finanzierbares kleines Haus.

Und die Gedanken? Sie verschwanden nicht von allein. Frau W. war aber durch die Veränderungen in den anderen Lebensbereichen zum einen nicht mehr so fixiert darauf – zum anderen hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sich Dinge in ihrem Leben ändern ließen. Zunächst arbeiteten wir daran, dass ein Gedanke nur ein Gedanke und keine Realität ist. Und dass die Entscheidung, über etwas nachzudenken, im Prinzip bei ihr liegt. Ich erklärte ihr, dass jeder Mensch einen Gedankenfluss von unzähligen Gedanken hat – schöne, hilfreiche genauso wie absurde und ekelhafte.

Dass der Gedanke an sich aber nicht das Problem ist, sondern das Festhalten an dem Gedanken, die fortwährende Beschäftigung mit ihm. Wir übten, Gedanken loszulassen – abfließen zu lassen. Dazu gehe ich gerne aus der Praxis heraus in die schöne Natur des Pfälzer Waldes auf eine kleine Brücke über einen Bach und übe „Abfließenlassen“. Frau W. beeindruckte dieses Erlebnis: Fließenlassen kann etwas Schönes, Erleichterndes sein, Festhalten dagegen etwas Einengendes, Anspannendes.

Abfließen lassen!

Danach installierten wir eine imaginierte Beobachterin, die sich die Gedanken von Frau W. ansieht und darüber befindet, ob diese Gedanken jetzt hilfreich für ein gutes psychisches Befinden sind oder nicht. Wenn nicht: Abfließen lassen! Nach einigem Üben kam Frau W. aus diesem Teufelskreis der Selbstverunsicherung, quälenden Anspannung und dem unvollständigen Neutralisieren der Gefühle von Scham und Abscheu heraus und fühlte sich wie befreit.

Nur am Symptom zu arbeiten hätte die Grundspannungsthemen weiter bestehen lassen, und nur über die Grundspannung zu sprechen hätte die Gedanken nicht beeinflusst. Inzwischen wohnt Frau W. im eigenen Haus, arbeitet an der Verbesserung ihrer Sozialkontakte und ist auf der Suche nach einer Teilzeitbeschäftigung.

Michael Broda arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Dahn. Er ist Mitherausgeber und Schriftleiter der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog und Mitherausgeber der Lehrbücher Praxis der Psychotherapie und Techniken der Psychotherapie

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter