Das Verhaltensimmunsystem

Menschen, die wir kennen oder mögen, unterstellen wir ein geringeres Infektionsrisiko als Fremden und unsympathischen Personen.

Beim Infektionsrisiko verhalten wir uns mitunter irrational: Wir halten es bei Verwandten und Freunden oder unbekannten, anziehenden und sympathischen Menschen für geringer als bei uns nicht sympathischen Fremden. Diese Vermutung bestätigten die Psychologinnen und Psychologen in drei Studien mit rund 1.600 Probandinnen und Probanden. Das Ergebnis: Wir wissen, dass es theoretisch ein Risiko gibt, aber sehen das bei erfreulichen und nützlichen Kontakten entspannter. 

Psychologen gehen davon aus, dass wir neben dem biologischen Immunsystem auch ein „Verhaltensimmunsystem“ haben. Es heißtwelfare-trade-off ratio und es funktioniert so: Geht es um wichtige Menschen, Partner, Familie, Freunde, und machen diese einen gesunden Eindruck, halten wir Viren und Bakterien für weniger riskant. Auch bei Unbekannten „ticken“ wir so, solange wir sie als bescheiden, freundlich und ehrlich erleben oder wenn wir sie attraktiv und anziehend finden. Der Grund: Kontakte zu ihnen und ein potenzieller Austausch mit ihnen sind wertvoll für uns, wir erhoffen uns davon angenehme und nützliche Erfahrungen. Folglich sind uns solche Kontakte auch wichtiger als ein eventuelles Infektionsrisiko.  

Sympathie und gesunde Ausstrahlung

Die Forscherinnen legten Probandinnen und Probanden zum Beispiel zahlreiche Bilder von Gesichtern und Beschreibungen von unterschiedlich attraktiven Frauen und Männern vor. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass wir attraktiven, gesund wirkenden Menschen generell eine geringe Ansteckungsgefahr unterstellen. Aus den Beschreibungen ging hervor, wie verträglich, ehrlich und bescheiden diese Personen seien. Anschließend ließen die Forscherinnen die Teilnehmer einschätzen, ob und inwieweit sie mit jeder gezeigten Person Kontakt haben wollten, für wie freundlich und ehrlich sie diese hielten und was sie sich von einem eventuellen Austausch erhofften. Sie fragten auch, ob und wie viel Unbehagen ihnen ein potenzieller Austausch bereiten würde. Außerdem wurden Versuchspersonen gebeten, sich ihre eigenen Partner, ihre Freunde und Bekannten sowie Menschen vorzustellen, die ihnen unsympathisch waren. Bei diesen Teilnehmer wurde auch ihre generelle Neigung gemessen, Krankheitserregern aus dem Weg zu gehen und untersucht, wie wohl sie sich im Kontakt mit den von ihnen genannten Personen fühlten. 

Die Studien bestätigten: Sympathie, Zuneigung sowie ein gesundes, attraktives Äußeres senken das wahrgenommene Ansteckungsrisiko. Das "Verhaltensimmunsystem" lässt uns beispielsweise auch bei der Partnersuche entspannter werden. Dagegen kann ein kranker, wenn auch nicht infektiöser Mensch ebenfalls Angst machen, weil sich vielleicht auch das seelische Leiden übertragen könnte. Umgekehrt zeigten sich die Teilnehmer also bei wenig attraktiv aussehenden, als unangenehm beschriebenen Personen deutlich distanzierter.

Wie die Forscher ausführen, bringt uns das bei ansteckenden Krankheiten mit asymptomatischen, aber dennoch infektiösen Fällen in ein Dilemma: Wer uns nicht die Hand schüttelt oder umarmt und nur mit Abstand und Maske in einem Raum mit uns sein will, obwohl wir dafür keinen Grund sehen, dem unterstellen wir automatisch ein höheres Ansteckungsrisiko und umgekehrt. 

Joshua M. Tybur u. a.: Behavioral immune trade-offs: Interpersonal value relaxis social pathogen avoidance. Psychological Sciences, 31/10, 2010. DOI: 10.1177/0956797620960011

Artikel zum Thema
Manche Menschen haben eine ganz besondere emotionale Ausstrahlung. Psychologen nennen das „affektive Präsenz“.
Ärger, Traurigkeit und schlechte Laune springen leicht von einem auf den anderen über. Warum ist das so – und wie können wir uns davor schützen?
Auf Dauer tut es niemandem gut, wenn Mitarbeitende trotz Erkrankung zur Arbeit kommen. Wie wirkt sich die Pandemie auf Präsentismus aus?
Anzeige
Psychologie Heute Compact 78: Was gegen Angst hilft