„Es gibt vieles, was man für Depressive tun kann“

In Großbritannien werden Antidepressiva zur Behandlung von Depressionen nicht mehr verschrieben. Der Psychiater Tim Kendall erklärt, warum.

Herr Kendall, was glauben Sie, wie werden Menschen depressiv?

Wenn Sie auf den Zeitpunkt zurückschauen, an dem jemand erstmals depressiv wurde, passiert das manchmal schon in der Kindheit. Je jünger das Kind ist, desto offensichtlicher ist es, dass das unmittelbar auf ein Trauma folgt. Und dieses Trauma kann physischer oder sexueller Missbrauch sein, schweres Mobbing, der Verlust eines Elternteils, der Tod einer anderen Person aus der Familie, diese Art von Dingen. Bei Kindern, die verletzlich sind, ist die…

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Tod einer anderen Person aus der Familie, diese Art von Dingen. Bei Kindern, die verletzlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie depressiv werden. Die Depression wird ziemlich schnell nach dem belastenden Ereignis einsetzen. Je älter das Kind wird und umso häufiger es Depressionen bekommt, desto schwieriger wird es, zu sagen, was das auslösende Ereignis ist. Wenn diese Kinder erwachsen werden, kann der Auslöser vollkommen trivial aussehen. Und das ist meines Erachtens der Grund dafür, warum viele Leute glauben, dass Depressionen eine von Lebensereignissen losgelöste Krankheit sind. Aber in Wirklichkeit ist es nicht so, dass es keinen Auslöser gibt. Der Auslöser ist nur oft nicht identifizierbar. Und ich glaube, je häufiger man depressiv ist, desto anfälliger wird man.

Also ist Ihre Theorie, dass im Wesentlichen Umweltfaktoren Depressionen verursachen. Eine weitverbreitete Theorie sieht Depression jedoch als körperliche Krankheit. Die sogenannte Serotoninhypothese, wonach ein Mangel an Serotonin eine Depression auslösen kann, ist sehr populär.

Ich finde es unaufrichtig, wenn Psychiater sagen, Depression sei eine rein biologische Krankheit. Das ist sie nicht. Die Serotoninhypothese hält keiner Überprüfung stand. Die ganze Vorstellung, dass ein einzelner Transmitter Depressionen oder auch Schizophrenie verursachen soll, ist lächerlich. Es gibt wirklich keine belastbaren Daten dazu, dass Depressive ein Serotonindefizit hätten oder dergleichen. Die Serotoninhypothese dient dazu, Medikamente zu verkaufen.

Das bedeutet nicht, dass es nicht eine starke biologische Seite der Depression gibt. Wenn jemand depressiv ist, beeinträchtigt das seinen Schlaf. Es beeinträchtigt seinen Appetit, er verliert Gewicht, seine Konzentrationsfähigkeit ist stark beeinträchtigt.

Alles, was ich sage, ist, dass die Auslöser sozial sind. Man kann sich die Arbeiten anschauen, die George Brown und seine Kollegen in den 60er, 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum sozialen Ursprung der Depression gemacht haben. Sie haben die Entwicklung von 400 Frauen aus Camberwell verfolgt, das ist ein sehr armer Stadtteil von London. Sie wollten herausfinden, welche Faktoren vorhersagen, welche dieser Frauen aus der Arbeiterklasse im Laufe der Jahre an Depressionen erkranken. Und was sie fanden, war, dass die Frauen, die sich als Kind um drei oder mehr Geschwister kümmern mussten, ein erhöhtes Risiko hatten, depressiv zu werden. Wenn sie später andere Lasten zu tragen hatten, wie die Pflege älterer Angehöriger, hatten sie ein erhöhtes Risiko, depressiv zu werden. Wenn ihre Paarbeziehung nicht gut lief, hatten sie ein erhöhtes Risiko, depressiv zu werden. Aber die Depression folgt normalerweise auf ein Verlustereignis. Entweder den Verlust des Arbeitsplatzes, den Verlust einer Beziehung, den Tod einer geliebten Person und so weiter. Das war eine sehr, sehr gut gemachte Studie.

Antidepressiva gehören in Großbritannien nicht mehr zur ersten Wahl in der Depressionsbehandlung. Wie kam es zu der Entscheidung, die Verschreibung von Antidepressiva für leichte Depressionen nicht mehr zu empfehlen?

Im Wesentlichen indem wir Risiko und Nutzen gegeneinander abgewogen haben. Der Nutzen für leichte – und wahrscheinlich auch für mittelschwere Depressionen – ist nicht besonders groß. Antidepressiva haben bei leichter Depression einen nur geringen Effekt, wenn überhaupt. Und weil die Pharmafirmen routinemäßig nur die positiven Ergebnisse veröffentlichen, wäre der Effekt mit Blick auf die gesamte Studienlage vermutlich gleich null.

Sie sind zu Ihrem Entschluss gekommen, indem Sie auf die aktuelle Studienlage geschaut haben?

Wir haben die vollständigen Daten aus England gesichtet. Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass man leichte bis mittelschwere Depressionen im ersten Schritt wahrscheinlich am besten ohne Medikamente behandelt. Es gibt andere Herangehensweisen, die einen – erwiesenermaßen – ordentlichen Erfolg haben. Zum Beispiel erzielt man gute Ergebnisse durch computergestützte Verhaltenstherapie, durch Bewegung und durch angeleitete Selbsthilfe.

Welche Folge hatte diese Erkenntnis?

In Großbritannien werden psychologische Ansätze in der Erstversorgung angeboten. Wir nennen das IAPT, Improving Access to Psychological Therapies, also einen erleichterten Zugang zu psychologischer Behandlung. Wir haben vor neun Jahren damit angefangen. Das war eine Investition von vier- bis fünfhundert Millionen Pfund pro Jahr, um in ganz England und Wales 6000 Therapeuten entsprechend den Richtlinien auszubilden und einzustellen. Die Regierung bietet zwei Arten von Therapeuten an. Der eine nennt sich psychologischer Gesundheitstherapeut. Seine Aufgabe ist, Menschen mit leichter und mittelschwerer Depression an computergestützte Verhaltenstherapie, angeleitete Selbsthilfe und strukturierte Bewegungsprogramme heranzuführen und den Verlauf ihrer Depression zu überwachen. Das sind Maßnahmen von geringer Intensität. Und wenn das nicht funktioniert, kann man eine Stufe höher gehen und die Patienten zu einem kognitiven Verhaltenstherapeuten überweisen. Das hat dazu geführt, dass etwas weniger Antidepressiva verschrieben wurden, weil es eine echte Alternative gibt.

Merkwürdig ist, dass so viele Allgemeinmediziner es anscheinend nach wie vor schwer finden, keine Medikamente zu verschreiben.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich glaube, dass Ärzte gerne Rezepte schreiben und dann sagen: „Und jetzt organisieren wir Ihnen noch eine Psychotherapie.“ Sie machen gerne beides.

Um gründlich zu sein?

Das ist eine sehr wohlwollende Interpretation.

Sie sind ja selbst Psychiater.

Ja, das bin ich. Und ich verschreibe auch Antidepressiva. Wahrscheinlich viel seltener als meine Kollegen, aber ich verschreibe auch Medikamente. Wenn man Antidepressiva verschreibt, sind SSRIs, SerotoninWiederaufnahmehemmer, im Augenblick vermutlich die beste Wahl. Aber man sollte das auf die schweren Fälle beschränken. Oder sie denjenigen geben, die auf andere Interventionen nicht angesprochen haben.

Wir haben mit Befürwortern von Antidepressiva in Deutschland gesprochen, und man hat uns gesagt, dass die Berichterstattung über die mangelhafte Effektivität von Antidepressiva zu einem Anstieg der Suizidrate führen werde. Das würde den Menschen, die keinen anderen Weg sehen, mit ihrem Leid umzugehen, die letzte Hoffnung nehmen. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, es ist unvertretbar, die ganze Bevölkerung zu belügen. Dass die Menschen sich alle umbringen, wenn sie hören, dass diese Medikamente keine pharmakologische Wirkung haben, dafür gibt es überhaupt keinen Beleg. Wir sollten ein ganzes Spektrum an therapeutischen Maßnahmen anbieten. Es gibt vieles, was man für Depressive tun kann. Man muss sich nicht auf eine einzige Lösung festlegen. Aber bei allem, was ich gerade über Antidepressiva gesagt habe – ich will auf jeden Fall hinzufügen: „Bitte hören Sie nicht auf, Ihre Medikamente zu nehmen. Wenn die für Sie funktionieren, ist das prima!“ Alle wissenschaftlichen Argumente, die ich genannt habe, beziehen sich auf Durchschnittswerte. Wenn jemand Antidepressiva nimmt, und es geht ihm gut damit, ist das vollkommen in Ordnung.

Der Pharmakritiker Robert Whitaker hat sich Langzeitstudien zum Antidepressiva-Gebrauch und die jeweiligen Rückfallraten angeschaut. Er behauptet, der aktuelle Anstieg der Depressionsraten und die dadurch verursachte Erwerbsunfähigkeit könnten auf den massenhaften Einsatz von Antidepressiva zurückzuführen sein. Was halten Sie davon?

Nun, ich kenne die Daten nicht, aber ich weiß, dass die Entzugssymptome beim Absetzen von Antidepressiva einer Depression sehr ähnlich sind. Das ist so, als hätte man eine ausgeprägte Depression plus Angst. Man sollte bei der Verschreibung immer beachten, welche Nebenwirkungen es gibt. Und wenn eine der häufigen Nebenwirkungen ist, dass man das Medikament nicht absetzen kann, dann sollte man es nicht verschreiben. Das legt nahe, dass Whitaker recht haben könnte.

Man muss sie dann ein Leben lang nehmen?

Ja, unglücklicherweise ist das dann oft der Fall.

Interview: Thorsten Padberg und Julia Friedrichs

Tim Kendall ist der Direktor des National Collaborating Centre for Mental Health und berät das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) bei der Behandlung psychischer Störungen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2016: Das stille Ich