Frau Brauchli, Stress kann krank machen. Bleiben wir also gesund, wenn wir Stress vermeiden?
Dann wären wir sicherlich gesünder. Aber ganz vermeiden lässt sich Stress kaum. Ein gewisser Stresszustand ist sogar wünschenswert, weil er hilft, alle Ressourcen zu aktivieren – zum Beispiel vor einer Prüfung. Die Frage ist nicht, was wir tun müssen, um nie wieder Stress zu erleben, sondern wie wir mit dem Stress besser umgehen können, damit er uns nicht krank macht. Damit beschäftigt sich unsere Forschung zur…
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dem Stress besser umgehen können, damit er uns nicht krank macht. Damit beschäftigt sich unsere Forschung zur Salutogenese.
Was ist Salutogenese?
Ein Konzept, das Gesundheit als Kontinuum versteht, in dem es krank machende und gesund machende Faktoren gibt. Je nachdem, wie stark diese Faktoren jeweils sind, befinden sich Menschen eher auf der günstigen oder ungünstigen Seite oder sogar an einem der Pole des Kontinuums. In unserer Forschung wollen wir herausfinden, wie ein Mensch die gesund machenden Faktoren aktiv stärken kann.
Was hält den Menschen gesund?
Dabei helfen uns Ressourcen in uns selbst, in unserem Umfeld oder in der Gesellschaft. Bei der Stressbewältigung ist zum Beispiel die Unterstützung durch den Partner oder die Familie besonders wichtig. Besonders an dem Konzept der Salutogenese ist die positive Wirkung eines Kohärenzerlebens auf die Gesundheit. Das bedeutet: Ich verstehe, was um mich herum vorgeht, ich kann es bewältigen und ich sehe einen Sinn darin.
Was hat die Suche nach dem Sinn mit Gesundheit zu tun?
Wer ein ausgeprägtes Sinnerleben hat, ist gesünder, sowohl mental als auch körperlich. Das fand der Soziologe Aaron Antonovsky, der das Konzept der Salutogenese entwickelte, in den 1970er Jahren heraus, als er in Israel das Wohlbefinden von Frauen in der Menopause untersuchte. Einige dieser Frauen hatten den Holocaust überlebt und unglaublich Schreckliches erlebt. Trotzdem verfügte ein beachtlicher Teil über eine erstaunlich gute psychische wie physische Gesundheit. Antonovsky entdeckte, dass das, was diese Frauen stärkte, ihr hoher Kohärenzsinn war.
Und wie stärke ich meinen Kohärenzsinn?
Insgesamt sollten wir das im Zaum halten, was uns krank macht, und das fördern, was wir als selbsterweiternd empfinden. Das gelingt durch das Prinzip des crafting – ein englischer Begriff, den man mit „basteln“ oder „kreieren“ übersetzen kann. Im Arbeitskontext erforschen Psychologen das sogenannte job crafting. Es bedeutet, sich sein Arbeitsumfeld den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Zum einen kann ich die Belastungen im Job abbauen oder auf einem niedrigen Niveau halten. Gleichzeitig kann ich aber auch meine Ressourcen bei der Arbeit aufbauen, zum Beispiel indem ich die Kollegen um Unterstützung oder die Vorgesetzten um Feedback bitte. Anders als man erwarten könnte, kann es sogar entlastend wirken, wenn ich mich etwa freiwillig um die Organisation einer Jubiläumsfeier kümmere – vorausgesetzt, das bereitet mir als kontaktfreudiger Mensch Vergnügen.
Auch in der Freizeit kann ich mein Wohlbefinden aktiv stärken. Das nennen wir off job crafting. Empfehlenswert ist der Forschung zufolge, sich gut von der Arbeit abzugrenzen und sich bewusst zu entspannen – typische Strategien aus der Stressbewältigung. Darüber hinaus sollte ich etwas tun, bei dem ich Sinn erlebe und mich kompetent fühle, vor allem wenn dieses Sinnerleben im Beruf fehlt. Das schaffen Menschen, indem sie sich zum Beispiel freiwillig engagieren oder ihren Horizont erweitern, ein gutes Buch lesen, eine Reise planen, ein Instrument oder eine Sprache lernen.
Wenn ich gestresst bin und immer unter Zeitdruck stehe, komme ich kaum dazu, aktiv mein Leben zu gestalten. Wozu raten Sie dann?
Sich bewusst Zeit für sich selbst einzuplanen. Es braucht nicht viel, zum Beispiel zehn Minuten am Morgen, in denen ich ein gutes Buch lese oder ein Instrument übe. Crafting ist nicht immer einfach. Ähnlich schwer ist es, ein Optimist zu werden, auch wenn einem klar ist, dass es einem dadurch besser ginge. Aber es zahlt sich aus.
In Krisen wie der Coronapandemie wird das Sinnerleben auf die Probe gestellt.
Als Experten für Salutogenese schauen wir nicht, wie sich die Krise negativ auf unsere Gesundheit auswirkt, sondern fragen uns: Wer schafft es, trotz der Krise gesund zu bleiben? Das haben wir in der Coronapandemie im Rahmen einer großen Studie untersucht. Die 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten wir bereits im Juli 2019 gefragt, wie stark sie ihre Umgebung aktiv gestalteten, also crafteten, und wie gut es ihnen ging, etwa wie wohl sie sich mental und körperlich fühlten und wie zufrieden sie waren. Anfang April 2020, also mitten in der Coronakrise, haben wir die gleichen Personen erneut befragt.
Was fanden Sie heraus?
Denjenigen, die ihre Umgebung besonders aktiv gestalten, ging es vor der Krise bereits besser als denjenigen, die weniger craften. Während der Krise ging es diesen Menschen, die immer wieder versuchen, das Sinnerleben herzustellen, sogar noch besser, mental und körperlich.
Wie erklären Sie sich das?
Indem sie ihren Alltag aktiv und achtsam gestalteten, könnte es ihnen besser gelungen sein, ein Gefühl der Kontrolle in der Krise zu bewahren. Vieles in der Pandemie können wir nicht beeinflussen. Wir können jedoch Abläufe in unserem Alltag kontrollieren, zum Beispiel sehr bewusst die Hände waschen oder darauf achten, nicht alles anzufassen. Der hohe Kohärenzsinn gibt einem das Gefühl, die Krise bewältigen zu können.
Könnte es auch helfen, sich die Grenzen der eigenen Kontrolle bewusstzumachen?
Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass wir nicht alles kontrollieren können, etwa das Altern, die Endlichkeit oder die Weltpolitik. Jetzt in der Krise profitieren offenbar die Menschen besonders stark, die in ihrem Leben einen Sinn gefunden haben. Diese Reserve können sie anzapfen. Wer sich nur entspannt, aber nichts Selbsterweiterndes tut, kann zwar den akuten Stress bewältigen. Doch für diese Menschen wird es schwer, wenn etwas Bedrohliches auf sie zukommt.
Ist es in jedem Alter möglich, seinen Kohärenzsinn zu stärken?
Unbedingt. Noch in höherem Alter hilft es, sich mit neuen oder fremden Themen auseinanderzusetzen. Kinder machen das automatisch. Wir sollten nicht verlernen, neugierig zu sein.
Dr. Rebecca Brauchli forscht als Psychologin und Oberassistentin am Zentrum für Salutogenese der Universität Zürich. Sie interessiert sich dafür, wie Menschen ihre Gesundheit aktiv fördern können, insbesondere in der Arbeitswelt.
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