Isabel Eckhardt war es gewohnt, überall gleichzeitig präsent zu sein: im Familienbetrieb, den sie gemeinsam mit ihrem Vater führte; bei ihrer zweijährigen Tochter, für die sie nach der Trennung von ihrem Partner allein sorgte; bei dem Haus, das sie gerade mit viel Leidenschaft bauen ließ. Es gefiel ihr, dass das Leben sie gleich mehrfach herausforderte. „Ich schaffe eine Menge“, sagt die 39-Jährige. „Doch irgendwann wurde es zu viel für mich allein.“ Die permanente Anspannung hinterließ ihre Spuren. „Ich…
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„Doch irgendwann wurde es zu viel für mich allein.“ Die permanente Anspannung hinterließ ihre Spuren. „Ich fand einfach keine Ruhe mehr“, erzählt Isabel Eckhardt. Tagsüber fühlte sie sich wie gejagt, nachts lief das Gedankenkarussell in Dauerschleife. Sie konnte nicht mehr schlafen, grübelte stundenlang im Bett. Völlig übermüdet quälte sie sich mit viel Kaffee durch den Tag. „Der Stress nahm mir die Lebensqualität. Ich musste mich unbedingt bremsen“, sagt sie rückblickend. Nur: Wie sollte sie aus der Stressspirale aussteigen?
Viele Menschen kennen das Gefühl, keine Pause zu haben, immer unter Druck zu stehen und nach einem anstrengenden Tag vollkommen erschöpft ins Bett zu sinken – doch oft, ohne Ruhe und Erholung zu finden. In einer Umfrage der Techniker-Krankenkasse gab fast ein Viertel der Befragten an, häufig gestresst zu sein.
Nur weitere Sorgen
Und haben wir nicht auch tausend Gründe, uns berechtigte Sorgen zu machen? Die Welt um uns herum erscheint zunehmend unsicher: Jeder Spaziergang führt uns den beängstigenden Zustand der Wälder vor Augen – wo soll das enden? In den Nachrichten hören wir von Buschbränden und schmelzenden Gletschern, von überfüllten Flüchtlingscamps, von Spannungen und Konflikten, Radikalismus und Rassismus.
Und dann brach die Coronapandemie aus. Keine Treffen mit Freunden mehr, keine Kino- und Theaterabende, kein Teamsport und kein Urlaub in der Ferne. Stattdessen weitere Sorgen: um eine Ansteckung, aber auch um die Zukunft. In der anhaltenden Krise fürchten viele um ihren Arbeitsplatz, ihre Aufträge, ihren Betrieb, ihre Existenz.
Selbst für die unter uns, die noch immer in gesicherten Verhältnissen leben dürfen, sind Krisen wie die Pandemie „Stressfaktoren im Hintergrund, die uns zusätzlich belasten“, sagt Gert Kaluza. Der ehemalige Professor für medizinische Psychologie an der Universität Marburg nennt die charakteristischen Merkmale stressiger Situationen: Sie sind wenig beständig, verändern sich also schnell, was wir schlecht kontrollieren oder vorhersagen können, auch weil die Situationen so komplex und mehrdeutig sind – wie in der Coronakrise. Niemand weiß, wie lange das Virus unser Leben beeinflussen wird. Die Ungewissheit belastet.
Der Körper schlägt Alarm
Und eigentlich ist die Beunruhigung ja auch nicht falsch: Hinter dem Stressempfinden steckt ein Mechanismus, der sich gerade in beängstigenden Zeiten bewährt hat. Sobald der Körper eine Bedrohung wittert, aktiviert das Gehirn die Nervenbahnen des Sympathikus und sorgt dafür, dass im Nebennierenmark die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt werden. Folge: Das Herz schlägt schneller, Blutdruck und Atemfrequenz steigen. Außerdem fließt das Blut aus den kleinen Gefäßen, aus Kopf und Verdauungssystem in die großen Muskeln in Rumpf, Armen und Beinen, damit wir uns besser verteidigen oder flüchten können.
Diese Reaktionskette erfolgt blitzschnell – und lässt ebenso schnell wieder nach, wenn die Gefahr rasch gebannt ist oder sie sich als falscher Alarm herausstellt. Bei anhaltender Bedrohung dagegen schütten die Zellen der Nebennierenrinde zusätzlich das Hormon Kortisol aus, das verschiedene Stoffwechselprozesse aktiviert, um uns rasch mit Energie zu versorgen. Zucker und Fette gelangen ins Blut. So bereitet uns der Körper auf eine lange, heftige Anstrengung vor.
Dieser alte evolutionäre Mechanismus hat bereits unseren Vorfahren das Überleben gesichert. Er ist prinzipiell auch heute noch sinnvoll, auch wenn der Körperalarm inzwischen nur noch selten von einer direkten äußeren Gefahr, aber häufig vom Kopf her aktiviert wird: Allein die Vorstellung einer Bedrohung genügt, um die Stressreaktion auszulösen, automatisch und oft unbewusst. „Das ist keineswegs gesundheitsschädlich“, stellt Gert Kaluza klar. „Die Aktivierung des biologischen Stressprogramms steigert sogar unsere Leistung und Motivation.“
Dauerbelastung erhöht das Risiko
Stress wird erst zum Problem, wenn wir kaum noch zur Ruhe kommen – und das ist in der modernen Welt immer häufiger der Fall. Arbeitsabläufe haben sich beschleunigt, wir üben uns im Multitasking und ständig piepst das Smartphone. Der britische Arzt Rangan Chatterjee nennt stressige Alltagsreize Mikrostressoren. Dazu gehören zum Beispiel eine unbezahlte Rechnung, die genervte Reaktion des Partners oder der Anblick der ungeputzten Fensterscheiben. „Unablässig stürmt Mikrostress auf uns ein, selbst wenn wir den Eindruck haben, dass gar nichts Stressiges passiert“, schreibt er in dem Buch Der Anti-Stress-Plan. Mikrostressoren sind deshalb so störend, weil sie uns auffordern, etwas zu verändern, zu klären oder vorzubereiten. Für sich genommen wäre jede einzelne Aufgabe leicht zu bewältigen. In ihrer Gesamtheit können uns Mikrostressoren jedoch an unsere Grenzen bringen.
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Was können wir tun, wenn der Stress und die Anspannung einmal wieder überhandnehmen? Wir stellen Übungen vor, die helfen, Körper und Kopf zu entspannen in SOS-Übungen gegen den Stress.
Wird Stress chronisch, kehrt sich der positive Effekt der Körperantwort um. Die Daueranspannung schwächt den Organismus. Deutlich wird das bei den Auswirkungen des Hormons Kortisol. In einer gesunden Dosis regt Kortisol die Hirnregion Hippocampus an und hilft uns so beim Lernen. Außerdem wirkt es entzündungshemmend. Ist dagegen zu viel Kortisol über eine lange Zeit im Blut, hemmt es Merkfähigkeit und Immunsystem. Auf diese Weise kann chronischer Stress zu Gedächtnisstörungen und einer Anfälligkeit für Infektionen führen. Eine anhaltende Belastung erhöht zudem das Risiko für Dutzende weiterer Beschwerden von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen- und Darmleiden, Kopf- oder Rückenschmerzen über Allergien, Diabetes und Tinnitus bis zu Depressionen oder Angststörungen.
Dass Dauerstress krank macht, ist erst seit rund 100 Jahren bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts fiel dem amerikanischen Physiologen Walter Cannon auf, dass verängstigte (also gestresste) Katzen unter anderem unter Verstopfung litten und hohe Mengen Adrenalin im Blut hatten. Dazu passend fand in den 1930er Jahren der Biochemiker Hans Selye in Kanada heraus, dass Ratten auf verschiedenste Belastungen mit Magengeschwüren und schrumpfenden Lymphknoten reagierten. Selye fasste alle Formen der Belastung unter dem Begriff stress zusammen, dem englischen Wort für Spannung. Schnell stand fest, dass nicht nur der Organismus von Katzen und Ratten, sondern auch der menschliche Körper unter einer psychischen und körperlichen Daueranspannung leidet.
Termin beim Hausarzt
„Wann Stress schädlich wird, ist individuell unterschiedlich“, erläutert Stressforscher Gert Kaluza. Typische Warnzeichen seien etwa, „wenn jemand sich trotz ausreichend Schlaf morgens nicht erholt fühlt oder die Motivation und Begeisterung für das fehlen, was einem eigentlich guttut, zum Beispiel für Treffen mit Freunden.“ Dann bleiben Kraftquellen ungenutzt – und die Erschöpfung baut sich weiter auf. Beschwerden stellen sich ein, beim einen Kopf- oder Rückenschmerzen, bei der anderen Durchfall oder Herpes. „Jeder Körper hat eine Sollbruchstelle. Diese Organfunktionen und -systeme sind schwächer als andere. Auf sie sollte man achten“, so Kaluza.
Auch Isabel Eckhardt weiß um ihre körperlichen Schwachpunkte. „Ich hatte zunehmend Darmprobleme“, erzählt sie. Außerdem fielen ihr die Haare aus und sie litt unter Sehstörungen, einer sogenannten Augenmigräne. „Ich habe das zunächst ausgeblendet oder einfach akzeptiert.“ Doch irgendwann erkannte sie: „So kann es nicht mehr weitergehen“ – und vereinbarte einen Termin bei ihrem Hausarzt. Dieser empfahl ihr die Teilnahme an einem achtwöchigen Gesundheitskurs, um einen besseren Umgang mit dem Stress zu erlernen. Doch wie sollte sie sich die Zeit für den Kurs freischaufeln?
Die Dosis macht den Stress
Isabel Eckhardt fasste einen Entschluss: „Die wöchentlichen Termine wollte ich genauso wichtig nehmen wie meine Businesstreffen oder die Termine meiner Tochter beim Kinderarzt.“ Sie fragte ihre Eltern um Hilfe, die die Betreuung der Enkelin übernahmen. Daraufhin machte sie sich auf den Weg zum Kurs an der Universitätsambulanz für Integrative Gesundheitsversorgung und Naturheilkunde in Witten.
Die Einrichtung wird von dem Mediziner Tobias Esch geleitet, Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung. Esch erklärt, dass chronischer Stress auf Dauer immer schädlich sei. Einen „positiven Stress“ gebe es medizinisch gesehen gar nicht: „Wer Stress super findet oder überzeugt ist, alles schaffen zu können, zeigt letztlich die gleichen körperlichen Stresssymptome wie jemand, der sich belastet fühlt. Er kann langfristig ebenfalls chronisch krank werden oder sogar einen Herzinfarkt erleiden. Stress ist eine Frage der Dosis.“
Doch warum springt unser Alarmsystem im Körper selbst dann an, wenn wir eine anstrengende Situation genießen oder uns auf sie freuen? „Weil wir meinen, immer auf alle Eventualitäten vorbereitet sein zu müssen, auch auf die unangenehmen“, sagt Esch. Im Hintergrund lauern dann Befürchtungen wie: Wenn ich den Anforderungen nicht gerecht werde, könnte ich meinen Job verlieren. Wenn ich meinen Kindern kein frisches Essen koche, könnte ihr Wachstum leiden. Wenn ich der Freundin für heute Abend absage, könnte ich einsam und verlassen enden. „Sobald ich meine Aufmerksamkeit in die Zukunft richte, gehe ich meist in eine Art Alarmstellung, ich gehe aus meiner Komfortzone heraus“, erklärt Tobias Esch. Eine Strategie gegen Stress ist daher bestechend einfach: „Nicht in die Zukunft denken“, rät Esch. „Alles, was mich ins Hier und Jetzt bringt, ist tendenziell stressreduzierend.“
Die Entspannungsreaktion
Den Fokus auf die Gegenwart lenken und das Tempo des Lebens drosseln: Dabei helfen beispielsweise Achtsamkeit und Meditation. Sie sind Teil eines ganzheitlichen Ansatzes gegen Stress, den Tobias Esch etwa in seinem Buch Der Selbstheilungscode vorstellt und mit seinem Team in Kursen an Betroffene wie Isabel Eckhardt weitergibt. Das Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass Körper und Geist vielschichtig miteinander verwoben sind. Wer den Körper stärkt, baut auch seine psychische Widerstandskraft auf und kann dem Stresserleben im Alltag besser trotzen. Den Grundstein für diese Mind-Body-Medizin legte der US-amerikanische Kardiologe Herbert Benson mit seinen Studien an der Harvard Medical School in den 1970er Jahren. Er fand heraus, dass transzendentale Meditationsübungen (eine damals besonders beliebte Meditationsform) den Blutdruck und Sauerstoffverbrauch deutlich senken und zu einer allgemeinen Entspannung des Körpers führen können.
Die Befunde des Kardiologen belegten eindeutig, dass Menschen sich buchstäblich durch ihre Gedanken gezielt selbst beruhigen können. Diese Entspannungsreaktion des Organismus ist das Gegenstück zum körpereigenen Stresssystem. Beide Mechanismen wirken vom Gehirn aus über das autonome Nervensystem auf den Körper ein: die Stressreaktion über den aktivierenden Strang des Sympathikus, die Entspannungsreaktion über dessen Gegenspieler, den Parasympathikus. Dieser verlangsamt unter anderem Herzschlag und Atmung, kurbelt die Durchblutung in den Organen an und fördert so die Regeneration der Zellen. Hirnregionen, die unter Stress besonders aktiv waren, beruhigen sich. Der Körper schaltet auf Erholung um.
Die Entspannungsreaktion setzt – auch ohne bewusstes Zutun – normalerweise automatisch ein, wenn kurzfristiger Stress wieder nachlässt. Bei chronischem Stress dagegen verlernt der Organismus mit der Zeit, in den Regenerationsmodus zu wechseln. Viele Stressbewältigungstechniken zielen daher darauf ab, die Entspannung bewusst zu trainieren, bis der Körper sie wieder beherrscht.
Positive Effekt von Meditation
Nach Herbert Benson haben weitere Wissenschaftler den positiven Effekt von Meditation auf die Gesundheit bestätigt. In einer Studie heilten oberflächliche Hautwunden der Teilnehmer schneller, wenn diese vor oder nach der Verletzung zwanzig Minuten meditierten. Außerdem tut Meditation offenbar Hirnzentren wie dem Hippocampus und der Amygdala gut, die für das Gedächtnis und die Emotionen zuständig sind – und die besonders unter chronischem Stress leiden.
In einen meditativen Zustand gelangt der Körper zum Beispiel durch die Konzentration auf den Atem (siehe auch unser Themenheft Yoga, Meditation, Achtsamkeit aus der Reihe Psychologie Heute compact). Die Atemtechnik hilft vor allem Anfängern, sich nicht von den Gedanken ablenken zu lassen. „Wir können die Aufmerksamkeit am besten an Prozesse binden, die rhythmisch sind“, erklärt Tobias Esch das Prinzip. Bereits einige tiefe Atemzüge holen die Entspannung in den Körper zurück. Mediziner Esch empfiehlt, die Atemmeditation täglich für wenige Minuten zu üben und dabei intensiv jedem Atemzug im Bauch und in der Brust zu folgen: „Schon in Minute zwei fahren oftmals die Gedanken runter, die Schultern sinken, ich nehme das Vogelgezwitscher wahr… Es stellt sich ein Moment der Ruhe ein, ein inneres Lächeln – und das Gefühl von Kontrolle mitten im Chaos.“
Auch Achtsamkeit fördert die Entspannungsreaktion. Achtsamkeit bedeutet, offen und wach den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, zu beobachten statt zu bewerten, unaufgeregt statt hektisch. Wer achtsam durch das Leben geht, wird aufmerksamer für die kleinen Empfindungen und Sinnesreize – auch im eigenen Körper. Dann wird spürbar, dass einem der Stress längst im Nacken sitzt, Verspannungen verursacht, auf den Magen schlägt, die Stirn in Falten legt oder den Rücken krümmt. Plötzlich fällt auf, dass es am Stress liegen könnte, dass der Blutdruck trotz Medikamenten nicht sinken will, die Ohren rauschen und die Stimmung ständig angespannt und gereizt ist. Auf diese Weise kann Achtsamkeit im Alltag das Fundament bilden, die Überlastung zu erkennen und herauszufinden, was einem guttun könnte. Wer sich zumindest für einen kurzen Moment von der Angst um morgen und der Last von gestern befreit und sich selbst Aufmerksamkeit schenkt, lässt den Trubel kurzzeitig hinter sich – und sieht Zusammenhänge und Prioritäten klarer.
Im Alltag keine Ruhe
Die Theorie klingt einfach, die Praxis erfordert jedoch Übung. Wer das Leben achtsamer gestalten möchte, sollte klein anfangen – bei der bewussten Wahrnehmung einzelner Situationen. „Achtsamkeit entsteht, wenn ich sinnlich werde“, sagt Tobias Esch. Wenn ich den Vögeln lausche, die Wärme der Sonne auf der Haut spüre und mich über das Lachen der Kinder freue, sprich: wenn ich genieße. Auch Mahlzeiten sollten bewusst und langsam eingenommen werden, ohne Ablenkung von Smartphone oder Fernseher (weitere Ideen für mehr Achtsamkeit im Alltag: siehe Kasten Seite 24).
Achtsamkeit und Meditation lassen sich mithilfe von (Online-)Kursen, speziellen CDs und Apps oder im Rahmen des Anti-Stress-Programms Mindfulness Based Stress Reduction einüben, das viele Krankenkassen anbieten. Auch die Entspannungsverfahren des autogenen Trainings und der Bodyscan lenken die Aufmerksamkeit weg vom Stress und hin zum Körper. Dabei nehmen die Übenden ihre Körperteile nacheinander wahr und entspannen sie bewusst über ihre Gedanken, etwa: „Ich spüre, wie beide Beine wohlig warm sind.“
Isabel Eckhardt erinnert sich an ihren Gesundheitskurs zurück, in dem sie verschiedene Verfahren gegen den Stress kennenlernte: „Bei den ersten drei Kursterminen war ich viel zu müde, um mich auf die Inhalte zu konzentrieren.“ Doch sie genoss die Zeit für sich und den Abstand zum Alltag. Während sie für den Kurs unterwegs war, tankte sie Kraft und konnte schließlich klarer sehen, was ihr zur Erholung fehlte. „Ich brauche schnelle Entspannung“, sagt sie. „Für zeitaufwendigere Methoden wie den Bodyscan habe ich im Alltag keine Ruhe.“ Besonders gut gefielen ihr die Atemübungen. Sie erkannte: „Als ich gestresst war, fehlte mir die Puste. Ich habe streckenweise kaum mehr geatmet.“ Mit Lippenstift schrieb sie den Hinweis „Atmen!“ auf ihren Badezimmerspiegel. „Heute atme ich bewusst immer wieder überall und zwischendurch tief in den Bauch und blähe die Lunge auf“, erzählt sie. „So kann ich mich schnell runterholen, bevor ich überdrehe.“ Mit kurzen Meditationen über eine App schaltet sie in turbulenten Zeiten abends besser ab.
In Bewegung kommen
Techniken der inneren Einkehr sind nicht die einzigen Mittel gegen Daueranspannung. „Alles, was den Körper in Bewegung bringt, baut ebenfalls Stress ab“, sagt Tobias Esch. Denn Stress bereitet uns auf Aktivität vor. Oft bewegen wir uns aber nicht, wenn wir unter Strom stehen, sondern sitzen mit rauchendem Kopf am Schreibtisch. Dann hilft schon ein zügiger Gang um den Block, aufgestauten Druck und Dampf abzulassen und anschließend erfrischt weiterzuarbeiten.
Noch besser ist regelmäßiger Sport. Dabei lernt das Herz, sich nach großer Anstrengung schnell wieder zu beruhigen und in den Ausgangszustand zurück zu gelangen. Durch die gewonnene Variabilität im Puls schalten wir besser ab. Außerdem bauen wir beim Sport die durch Stress freigewordenen Fette und Zucker im Blut ab, was uns langfristig gesund hält. In der Gleichförmigkeit der Bewegung kommen wir in einen Flow, die Aufmerksamkeit rastet im Hier und Jetzt ein – Sport ist also eine Art bewegte Meditation. „Zusätzlich aktivieren körperliche Übungen das Belohnungssystem im Gehirn und stärken so die Resilienz, die geistige Flexibilität und Widerstandskraft“, erläutert Esch. Und wer sich anstrengt, kann sich anschließend besser erholen. Dieses Prinzip nutzt auch die progressive Muskelentspannung. Nacheinander spannen die Übenden dabei einzelne Körperteile an und entspannen sie danach bewusst wieder. So stellt sich schließlich ein intensives Gefühl der Ruhe ein.
Meine Sicherheitszonen
„Wir sollten auch langfristig im Alltag auf einen guten Wechsel von Phasen der Anspannung und der Entspannung achten, um den Stress im Zaum zu halten“, rät Gert Kaluza. Wer in seinem Job sehr aktiv und unter Menschen sei, erhole sich eher in der Stille. Wer dagegen den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitze, entspanne am besten durch Bewegung.
Doch woher die Zeit für Auszeiten nehmen, wenn der Terminkalender bereits übervoll ist? Die Psychologin Christina Lohr beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Raum für Entspannung im Alltag entstehen kann. Sie arbeitet in München in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Coach und hat beobachtet: „Menschen sind in Hochstressphasen für viele Methoden nicht zugänglich.“ Stress erzeuge ein Bedrohungsgefühl im Körper, das einem die Kraft für Veränderungen nehme, da sich alle Aufmerksamkeit und Energie auf die Gefahrenquelle richte. Deshalb sei es wichtig, zunächst ein Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen.
Die Psychotherapeutin arbeitet mit Embodimenttechniken, also Methoden, die über den Körper auf den Geist zurückwirken. Forschung zum Embodiment hat unter anderem gezeigt, dass Menschen einen Bereich um ihren Körper herum als zu ihnen gehörig wahrnehmen, wie eine persönliche Sicherheitszone. Dringt jemand oder etwas in diesen Raum ein, fühlen wir uns körperlich unwohl und gehen in Alarmbereitschaft (in Coronazeiten ganz sicher umso mehr).
Weniger ist mehr
Christina Lohr überträgt dieses Konzept auf ihre therapeutische Arbeit: Mit einem Seil oder Faden legen ihre Klientinnen und Klienten einen Kreis um sich herum, in dem sie sich entspannen und zur Ruhe finden können. Bewusst spüren sie in sich hinein, um dieses Gefühl im Körper zu verorten. Erst wenn der eigene Sicherheitsraum gefunden ist, probiert Christina Lohr mit ihnen Achtsamkeitsverfahren wie den Bodyscan aus. „In einem zweiten Schritt fragen wir uns, was jemand tun muss, um sich diesen sicheren Raum auch im Alltag zu schaffen“, erläutert Lohr. Wie müsste das Büro gestaltet sein, damit ich mich zwischendurch erholen kann? Wo in der Wohnung habe ich einen Ort, an dem ich die nötige Ruhe für meine Atem- oder Meditationsübungen finde?
Am Anfang eines gesunden Umgangs mit der täglichen Belastung steht die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers. Darauf folgt der Wille zur Veränderung. Ist er stark genug, gewinnen die Strategien gegen den Stress an Priorität – und wir nehmen uns bewusst die Zeit dafür. „Weniger ist mehr“, betont Christina Lohr. „Ich empfehle, ein oder zwei Methoden auszuwählen, die wirklich zu einem passen, und sie längere Zeit zu üben.“ Dabei könne es helfen, neue Verhaltensweisen an alte Routinen zu knüpfen. Wer morgens immer Tee trinkt, kann eine Atemübung machen, bis das Wasser kocht. Wer abends duscht, kann den Körper im Anschluss achtsam eincremen und dabei bewusst den Nacken entspannen (weitere Übungen gegen den Stress: siehe Kasten auf Seite 23). Anderen helfe es, sich während der Arbeit alle zwei Stunden einen Wecker zu stellen, um sich dann bewusst in ein kurzes Entspannungsritual zu begeben. „Solche Termine sind wie Tankstellen für die Seele und den Körper zugleich“, so Lohr.
Isabel Eckhardt erholt sich heute nicht nur durch die Atemtechniken und Kurzmeditationen, sondern nutzt bei Bedarf auch die progressive Muskelentspannung zum Einschlafen. Ihre körperlichen Beschwerden sind inzwischen fast vollständig verschwunden. „Ich fühle mich wie ein anderer Mensch, schlafe gut und ruhe in mir“, erzählt sie. In ihrem Alltag versucht sie, achtsam für sich selbst zu sorgen und die kleinen Freuden im Leben zu genießen, aber ohne Druck: „Fünf Minuten entspannte Zeit für mich sind schon mehr, als ich mir früher genommen habe.“ Ist absehbar, dass ein Tag besonders anstrengend werden wird, absolviert sie schon morgens ein paar Übungen, weitet den Brustkorb, streckt sich in die Länge, atmet tief und lächelt dann ihrem Spiegelbild entgegen. „Ich weiß, wie ich mich stärken kann. Das entlastet mich und es gibt mir neue Energie“, erzählt sie. Das große Neubauhaus hat sie inzwischen verkauft und zieht bald mit ihrer Tochter in eine kleinere Wohnung. „Ich werfe Ballast ab“, sagt sie. Gerade hat sie ein altes Hobby wiederentdeckt, das Malen. „Ich bin ganz erstaunt, wie viel Zeit ich plötzlich für Dinge finde, die ich mir früher nie gegönnt hätte.“
Quellen
Tobias Esch: Der Selbstheilungscode. Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit. Beltz, Weinheim 2017
Gert Kaluza: Gelassen und sicher im Stress. Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen. Springer, Berlin 2018 (7. Auflage)
Rangan Chatterjee: Der Anti-Stress-Plan. In 4 Schritten zu mehr Gelassenheit und Gesundheit. Goldmann, München 2020
Gernot Hauke, Christina Lohr: Emotionale Aktivierungstherapie (EAT). Embodiment in Aktion. Klett-Cotta, Stuttgart 2020
Psychologie Heute compact 60: Yoga, Meditation, Achtsamkeit.