Viele Jahre hielt Tanja Bartos (Name geändert) sich selbst für wenig belastbar. Sobald sich die 42-Jährige auf Feiern oder Tagungen in großen Gruppen aufhielt, fühlte sie sich nach kurzer Zeit müde und überfordert. Außerdem redete sie dort, wie auch sonst, nicht viel, es fiel ihr schwer, mit Fremden in Kontakt zu kommen. Und als die Architektin zu Beginn ihres Berufslebens zunächst in einem Großraumbüro landete, konnte sie sich nur mit großer Mühe konzentrieren. „Dass ich mich dort kaum arbeitsfähig…
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dort kaum arbeitsfähig fühlte, hat mich sehr beschäftigt“, erzählt Bartos im Nachhinein. „Ich fragte damals zum ersten Mal ernsthaft: Was ist eigentlich mit mir los?“ Sie begann, Bücher über Schüchternheit und Sensibilität zu lesen, suchte nach Antworten. Heute, mehrere Jahre später, weiß sie, dass sie introvertiert ist. Eine stille Person, eine, die lieber nachdenkt als redet und nicht gern mit vielen Menschen gleichzeitig zu tun hat. Am liebsten verbringt sie viel Zeit allein.
Menschen wie Tanja Bartos halten sich oft für seltsam oder „nicht richtig“. Das ist kein Wunder, denn bis vor wenigen Jahren galten die Eigenschaften stiller Zeitgenossen oft als Schwäche, Schüchternheit oder Empfindlichkeit. In einer Gesellschaft, die Extraversion, die Fähigkeit zur Geselligkeit und Selbstdarstellung, zum Ideal erhebt, wurde ein ruhiges Temperament häufig abgewertet, beargwöhnt oder pathologisiert. Doch inzwischen hat sich die Wahrnehmung verändert: Zahlreiche Fach- und Sachbücher sowie Studien heben heute die Stärken der leisen Menschen hervor, es werden Kurse und Seminare zum Thema angeboten, in einigen Unternehmen gibt es mittlerweile Coachings für die erfolgreiche Zusammenarbeit von introvertierten und extravertierten Mitarbeitern. Auch Prominente bekennen sich zur Introversion, etwa Hillary Clinton, Bill Gates oder der Schauspieler Matthias Brandt, der sich im Rückblick auf seine Kindheit als „sehr schüchternen Jungen“ beschreibt und sich in seiner Arbeit bis heute als jemand sieht, der sich eine Rolle langsam und systematisch erarbeitet, statt spontan draufloszuagieren. „Es findet ein Prozess der Bewusstwerdung statt“, sagt die Kommunikationstrainerin Sylvia Löhken, Autorin des Sachbuchs Leise Menschen – starke Wirkung (Piper 2015). Immer wieder erlebt Löhken in ihren Beratungen, dass Introvertierte mittlerweile eher glauben können, dass sie vielleicht doch normal sind – obwohl sie nicht gern mit Fremden reden und lange Meetings oder laute Partys nicht gut aushalten. „Aus dieser Sichtweise heraus fällt es Introvertierten oft leichter, ihre Eigenarten anzunehmen – und für sich zu nutzen“, sagt Löhken.
Es geht um Selbstakzeptanz
Dass die Stillen ihre Stärken entdecken, ist für Sylvia Löhken eine überfällige Entwicklung. Denn eins ist klar: Introvertierte sind keinesfalls seltsame Vertreter einer Minderheit. Je nach Statistik sind zwischen 30 und 50 Prozent aller Menschen introvertiert – unabhängig von der Kultur, in der sie leben. Das heißt: In asiatischen Ländern, in denen Schweigen und Zurückhaltung als Stärke gelten, ist Introversion ähnlich verbreitet wie im extravertierten Amerika – auch wenn man berücksichtigt, dass die einschlägigen Fragebögen in den Ländern unterschiedlich „geeicht“ sind. Das deutet darauf hin, dass es nicht vornehmlich mit Prägung oder Erziehung zu tun hat, welches Temperament jemand entwickelt. Als Persönlichkeitsmerkmal der Big-Five-Skala, die unsere fünf wichtigsten Charaktereigenschaften misst, ist Introversion wie alle anderen dort gemessenen Eigenschaften (Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus, Offenheit für Neues, Verträglichkeit) zu mindestens 50 Prozent genetisch festgelegt. Der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf, der an der Humboldt-Universität zu Berlin zu dem Thema forschte, sagt: „Alle Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften sind lebenslang weitgehend stabil.“ Temperament ist also kaum veränderbar. „Es geht daher um Selbstakzeptanz“, rät Asendorpf. Es ist also nicht sinnvoll, sich selbst zu einem Vielredner umerziehen zu wollen oder zur Geselligkeit zu ermahnen.
Neurowissenschaftliche Studien zeigen, wie fest verankert das stille oder laute Temperament ist. Die Psychologin Debra Johnson von der Universität of Iowa etwa untersuchte die Gehirndurchblutung bei Introvertierten und Extravertierten. Sie stellte fest, dass die Gehirne der Introvertierten insgesamt stärker durchblutet sind, also ständig eine höhere Aktivität aufweisen. Bei Introvertierten fließt das Blut außerdem durch viele unterschiedliche Hirnareale, vor allem solche, die mit Planung, Gedächtnis und Problemlösen zu tun haben. Bei Extravertierten sind dagegen verstärkt Bereiche durchblutet, in denen akustische, visuelle und andere Sinneseindrücke verarbeitet werden. Die Studie zeigt letztlich, dass Introvertierte intensiver denken, mehr Informationen einbeziehen und dass ihre Denkprozesse längere Schleifen im Gehirn ziehen. Extravertierte denken dagegen knapper und schneller.
Die Befunde bilden ab, was viele stille Menschen empfinden: dass sie nämlich auf Fragen anderer oft nicht sofort antworten können, sondern „eine lange Leitung“ haben. Durch Studien wie die von Debra Johnson wird deutlich: Diese Langsamkeit hat nichts mit mangelnder Intelligenz oder Zerstreutheit zu tun. Sie spricht eher für eine hohe Qualität und Substanz von Gedanken und Überlegungen. Dazu passt auch das Ergebnis einer anderen Untersuchung, in der belegt wurde, dass Extravertierte in Gruppenaufgaben besonders schnell arbeiten und viel diskutieren, Introvertierte aber oft besonders konstruktive, innovative Lösungsvorschläge machen.
Introvertierte denken tiefer
Mittlerweile ist klar, dass es neben der Tiefe und Qualität von Gedanken noch eine ganze Reihe von Stärken gibt, die bei Introvertierten besonders ausgeprägt sind (siehe Kasten). Zu den wissenschaftlich gut belegten und oft angeführten gehören etwa Vorsicht, analytisches Denken, Konzentration und Beharrlichkeit. „Für Introvertierte geht es oftmals darum, ihre Stärken überhaupt erst einmal konkret als solche zu erkennen“, erklärt Sylvia Löhken. „Denn häufig haben sie ja das Gefühl, dass ihre Eigenarten eher Defizite sind.“ Der zweite Schritt sei dann, sich klarzumachen, auf welche Weise man die besonderen Talente konkret in Beruf oder Privatleben zur Geltung bringen kann. Die Schlüsselfrage dabei: Wie kann ich meine Stärke kommunizieren? Denn tatsächlich ist unsere Gesprächskultur sehr an den Kommunikationsvorlieben der Extravertierten orientiert. Ob Volksfest oder Hochzeitsfeier, Konferenz oder Klassenraum – oft geht es darum, schnell und lautstark seine Meinung zu sagen, Wissen kundzutun, Sympathien zu zeigen. Für Introvertierte, die Wert legen auf Substanz und Tiefe ihrer Gedanken, heißt das in der gängigen Kommunikationspraxis: „Sie brauchen Kniffe und Tricks, mit denen sie trotz der hohen Kommunikationsgeschwindigkeit ihre Gedanken äußern können“, sagt Löhken. Bewährt habe sich etwa bei vielen ihrer Klienten, dass sie in Jobzusammenhängen alle Meetings vorher kurz vorbereiten und die wichtigsten zwei oder drei Gedanken schon mal auf einen Zettel schreiben. Diese Punkte gelte es dann vorzutragen, am besten gleich zu Beginn der Sitzung, wenn alle noch frisch sind. Eine gute Vorbereitung kann also die relative Langsamkeit ausgleichen. „So stellen Introvertierte ihre guten Gedanken vor anderen dar – ohne sich zu hetzen“, sagt Löhken.
Dass Introvertierte in beruflichen Zusammenhängen mit ihren stillen Fähigkeiten glänzen können, zeigen heute verschiedene Studien. So untersuchte der Wirtschaftswissenschaftler Steven N. Kaplan von der Booth School of Business in Chicago jüngst zusammen mit Kollegen, wie es sich auf den Erfolg von 4591 verschiedenen US-Unternehmen auswirkte, wenn sie von introvertierten oder extravertierten Managern angeführt wurden. Entgegen der Klischees zeigten die stilleren Spitzenmanager bessere Bilanzen, sie präsentierten bessere Zahlen und gaben weniger Geld aus. Extravertierte Manager neigten dagegen eher dazu, großzügig investiertes Geld nicht wieder „reinzuholen“.
Erfolgreich durch Vorsicht
Die guten Ergebnisse der introvertierten Chefs stehen in Zusammenhang mit einer weiteren typischen Stärke der Stillen: Vorsicht. Auch diese Eigenschaft wirkt zunächst unspektakulär. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber: „Vorsichtige Menschen denken nicht nur länger nach und kalkulieren Risiken anders, sie sind auch diplomatischer, hören gut zu“, erklärt Sylvia Löhken. Vorsicht sei deshalb sowohl im Miteinander im Team als auch in Entscheiderpositionen hilfreich. Sogar im Kundenkontakt ist Vorsicht eine gewinnende Eigenschaft – denn sie schafft Vertrauen. „Ein introvertierter Verkäufer hört zu, welche Bedenken die Kunden haben, und er kann darauf wahrscheinlich auch Antwort geben – weil er sich selbst bereits ähnliche Gedanken gemacht hat.“ So entstehe eine hohe Glaubwürdigkeit für das Produkt, und im Kontakt fühle sich das Gegenüber verstanden.
Dass durch aufmerksame Vorsicht auch mehr gute Ideen ins Team kommen, belegt eine weitere Studie. Adam Grant, Professor für Management an der University of Pennsylvania, führte ein Experiment mit 163 Versuchsteilnehmern durch, die unterschiedlich stark introvertiert und extravertiert waren. Die Teilnehmer sollten je eine Kleingruppe anleiten, einen großen Haufen Wäsche zu falten. In jede Gruppe wurde unbemerkt ein Assistent des Versuchsleiters eingeschleust, der eine spezielle Technik beherrschte, mit der das Falten blitzschnell ging. Trug dieser Assistent seinen Vorschlag einem extravertierten Gruppenleiter vor, wischte dieser den Einwand weg: Man müsse schnell weiterkommen. Introvertierte Gruppenleiter hörten sich den Vorschlag an und übernahmen ihn – ihre Gruppen wurden so viel schneller mit der Aufgabe fertig. Die aufmerksame, vorsichtige Art der Stillen scheint also dazu zu führen, dass sie Impulse und gute Ideen eher erkennen – denn es gibt mehr Raum dafür. „Vorsicht, Ruhe und Substanz sind Eigenschaften, die Introvertierte im Beruf besonders erfolgreich einbringen können“, fasst Sylvia Löhken zusammen.
Können Zurückhaltende führen?
Die Hamburger Karriereberaterin Svenja Hofert stimmt dieser Einschätzung grundsätzlich zu. Doch ist sie skeptisch, wie weit Unternehmen oder Institutionen tatsächlich sind, Introvertierte und ihre Stärken zu schätzen. „Es gibt nach wie vor ein bestimmtes Klischee, wie eine gute Führungskraft oder ein einflussreicher Mitarbeiter auszusehen hat“, berichtet Hofert. „Schnell und viel reden, rasch entscheiden und ein dominantes Auftreten gehören dazu.“ Hoferts Einschätzung nach muss eine stille Person, die in einem Team oder Kollegium Einfluss nehmen will oder offiziell Führung übernimmt, zusätzlich auch das Bedürfnis nach Einflussnahme mitbringen. Und sie sollte sich nicht nur auf ihre introvertierten Stärken verlassen, sondern sich auch kommunikativ in Bereichen fit machen, die ihr nicht so liegen – wie etwa Präsentieren und Argumentieren. „Vorsicht und Substanz sind für viele Situationen super, aber nicht für alle“, findet Hofert. Dass auch stille Menschen überzeugende Redner sein können, davon ist Hofert überzeugt: Wichtig sei, dass sie beim Reden vor Gruppen gut vorbereitet sind, weil sie nicht so leicht improvisieren können wie Extravertierte. Hilfreich sei auch, sich für Vorträge oder Präsentationen Themen auszusuchen, in denen man sich gut auskennt. Das schaffe ein Gefühl von Sicherheit.
Aber schlägt Vorsicht nicht leicht in Angst um? Und sind Introvertierte nicht generell schüchterner, schneller überlastet und überreizt als laute Zeitgenossen – egal ob im Beruf oder im Privatleben? Diese Fragen, die Sylvia Löhken oft hört, wenn sie Vorträge oder Seminare hält, sollte man differenziert betrachten: Es ist nichts als ein hartnäckiges Gerücht, dass Introvertierte ängstlicher seien als Extravertierte. Beim Ausmaß der sozialen Angst oder Schüchternheit spielt es nach heutigem Forschungsstand keine Rolle, ob man ruhig oder lebhaft ist, nach innen oder nach außen gerichtet.
Auch sind Introvertierte keinesfalls zwingend hochsensibel. Was allerdings als gesichert gilt: Introvertierte Menschen können laute Geräusche, Trubel, viele Reize und Überraschungseffekte tatsächlich weniger gut vertragen als Extravertierte. Sie sind manchmal schon von minimalen Reizen überfordert: Eine Studie des Psychologen Russell Geen, die im Journal of Personality and Social Psychology veröffentlicht wurde, bestätigt das: Introvertierte und Extravertierte sollten dort einmal mit Hintergrundmusik und einmal in aller Stille Matheaufgaben lösen. Während Extravertierte mit Musikuntermalung bessere Leistungen brachten, waren Introvertierte schon von leiser Musik so abgelenkt, dass sie viele Fehler machten. Und das, obwohl konzentriertes Arbeiten eigentlich ihre Stärke ist. Diese schnelle Überstimulation stiller Menschen ist sicherlich der Hauptgrund, warum sie Partys, Volksfeste oder Vergnügungsparks meiden. Manchmal wird dieses Verhalten fälschlicherweise als Desinteresse an sozialen Kontakten gedeutet. Doch auch Introvertierte treffen sich gern mit anderen und entspannen sich im Kontakt – aber lieber im Eins-zu-eins-Gespräch oder in vertrauten Cliquen. Extravertierte, die sich in tumultartigen Situationen gleichermaßen vergnügen wie entspannen, können die Introvertierten in diesem Punkt oft nicht verstehen.
Ein sensibles Nervensystem
Das grundverschiedene Erleben in Bezug auf Außenreize ist auch physiologisch begründbar. Das autonome Nervensystem funktioniert je nach Temperament anders: Bei Extravertierten ist der nach außen gerichtete Sympathikus aktiver, sie fühlen sich wohl, wenn dieser durch den Neurotransmitter Dopamin „angeknipst“ wird. Und der wird immer ausgeschüttet, wenn wir Abenteuer erleben, es laut und wuselig zugeht. Für Extravertierte also genau das Richtige. Introvertierte dagegen sind im Gleichgewicht, wenn der nach innen gerichtete Parasympathikus aktiv ist und der Neurotransmitter Acetylcholin ausreichend vorhanden ist – der nur in Ruhesituationen ausgeschüttet wird. Auf Dopamin reagieren die Hirne der Introvertierten dagegen sehr sensibel: Wird es in trubeligen Situationen ausgeschüttet, fühlen stille Zeitgenossen sich sofort müde, überreizt, überfordert.
Die Psychotherapeutin Marti Olsen Laney, Autorin des Sachbuches Die Macht der Introvertierten (Hogrefe, Göttingen 2015), sieht in dieser unterschiedlichen Funktionsweise des autonomen Nervensystems den wichtigsten – und oft auch erst einmal trennenden – Unterschied zwischen beiden Temperamenten. Sie sagt: „Menschen die eher introvertiert sind, richten sich nach innen, um Energie zu gewinnen. Extravertierte wenden sich dagegen nach außen, wenn sie Energie gewinnen wollen.“ Wer sich selbst nicht sicher sei, ob er tendenziell zu den leisen oder lauten Typen gehört, solle sich immer fragen: Was verleiht mir Energie? Das Alleinsein oder die Gesellschaft? Das gebe erste Anhaltspunkte, wo man im Spektrum zwischen ganz introvertiert und ganz extravertiert selbst steht. Behalte man diese Frage im Hinterkopf, verstehe man auch eher, wie unterschiedlich die Bedürfnislagen von stillen und lauten Menschen im Alltag sind.
Das heißt aber nicht, dass Introvertierte gar keinen Trubel aushalten. Die Dosis ist nur eine andere. „Introvertierte brauchen schlicht mehr Pausen und längere Ruhezeiten“, sagt Sylvia Löhken. Auch hier gilt: Wer das von sich weiß, kann mit der Gefahr der Überstimulation umgehen, sich rechtzeitig zurückziehen, um aufzutanken. Nach Löhkens Erfahrung reichen oft kleine Auszeiten, die man in den Alltag einstreut oder in denen man sich aus lauten Gesellschaften zurückzieht. Auch wenn stille Menschen im Großraumbüro arbeiten, sollten sie sich mehr Unterbrechungen gönnen – oder, wenn es passt, mit Kopfhörern arbeiten. Besonders exotisch sei der Wunsch nach Ruhe heute nicht mehr: „Sehr viele Menschen sehnen sich nach Ruhezeit und Pausen. Und wünschen sich, dass diese selbstverständlicher werden“, sagt Löhken. In dem Punkt können Introvertierte, die ihre Grenzen eher spüren und deshalb konsequenter Pausen machen, möglicherweise Vorbilder für Extravertierte sein, die sich in Hektik und Dopaminrausch oft über die Maßen verausgaben. Das wäre letztlich ein Punkt, an dem die Stillen sich mehr zeigen könnten – und mit ihren besonderen Antennen für Lärm und Hektik mehr Bedächtigkeit und Ruhe in Teams, Gesellschaften und Freundeskreise bringen könnten.
Die Zeit der Introvertierten beginnt erst
Nimmt man alle Fakten zum Thema „stille Menschen“ zusammen – von der genetischen Prägung des Temperaments bis hin zur Selbstverständlichkeit, mit der Introvertierte gerade lernen, ihre Stärken zu nutzen und zu entwickeln, stellt sich die Frage, wie es überhaupt so lange zu einer solchen Dominanz der Extraversion kommen konnte. In Susan Cains Buch Still (Goldmann, München 2013) wird deutlich, dass dies vor allem historische Gründe hat. In einem Land wie Amerika, in dem alle möglichen einander fremden Menschen eine Nation bilden mussten, war die Fähigkeit, auf Fremde zuzugehen und sich gesellig zu zeigen, ein hohes Gut. Die frühe Ratgeberliteratur in den USA, etwa Dale Carnegies Wie man Freunde gewinnt (S. Fischer, Frankfurt a. M. 2011), spiegelt genau dieses Extraversionsideal wider. Dem Typ des blendend gelaunten, mit allen Geschäfte machenden Amerikaners, der genau deshalb gut durchkommt, eiferten Millionen Menschen nach. Hierzulande ist dieses Ideal nie so ausgeprägt gewesen. Doch auch in Europa sei es mit der zunehmenden Industrialisierung und der Auflösung dörflicher Strukturen im 19. Jahrhundert immer wichtiger geworden, dass man schnell Kontakt mit Fremden aufnehmen könne, sich mit immer neuen Menschen rasch arrangiere, ergänzt Sylvia Löhken.
Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – unser Lebenstempo heute noch höher ist und die meisten von uns täglich mehr Menschen sprechen als Generationen vor uns, gibt es mittlerweile einen Gegentrend, eine Art neue Entdeckung der Langsamkeit und der Stille. Wir merken deutlicher, dass es beides geben muss: Geselligkeit und nachdenkliche Innenschau. Trubel und Ruhe. Diese Entwicklung ist erst am Anfang. So steht zu vermuten, dass die eigentliche Hochzeit der Introvertierten gerade erst anfängt. PH
Ein gutes Paar
Besonders in Partnerschaften führen Unwissen und Unverständnis der Temperamentsunterschiede oft zu Reibereien. Wenn sich Intros allein in der Stille entspannen und Extras in Trubel und Gesellschaft, kann man sich leicht vorstellen, wie viele schwerwiegende, oft unbewusste Interessenskonflikte zwischen Partnern entstehen. So hätten Paare, bei denen einer eher still, der andere eher laut ist, oft riesige Probleme bei der Urlaubsplanung, erzählt die Expertin Marti Olsen Laney aus ihrer Praxis. Während der Extravertierte gern Aktion und Abenteuer auf einem neuen Kontinent möchte, will der Introvertierte vielleicht immer an den gleichen Ort an die Nordsee fahren. Auch die Vorstellungen vom erholsamen Wochenende sehen bei solchen Partnern recht unterschiedlich aus. Dennoch macht Marti Olsen Laney den Paaren Mut: Mit Kompromissen, Gesprächen und Verständnis füreinander kämen sie weiter. Eine praktische Lösung wäre: Mal fährt man in die Karibik, mal an die Nordsee. Oder: Wenn der Extravertierte auf eine Party geht, bleibt der Introvertierte zu Hause. Ein Fels in der Brandung
Ein Vorteil von Intro-Extra-Paaren ist laut Marti Olsen Laney, dass sie sich anziehend finden und einander immer wieder neu in Erstaunen versetzen und inspirieren: „Der ruhige Intro und der lebhafte Extra bilden auch ein gutes Paar, weil sie sich ergänzen“, sagt Olsen Laney. Einfacher haben es gleichschwingende Paare übrigens nicht: Reine Intro-Pärchen verstehen sich zwar gut und ohne viele Worte – aber igeln sich oft gemeinsam zu sehr ein. Und Paaren, bei denen beide sehr extravertiert sind, fehlt oft die gemeinsame Ruhezeit.
Auch Freundschaften profitieren, wenn leise und laute Menschen reflektierter mit ihren Eigenschaften umgehen und die des anderen wertschätzen. „Introvertierte sind beispielsweise für Partner, Freunde und Bekannte oft der Fels in der Brandung“, sagt Sylvia Löhken. „Sie können zuhören und verbreiten Ruhe.“
PLUSPUNKTE
Je nach Persönlichkeit sind bei Introvertierten unterschiedliche Stärken besonders ausgeprägt. Hier finden Sie die zehn wichtigsten. Sie werden sowohl von US-Experten wie Marti Olsen Laney als auch von der Autorin Sylvia Löhken immer wieder aufgegriffen.
Vorsicht: Auf Sicherheit bedacht sein und mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Führt zu einer taktvollen, sogar diplomatischen Kommunikation. Außerdem werden Risiken gut kalkuliert, bevor man in Aktion tritt. Wirkt auf andere zwar oft etwas „bedächtig“, schafft aber Vertrauen und eine respektvolle Atmosphäre.
Substanz: Inhaltsreiche Gespräche führen, eine Vielzahl eigener Erfahrungen, Gedanken, Informationen einbringen, Qualität und Tiefe von Ideen garantieren.
Konzentration: Sich in ein Thema vertiefen können. Energie gezielt nach innen lenken. Das Wesentliche erkennen.
Zuhören: Wer zuhört und beobachtet, bekommt nicht nur viel mit, er lernt auch viel und weiß irgendwann viel. Und er gibt anderen ein gutes Gefühl in Gesprächen.
Ruhe: Wer sie bewusst spürt, kann klar und besonnen mit anderen sprechen, beruflich und privat Gelassenheit verbreiten.
Analytisches Denken: Fehler finden, Widersprüche aufdecken, komplexe Zusammenhänge verstehen.
Unabhängigkeit: Wer nicht abhängig von der Meinung anderer ist, kann vorbehaltlos und besonnen entscheiden. Große Selbständigkeit und Unbestechlichkeit in engen Beziehungen und Freundschaften.
Beharrlichkeit: Geduld haben. Mit langem Atem bei einer Sache oder an einer Beziehung bleiben, die einem wichtig ist.
Schreiben: Viele stille Menschen können sich schriftlich sehr gut ausdrücken. Es fällt ihnen oft leichter, als zu reden. Mails, Briefe, Berichte, all das liegt Introvertierten.
Einfühlungsvermögen: Sich in die Lage des Kommunikationspartners versetzen können. Konflikte oder Kritik vermeiden oder schnell ausräumen. Kompromissbereitschaft.
Stille Kinder
Kinder scheinen mit ihrem introvertierten Temperament oft auf besonders große Widerstände zu stoßen. Susan Cain bekam nach ihrem Bestseller Still unzählige Briefe, in denen Leser schrieben: „Hätte ich das alles doch schon gewusst, als mein Kind noch zur Schule ging!“ Oder: „Hätte ich dieses Wissen doch gehabt, als ich Jugendlicher war!“ Die Autorin hat deshalb ein Buch speziell für Kinder und Jugendliche und den Umgang mit ihrem leisen Temperament geschrieben: Still und Stark. Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher (Goldmann, München 2017). Darin gibt sie Tipps für verschiedene Bereiche. Hier drei Beispiele:
Wortbeiträge im Unterricht: Sich auf schnelle Fragen eines Lehrers hin in einer lauten Gruppe zu melden ist für introvertierte Kinder schwer. Bei Grundschülern hilft es da, als Eltern vorher mit dem Kind auszumachen, dass es versucht, sich zwei- oder dreimal pro Stunde zu melden. Es darf dabei eigene Stärken nutzen, zum Beispiel selbst Fragen stellen, statt Blitzantworten zu liefern. Auch das Melden bei Standardbeiträgen wie Hausaufgaben oder Vokabeln fällt stillen Schülern oft leichter – weil sie diese in Ruhe vorbereitet haben.
Umgang mit Partys: Jugendliche treffen sich häufig auf lauten Feiern und Partys. Für Introvertierte ist das oft schwer. Was hilft? Vorher mit sich selbst auszumachen, dass man etwa eine Stunde bleiben wird, mit zwei oder drei Leuten redet – und dann gehen darf. Die zeitliche Begrenzung bringt stillen Jugendlichen Sicherheit, mindert das Unbehagen, unter zig Leuten in der Falle zu sitzen. Oft bleibt man dann, wenn man einen ersten Kontakt gefunden hat, sogar länger.
Neue Kontakte: Ferienlager, Fußballverein, der Flur in der Schule – Kinder treffen ständig sehr viele Gleichaltrige, oft in wuseligen Situationen. Für stille Kinder ist das eine Herausforderung. Viele verstummen in diesen Kontexten anfangs oft ganz. Erster Tipp: Die Kinder ermutigen, die eigenen Eigenheiten ernst zu nehmen, etwa etwas weniger Aktivitäten nachmittags zu planen. Und im direkten Kontakt immer mal wieder kleine Zeichen zu setzen – zum Beispiel andere einfach nur zu grüßen. Solche Schritte reichen oft schon aus, um das Eis zu brechen – extravertierte Kinder fühlen sich dann eingeladen und gehen auf die Stilleren gern zu.