Gefühle als Schiedsrichter

Rezension: Nicht der Verstand, sondern die Gefühle sorgten dafür, dass wir eine Kultur entwickelten, behauptet Antonio Damasio in seinem Buch.

Was unterscheidet das Leben von toter Materie – und was den Menschen vom Tier? Warum besitzen wir ein Ich-Bewusstsein und Gefühle? Wie entstanden menschliche Kulturen? Der Neurologe und Bestsellerautor Antonio Damasio entwickelt in seinem faszinierenden Buch Im Anfang war das Gefühl eine umfassende Theorie, die überzeugende Antworten auf jede dieser großen Fragen liefern soll. Für ihn bezeichnet der Sammelbegriff „Homöostase“ alle Mechanismen, mit denen Lebewesen Abweichungen von lebenserhaltenden Gleichgewichtszuständen erfassen und korrigieren. Er will zeigen, wie die Homöostase als „umfassender Regulator des Lebens“ vom Einzeller bis zu uns Menschen zunehmend komplexe Formen annimmt. Sie sei das vereinende Grundprinzip der biologischen und kulturellen Evolution.

Damasio erläutert, wie bereits Bakterien mit großem Geschick auf veränderte Umweltbedingungen reagieren. Er schreibt mit Bewunderung über das flexible Sozialverhalten der Insekten. Doch diese stereotypen Verhaltensprogramme liefen völlig automatisch ab. Erst Tiergattungen mit komplexen Nervensystemen könnten Gefühle empfinden.

Der Autor betrachtet das Nervensystem als „die Krönung der Ganzkörpersysteme“, die der Homöostase dienen. Die Gefühle sieht Damasio als „mentale Stellvertreter der Homöostase“. Sie informieren den Geist fortlaufend über den Lebenszustand des Organismus sowie über äußere Gefahren und Gelegenheiten. Wohlbefinden signalisiert Gesundheit, negative Gefühle weisen auf Probleme der Lebensregulation hin.

Mentale Bilder und Symbole

Das Glanzstück dieses klugen und gefühlvollen Buches bildet die detailreiche Analyse des menschlichen Geistes. Uns stünden zahlreiche Möglichkeiten offen, mentale Bilder und Gefühle zu verarbeiten. Wir speichern vielschichtige Erfahrungen, um sie bei Gelegenheit abzurufen. Dann vergleichen, analysieren und rekombinieren wir diese Erlebnisse. Wir entwickeln komplexe Symbolsysteme wie Sprache, Mathematik und Kunst, um voneinander zu lernen. Und wir verknüpfen Bilder der Umwelt, Symbole, Worte und Gefühle zu einem multimedialen „Supergehirnfilm“, als dessen Zuschauer wir uns empfinden.

Der Autor meint, dass Gefühle auch die Homöostase von Gesellschaften steuern, indem sie als Schiedsrichter kultureller Praktiken fungieren. Aber die Ausführung dieser interessanten Idee bleibt unklar. Damasios Hauptargument besteht in der trivialen Erkenntnis, dass sich technische, religiöse und kulturelle Neuerungen positiv auf das Wohlergehen auswirken. Er erwähnt beiläufig, dass die gesellschaftliche Homöostase mit Einzelinteressen in Konflikt gerät. Soll nun seine Theorie die zentrale Funktionsweise von realen Gesellschaften oder homöostatischen Utopien erklären? Soziales Unrecht erzeuge Wut und Trauer, schreibt Damasio. Doch leider bewirken diese Gefühle nicht immer nur Gutes. Auf die spontane Selbstregulation der Gesellschaft dürfen wir nicht hoffen.

Antonio Damasio: Im ­Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur. Aus dem Englischen von ­Sebastian Vogel. Siedler, München 2017, 320 S., € 26,–

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