Shoppen, shoppen, shoppen

Viele lieben „Shopping“. Doch für manche wird es zum Ausgleich für Frust, innere Leere oder Konflikte. Dann kann Kaufen zu einer Sucht werden.

Nach seiner Arbeit hat Thomas, 49 Jahre, oft das unwiderstehliche Verlangen, shoppen zu gehen. Er hat das Gefühl, nach seinem „eintönigen, aber auch stressigen“ Bürojob einen Ausgleich zu brauchen. Wenn er bei seinem Bummel durch die Läden etwas Schönes sieht, kann er „einfach nicht widerstehen“. Fast jeden Tag bringt er irgendetwas Neues mit: einen Zehnerpack DVDs, eine neue Kaffeemaschine, Bettwäsche oder Schmuck für seine Frau. Inzwischen stapeln sich die Sachen ungenutzt in der Wohnung, auch der Keller…

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für seine Frau. Inzwischen stapeln sich die Sachen ungenutzt in der Wohnung, auch der Keller ist schon rammelvoll. Seine Frau, mit der er seit zwei Jahren zusammenwohnt, ist langsam verzweifelt: An eine Absprache, weniger zu kaufen, hat sich Thomas bisher nicht gehalten. Und Ende des Monats wird das Geld häufig knapp.

Ganz so fremd, wie uns lieb wäre, ist vielen von uns dieses Verhaltensmuster nicht. Nach einem stressigen Arbeitstag oder Zoff mit der lieben Familie geht man gern ein bisschen in der Stadt bummeln – und kommt unversehens mit zwei vollen Einkaufstüten zurück. Doch ab wann wird wiederholtes unüberlegtes Einkaufen problematisch?

Ein wichtiges Kriterium ist der Kontrollverlust. Manche Forscher gehen davon aus, dass pathologisches Kaufen aus einer Störung der Impulskontrolle resultiert: Die Betroffenen spüren den starken Drang, etwas zu kaufen, und haben keine Kontrolle über ihr Verhalten, selbst dann, wenn sie die negativen Folgen bereits deutlich spüren.

Andere sehen exzessives Kaufen eher als Sucht, die nicht an eine bestimmte Substanz gebunden ist, ähnlich wie Spiel- oder Internetsucht. Tatsächlich treffen viele Merkmale einer Abhängigkeit zu: Menschen mit Kaufdrang spüren ständig das Verlangen nach dem nächsten Kauf (craving) und verlieren die Kontrolle über ihr Verhalten. Gleichzeitig lässt das Gefühl der Aufregung über einen Kauf mit der Zeit nach (Toleranzentwicklung). Und der Versuch, den Kaufdrang zu unterdrücken, führt zu Nervosität und Anspannung – etwas Ähnliches wie Entzugserscheinungen.

„Der Übergang von gelegentlichen Frustkäufen über häufige, im Grunde unnötige Einkäufe bis zu einer Kaufsucht ist fließend“, sagt Astrid Müller, leitende Psychologin an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. „Problematisch wird es, wenn jemand sehr häufig einkauft, um seine Stimmung zu regulieren oder Konflikten aus dem Weg zu gehen.“ Auch wer durch die ständigen Käufe mehr Geld ausgibt, als ihm eigentlich zur Verfügung steht, ist wahrscheinlich gefährdet. Oft reden sich die Betroffenen lange Zeit ein, die Käufe seien „sinnvoll“ – bis sie sich irgendwann eingestehen, dass das nicht stimmt.

„Typisch für ‚süchtiges‘ Kaufverhalten ist auch, dass jemand anfängt zu lügen – etwa was er gekauft hat und von welchem Geld“, sagt Müller. „Oft verheimlichen die Betroffenen das häufige Shoppen und verstecken die Einkäufe in der Wohnung.“ Einige geraten sogar mit dem Gesetz in Konflikt – weil sie anfangen, Geld zu unterschlagen oder zu stehlen, um die Einkäufe zu finanzieren. „Meist geht dem Kaufen eine Phase innerer Anspannung, schlechter Stimmung oder Langeweile voraus“, beschreibt Müller. „Während des Kaufes erleben viele dann einen ‚Kick‘: Sie empfinden Freude, Vergnügen oder sogar Euphorie.“ Doch die ist direkt nach dem Erwerb wieder verflogen. Stattdessen fühlen die Betroffenen sich schuldig: Sie erkennen, dass ihr Kauf unsinnig war und machen sich selbst Vorwürfe.

Oft berichten Kaufsüchtige auch, dass der Wunsch, einen verlockenden Gegenstand, ein betörendes Kleidungsstück haben zu wollen, zu einer fixen Idee wird, der sie nicht widerstehen können. „Manche sehen etwas, das ihnen gefällt, und wollen es einfach kaufen. Dann bekommen sie den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf“, sagt Müller. „Wenn sie sich dagegen wehren, werden sie unruhig, unkonzentriert und nervös.“

Die angesammelten Waren werden dann weggeworfen oder verschenkt – oder sie sammeln sich ungenutzt in der Wohnung. So wie bei einer 52-jährigen Patientin: Sie besitzt mittlerweile 200 Hosen, 170 Jacken und mehr als 500 Paar Schuhe.

Kaufen ist oft nicht das einzige Problem

Um eine Kaufsucht zu diagnostizieren, wenden viele Experten die Kriterien der Psychiaterin Susan McElroy an. Demnach spricht man von einer Erkrankung, wenn die häufigen Käufe und die Gedanken daran viel Zeit in Anspruch nehmen und erhebliches Leiden verursachen. Außerdem führen sie zu finanziellen Problemen und beeinträchtigen die sozialen Beziehungen und die berufliche Leistungsfähigkeit.

Das war auch bei der 26-jährigen Nadine der Fall: Immer wenn sie Geld zur Verfügung hatte, kaufte sie sich sofort etwas davon – und später auch, wenn sie das Geld nicht zur Verfügung hatte. Wegen hoher Schulden und dem ständigen Zoff mit ihrem Freund wusste sie irgendwann nicht mehr weiter – und entschloss sich, eine Psychotherapie zu machen. Dort wurde klar, dass Nadine auch an einer Depression und einer Essstörung leidet. Die Probleme hätten schon in ihrer Jugend angefangen, so die junge Frau. „Da kam ich mit den anderen nicht zurecht und hatte noch dazu Schwierigkeiten in der Schule.“ Schöne Dinge zu kaufen gab ihr kurzzeitig ein Gefühl der Zufriedenheit und lenkte sie von ihren Sorgen ab – ebenso wie die Essattacken, bei denen sie wahllos große Mengen verschlang.

„Viele Patienten, die eine Therapie aufsuchen, leiden zugleich unter anderen psychischen Problemen“, schreiben Janina Steiger vom Universitätsklinikum Erlangen und und ihre Kollegin Astrid Müller. „Häufig sind dies Depressionen, Ängste, Essstörungen und Suchtprobleme.“ Ein großer Teil der Kaufsüchtigen neigt außerdem dazu, zwanghaft Gegenstände zu horten.

Exzessives Kaufen ist in westlichen Industrieländern gar nicht so selten: Aktuelle Studien in den USA und Deutschland zeigen, dass sechs bis sieben Prozent der Bevölkerung unter Kaufsucht leiden. Und die Häufigkeit nimmt offenbar zu: 1991 waren in den alten Bundesländern fünf Prozent, 2001 bereits acht Prozent von Kaufsucht betroffen. In den neuen Bundesländern stieg die Zahl im gleichen Zeitraum sogar von einem auf sechs Prozent an. Besonders jüngere Menschen neigen häufig zu exzessivem Kaufen.

Nicht ganz klar ist, ob Frauen öfter dem Kaufrausch verfallen als Männer. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, während andere keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern ermittelten. Allerdings bevorzugen Männer und Frauen, ähnlich wie man es nach dem Geschlechterstereotyp erwarten würde, unterschiedliche Dinge: Frauen kaufen eher Waren, die ihr Äußeres betonen, wie Kleidung, Schmuck oder Kosmetik – Männer eher Werkzeuge, Elektronik und Bücher.

Trotz der zunehmenden Häufigkeit ist Kaufsucht bisher noch keine anerkannte Erkrankung. „Dies wäre jedoch wichtig, damit die Betroffenen eine angemessene Behandlung erhalten“, betont Müller.

Die Verlockungen der Konsumgesellschaft

Dabei sind es auch die Verführungen der Konsumgesellschaft, die problematisches Kaufen begünstigen: Das Warenangebot ist riesig, überall locken Werbeplakate und Schnäppchen. „Hinzu kommt, dass Einkaufen durch die modernen Medien immer einfacher wird“, sagt Astrid Müller. Per Internet oder Handy sind für einen Kauf nur wenige Klicks notwendig, man kann zu jeder Tages- und Nachtzeit einkaufen – und weil man bargeldlos zahlt, fällt zunächst gar nicht auf, wie viel ausgegeben wurde. „All das erhöht das Risiko für impulsive Käufe“, betont die Psychologin. Zumal es beim Zugreifen kaum noch Schuldenbremsen gibt: Viele Banken akzeptieren Kontoüberziehungen problemlos, und Waren werden geliefert, bevor eine Zahlung eingegangen ist.

Dem Reiz des Internets erlag auch die 30-jährige Anne. Den ganzen Tag ist die alleinerziehende Mutter mit ihrem Job und den zwei kleinen Kindern vollkommen ausgelastet. Abends fühlt sie sich erschöpft, niedergeschlagen und einsam. Dann surft sie mehrere Stunden im Internet, sucht nach Kleidung oder Kosmetik. Sie genießt es, die verschiedenen Waren zu vergleichen, und ihre Stimmung hellt sich immer mehr auf. Am Ende hat sie eine Reihe von Produkten in ihrem Warenkorb gesammelt – und klickt, ohne nachzudenken, auf „kaufen“.

„Die Zahl der Kaufsüchtigen, die auch oder ausschließlich im Internet einkaufen, hat im letzten Jahrzehnt zugenommen“, schreiben Müller und ihr amerikanischer Kollege James Mitchell. „Das könnte auch daran liegen, dass sie dort unbeobachtet einkaufen und so ihre Kaufsucht besser verheimlichen können.“

Ersatz für Zuwendung,Ausgleich für Traurigkeit

Warum jemand eine Kaufsucht entwickelt, ist bisher noch wenig bekannt. Sicher ist, dass dabei eine Reihe von Faktoren zusammenwirken. „Für viele Betroffene spielen Geld und Konsum eine größere Rolle als für andere Menschen“, erläutert Helga Dittmar von der University of Sussex in Großbritannien. „Vielen wurde in ihrer Kindheit das Gefühl vermittelt, Geld sei ein Ersatz für Zuwendung und Anerkennung.“ Manche bekamen von ihren Eltern häufig „zum Trost“ etwas gekauft, andere wurden regelmäßig mit Geld belohnt.

Oft haben Menschen, die exzessiv einkaufen, auch ein niedriges Selbstwertgefühl – und sie haben nicht gelernt, Gefühle wie Traurigkeit, Einsamkeit oder Ärger auf konstruktivere Weise zu bewältigen. Darüber hinaus scheinen sie weniger gut mit Stress umgehen zu können, und neigen zu unkontrolliertem, impulsivem Verhalten.

Mit der Zeit, so Astrid Müller, verfestigt sich das Verhaltensmuster: Wenn es mir schlecht geht, kauf ich mir was – dann geht es mir erst mal besser. Und weil das gute Gefühl eben nicht lange anhält, kauft man immer häufiger. Viele haben zudem Probleme, angemessen mit Geld umzugehen: Sie kaufen ein, ohne über die Kosten nachzudenken, werfen Rechnungen weg und ignorieren Mahnungen.

Bei Ralf war vermutlich auch der gesellschaftliche Hintergrund von Bedeutung. Mit 25 Jahren kam er aus der damaligen DDR an den Main nach Frankfurt und begann dort seinen ersten Job. „Da hatte ich zum ersten Mal richtig Geld in der Hand“, sagt der Programmierer. „Auf einmal konnte ich mir vieles leisten, von dem ich früher nur geträumt habe.“ Dazu kam, dass er in der neuen Stadt niemanden kannte und sich oft allein fühlte. So verbrachte er den Großteil seiner Freizeit mit Shoppen, kaufte CDs, Bücher und Elektronikartikel. Er genoss das Gefühl, „sich jetzt etwas leisten zu können“, und die „Fachgespräche“ mit den Verkäufern. „Erst als ich mein Konto ständig überzogen habe und sogar einen Kredit aufnehmen musste, habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergeht“, berichtet er.

Eine Therapie gegen den Kaufrausch

Als Erste in Deutschland haben Astrid Müller und Martina de Zwaan an der Universität Erlangen ein gezieltes Therapiekonzept für pathologisches Kaufen entwickelt. Es orientiert sich am Behandlungsprogramm von James Mitchell von der University of North Dakota und umfasst zwölf Gruppensitzungen.

Dabei sollen die Patienten ihr Kaufverhalten zunächst beobachten und Auslöser sowie positive und negative Folgen des exzessiven Kaufens erkennen. Gleichzeitig werden die Hintergründe ihres Kaufverhaltens und der Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte erarbeitet – etwa wie in der Familie mit Geld umgegangen wurde. „Anschließend lernen die Teilnehmer, die Auslöser ihrer Kaufexzesse zu kontrollieren – zum Beispiel indem sie gar nicht erst in die Stadt gehen und Shoppingseiten im Internet meiden“, sagt Müller. Auch der Umgang mit Schulden kommt in der Therapie zur Sprache.

Darüber hinaus sollen die Patienten Kaufsituationen neu bewerten: Könnte es etwa sein, dass das Kaufen nur ein Ersatz für den Wunsch nach Zuwendung ist? Anschließend wird überlegt und geübt, wie dieses Bedürfnis auf konstruktive Weise befriedigt werden könnte. Zu dem verhaltenstherapeutisch orientierten Programm gehört auch, dass sich die Patienten den typischen Kaufsituationen stellen – ohne dabei etwas zu kaufen.

Bisher wurde dieses Behandlungsverfahren in drei Studien bewertet – und hat sich in allen drei als wirksam erwiesen. „Bei zwei Dritteln der Patienten lag das Kaufverhalten nach der Therapie im normalen Bereich – und das war auch noch sechs Monate später der Fall“, so Müller. Oft ist es jedoch sinnvoll, dass die Patienten im Anschluss in eine ambulante Therapie wechseln, um weitergehende Probleme zu bearbeiten. „Insgesamt hat sich gezeigt: Wer bereit ist, offen über seine Probleme zu sprechen und in der Therapie gut mitzuarbeiten, hat gute Chancen, die Kaufsucht zu bewältigen“, sagt Müller.

Einigen Betroffenen gelingt es auch, das problematische Kaufverhalten selbst in den Griff zu bekommen. Dies war zum Beispiel bei Ralf der Fall: Er wandte sich an eine Beratungsstelle, wo er auch Tipps zum Schuldenmanagement bekam. „Dadurch habe ich gelernt, anders mit Geld umzugehen“, berichtet er. „Ich habe meine Kreditkarte zurückgegeben, zahle jetzt nur noch in bar und kaufe nichts mehr online.“ Wenn er das Verlangen spürt, etwas zu kaufen, macht Ralf stattdessen etwas anderes. „Ich habe dabei Joggen und Schwimmen für mich entdeckt“, erzählt er. Dabei fand er mit der Zeit eine nette Clique– und hatte das Glück, dass ein paar alte Freunde nach Frankfurt zogen. „Außerdem ist mir klargeworden, dass ich mich im Job unterfordert gefühlt habe“, sagt Ralf. Deshalb hat er sich dafür eingesetzt, eine andere Aufgabe zu übernehmen. Nun fühlt er sich stärker „gewürdigt“ – und sein Beruf macht ihm deutlich mehr Spaß.

Die Namen der Betroffenen wurden in diesem Beitrag geändert.

Literatur

  • A. Müller: Kaufsucht. Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, 80, 2012, 348–355

  • J. Steiger, A. Müller: Pathologisches Kaufen. Psychotherapeut, 55, 2010, 429–440

  • S. M. Grüsser, C. N. Thalemann: Verhaltenssucht. Diagnostik, Therapie, Forschung. Hans Huber, Bern 2006. Kapitel 4: Kaufsucht, S. 81–95

  • A. Müller, J. E. Mitchell: Internet shopping from a psychiatric perspective. Psychiatric Annals, 44/8, 2014, 384–387

Internet

Hilfe, ich kaufe zu viel!

Was Sie dagegen tun können:

• Schreiben Sie ein Kaufprotokoll: Notieren Sie genau, was Sie wann gekauft haben und wie viel Geld Sie dafür ausgegeben haben. So bekommen Sie eine Übersicht über Ihre Käufe und Ihre tatsächlichen Ausgaben.

• Machen Sie sich vor dem Einkaufen eine Liste. Kaufen Sie nur Dinge von der Einkaufsliste ein.

• Zahlen Sie immer in bar. Benutzen Sie keine EC-Karten oder Kreditkarten.

• Kaufen Sie nichts per Internet, Handy oder Fernseher. Bestellen Sie nichts aus Katalogen, und werfen Sie Kataloge weg.

• Wenn Sie irgendetwas ungeplant kaufen möchten, nehmen Sie sich 24 Stunden Bedenkzeit.

• Machen Sie sich eine Liste mit angenehmen Aktivitäten (etwa Sport, ein Bad nehmen, Freunde treffen). Wenn Sie den Impuls zum Kaufen verspüren, greifen Sie stattdessen zu einer Aktivität aus der Liste.

• Suchen Sie sich professionelle Hilfe, wenn Sie das Kaufproblem – ist es verbunden mit anhaltenden Konflikten in Ihrem Leben? – allein nicht in den Griff bekommen: Wenden Sie sich an eine Selbsthilfegruppe, oder suchen Sie eine Psychotherapie auf.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2015: Nichtstun