Seit einer Woche ist ein neuer Mieter im Haus, er ist ganz oben eingezogen, im Dachgeschoss. „Haben Sie schon den neuen Mieter gesehen?“, antwortet meine Nachbarin Frau Wiese mit einer Gegenfrage, als ich bei ihr klingele und sie bitte, mir mit etwas Zucker auszuhelfen. „Nein“, sage ich, „Sie?“
Frau Wiese sagt nichts. Auch nicht zu meiner Zuckerfrage. Sie lehnt sich an den Türrahmen und sieht müde aus. „Der Mieter“, sagt sie schließlich, „ich kann an nichts anderes mehr denken.“ Kurz glaube ich, dass Frau…
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sie schließlich, „ich kann an nichts anderes mehr denken.“ Kurz glaube ich, dass Frau Wiese sich heillos in den neuen Mieter verliebt und sich die letzten Nächte in ungestilltem Verlangen gewälzt hat. Was man eben so glaubt, wenn man am Abend zuvor Schnulzen auf Netflix geschaut hat. Leider ist es ganz anders. Es wurde sich tatsächlich gewälzt, aber nicht in unstillbarem Verlangen, sondern in einer unstillbaren Konfliktangst.
Die kennen Frau Wiese und ich beide gut. Wir haben uns neulich darüber ausgetauscht, als ich sie das letzte Mal um Zucker gebeten hatte. „Ja“, sagen wir, wenn wir im Restaurant gefragt werden, ob uns die vollkommen versalzene Suppe geschmeckt hat. „Sehr schön“, sagen wir, wenn ein Friseur uns stolz und von allen Seiten einen schrecklichen Haarschnitt präsentiert, den er uns gerade verpasst hat.
Der neue Mieter ist sehr umtriebig
Im Fall des Mieters zeigt sich, dass Frau Wieses Konfliktangst es noch ein bisschen doller treibt als meine. Frau Wiese hat den neuen Mieter noch nie gesehen, aber gehört. Sie wohnt direkt unter ihm. Unser Haus ist sehr hellhörig. Ich wohne direkt unter Frau Wiese und muss mir nie den Wecker stellen, weil ich jeden Morgen von ihrem mitgeweckt werde. Der Mieter oben, sagt Frau Wiese, ist sehr umtriebig, mit ebenso schnellen wie schweren Schritten düst er in seiner Wohnung umher und hört Musik. „Starship“, sagt Frau Wiese, „dagegen ist ja eigentlich nichts zu sagen.“
Nun hätte man einfach hochgehen und den Mieter bitten können, sich selbst und Starship etwas leiser zu drehen. Das ging aber nicht, weil Frau Wiese außerstande ist, jemanden zu kritisieren. Statt hochzugehen erzählte Frau Wiese sich, dass gegen Starship ja eigentlich nichts zu sagen ist, weil sich Dinge schönzudenken eins der oberen Gebote bei Konfliktangst ist. Außerdem, hoffte Frau Wiese, werde der Mieter schon selbst darauf kommen, dass er zu laut ist. So wie man hofft, dass ein Zahn von selbst aufhört wehzutun.Leider kann der Mieter von oben genauso wenig Gedanken lesen wie ein Zahn. We built this city on rock and roll, sang Starship über Frau Wiese, und sie dachte: „Gott bewahre.“
Weil der Mieter Frau Wieses Gedanken nicht lesen konnte, drehte sich ihr eifriges Schöndenken und Überzuckern irgendwann auf die andere Seite und verwandelte sich in funkelnden Zorn. Frau Wiese ging hoch, aber nur im übertragenen Sinne. In ihrer Fantasie wurde der Mieter zu einem schwer wiegenden Unhold, der mit voller Absicht und Plateausohlen auf Frau Wieses Kopf und Seelenruhe herumtrampelte, ein Unhold von mindestens 300 Kilo, so schwer also wie Frau Wieses jäh aufschäumendes Aggressionspotenzial. Weil man aber einen so unverhältnismäßigen Zorn nicht auf einen Mieter loslassen kann, suchte der Zorn sich rasch ein neues Opfer, und das war Frau Wiese selbst. Sie fing an, sich dafür zu beschimpfen, dass das Haus so hellhörig und sie so wütend und so konfliktängstlich ist. Nothing’s gonna stop us now, trällerte es von oben herunter, und das galt leider auch für Frau Wieses intropunitive Machenschaften.
Ein goldenes Therapietablett
„Sicher möchten Sie wissen, warum ich Ihnen das alles erzähle“, sagt Frau Wiese jetzt im Türrahmen, und das möchte ich tatsächlich, und Zucker hätte ich auch sehr gern. Ich rechne damit, dass Frau Wiese sagt: „Ich erzähle Ihnen das, weil Ihre Eltern doch Psychologen sind“, aber stattdessen sagt sie: „Ich dachte, vielleicht könnten ja Sie oben klingeln und den neuen Mieter fragen, ob er etwas leiser sein könnte.“ Als ich gerade sagen will: „Das geht aber wirklich nicht, Frau Wiese“, hören wir jemand die Treppe herunterkommen. Es erscheint der neue Mieter. Er hat deutlich unter 300 Kilo, und für Starship ist er eigentlich zu jung. „Guten Tag“, sagt er, „ich bin der Neue. Das Haus ist ja sehr hellhörig. Deshalb wollte ich mal fragen: Bin ich eigentlich zu laut?“
Dass er ausgerechnet jetzt ausgerechnet das fragt, wäre sogar in Netflixschnulzen wegen Unglaubwürdigkeit herausgestrichen worden. Frau Wiese und ich starren den Mieter an. Vor uns steht offenbar der einzige Mensch auf der Welt, der Gedanken lesen kann.
„Was schauen Sie denn so?“, fragt der Mieter zu Recht. Ich schaue Frau Wiese an, die jetzt dringend mal etwas sagen muss. Weil sie ja vielleicht doch auch Gedanken lesen kann, halte ich innerlich eine kleine Rede an Frau Wiese. „Dieser Mieter und seine hinreißende Frage sind ein absoluter Hauptgewinn“, denke ich inbrünstig in ihre Richtung, „er ist ein goldenes Therapietablett, wir wollen ihn mit Ehrlichkeit belohnen, trauen Sie sich, Sie haben so viel mehr im Angebot als Zucker. Hopp, Frau Wiese“ feuere ich sie gedanklich an.
„Ich hatte gefragt, ob ich zu laut bin“, bringt der Mieter seine Frage in Erinnerung und lächelt Frau Wiese an. „Na ja“, sagt sie schließlich, „ein kleines bisschen manchmal vielleicht.“ Der Mieter, nicht nur nett, sondern auch klug und langmütig, ahnt, dass für Frau Wiese dieses Kleines-bisschen-manchmal-Vielleicht um die 300 Kilo auf die Waage bringt. „Also: ja“, sagt er, „gut, dann kauf ich mir Pantoffeln.“ Frau Wiese strahlt den Mieter an. Ich glaube, dass Pantoffeln nicht mehr nötig sind, denn Frau Wiese sieht aus, als habe sie sich nun doch noch in den Mieter verliebt, allein weil er gefragt hat, und künftig können er und sein Starship oben herumfuhrwerken, wie sie lustig sind.
„Das ist sehr nett“, sagt Frau Wiese, „brauchen Sie zufällig Zucker?“
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker.