Die Polonaise der Patienten

In ihrer Kolumne „Lekys Aussichten“ trifft Mariana Leky diesmal ihren ersten und einzigen Patienten wieder - nach sehr langer Zeit.

Die Illustration zeigt, wie sich die Autorin an Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnert
Alle Patienten kommen gemeinsam in die Praxis ihres Analytikers - so dachte die Autorin als Kind. © Elke Ehninger

Ich sitze in einem Café und überlege seit einer Stunde immer fieberhafter, woher ich den älteren Herrn kenne, der an einem Tisch schräg vor mir sitzt. Ich bin mir sicher, dass ich ihn aus irgendeiner fernen Vergangenheit kenne. Schließlich wendet mir der Herr sein Gesicht zu, nur kurz, er erkennt mich nicht und schaut wieder anderswo hin, aber ich weiß, als ich das Muttermal auf seiner Wange sehe, schlagartig, wer er ist. Der Mann am Cafétisch vor mir war mein erster und einziger Patient.

Als ich ein Kind…

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ist. Der Mann am Cafétisch vor mir war mein erster und einziger Patient.

Als ich ein Kind war, hatte mein Vater eine psychoanalytische Praxis bei uns im Haus. Sie hatte einen separaten Eingang, und um in die Praxis zu kommen, mussten die Patienten meines Vaters durch den Garten gehen. Ich musste immer aus dem Garten verschwinden, bevor die Patienten kamen; mein Vater hatte mir erklärt, dass Patienten nichts vom Privatleben ihres Analytikers wissen dürfen und daher auch nichts von mir. Weil immer von „den Patienten“ die Rede war, hatte ich lange geglaubt, dass die Patienten stets alle zusammen zu meinem Vater kamen, dass sie in einer stillen Polonaise, den Blick auf den Hinterkopf des Vorpatienten gerichtet, durch den Garten gingen.

Als ich zum ersten und einzigen Mal einen der Patienten traf, war ich elf Jahre alt. Es klingelte eines Nachmittags, und dass ich niemandem öffnen sollte, wenn ich allein war, fiel mir erst ein, als ich schon aufgedrückt hatte. Es stand ein Mann vor der Tür, der in meinen Augen aussah wie ein gelungener Erdkundelehrer, denn er hatte ein argentinienförmiges Muttermal auf der Wange.

„Guten Tag“, sagte der Mann, „in der ­Praxis macht keiner auf.“ Da wusste ich, dass der Mann kein Erdkundelehrer, sondern ­Patient war (Patient sein war, glaubte ich, ein Hauptberuf), ein vereinzelter Patient, der seine Herde verloren hatte. Ich wusste, dass mein Vater ihn vergessen hatte, er war mit meiner Mutter einkaufen. ­„Kommen Sie doch rein“, sagte ich, weil Erwachsene das sagten. Ich ging mit dem ­Patienten in die Küche, und da standen wir dann.

Von der Herde getrennt

Die Erwachsenen, die ich kannte, wussten immer, was zu tun ist. Sie sagten: „So, jetzt machen wir erst mal das und das“, und das machte man dann mit oder nicht. Der Patient, obwohl er erwachsen war, wusste offenbar nicht, was zu tun war, weil vermutlich auch Erwachsene ratlos waren, wenn sie ihre Herde verloren hatten und vergessen worden waren. Der Patient sah aus wie ein großes trauriges Tier, für das ich verantwortlich war und das ich in eine vollkommen unartgerechte Haltung verbracht hatte. Ich war noch nie für einen Erwachsenen verantwortlich gewesen, ich hatte noch nie einen Gast gehabt, den ich siezte und dem ich etwas anbieten sollte. Plötzlich fühlte auch ich mich sehr getrennt von meiner Herde.

„Möchten Sie sich vielleicht hinsetzen?“, fragte ich, und der Patient setzte sich hin. „Möchten Sie vielleicht einen Apfelsaft?“, fragte ich, und der Patient nickte, und auch das, das Hinsetzen und Nicken, tat er, als sei er ein trauriges Tier, dem ich Hinsetzen und Nicken als Kunststücke beigebracht hatte. Als ich ein Glas vor ihn hinstellte, fragte er endlich etwas, nämlich: „Wie heißt du denn?“

Ich dachte an das Leben meines Vaters, von dem der Patient eigentlich nichts wissen sollte und daher auch nichts von mir. „Mein Name ist Amalia Anastasia“, sagte ich, weil ich das für einen richtig guten Namen hielt, „ich bin hier nur zum Urlaub.“ Der Patient wusste jetzt schon ziemlich viel über das Leben meines Vaters, er wusste den Flur, er wusste die Küche – und nichts bei uns sah aus wie etwas, in dem eine Amalia Anastasia Urlaub machen würde. „Ich mache nicht direkt Urlaub“, korrigierte ich mich, „ich schaue mir nur ein paar Tage an, wie vom Glück weniger begünstigte Menschen so leben.“ Ich war sehr froh, dass mir diese gediegene Formulierung einfiel, ich hatte sie aus einem der vergilbten Mädchenromane aus der Jugend meiner Mutter.

„Kommen Sie nicht vielleicht eigentlich aus Argentinien?“

„Aha“, sagte der Patient. Er lächelte. Das war gut. „Wie heißen Sie denn?“, ­fragte ich. Der Patient nahm einen Schluck Saft und sagte leise: „Dieter.“ Weil „Dieter“ ein vom Glück nicht sehr begünstigter Name war und ich fand, dass es Spaß machte, sich als jemand anders auszugeben, als jemand Begünstigtes, ganz besonders wenn man von seiner Herde getrennt war, fragte ich: „Sind Sie sicher?“ „Leider ja“, sagte der Patient. „Kommen Sie nicht vielleicht eigentlich aus Argentinien?“, schlug ich vor. „Leider nein“, sagte er, und ich wünschte, mein Vater käme endlich nach Hause, es war mir egal, dass dann Amalia Anastasia auffliegen würde, mein Vater würde wissen, was zu tun ist.

„Ich geh dann jetzt mal“, sagte der Patient schließlich und stand auf. „Tschüss“, sagte er an der Tür, „danke für den Apfelsaft.“ Er sah so traurig, verloren und vergessen aus, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte, aber man umarmt keine Leute, die nichts von einem wissen sollen. Ich wurde wütend auf meinen Vater, weil er den Patienten vergessen hatte, und sagte feierlich: „Ich werde Sie niemals vergessen“, weil man das mit elf sagen kann, ohne rot zu werden, und ich habe niemals vergessen, dass ich das zu dem Patienten gesagt habe, denn er war nicht nur mein erster und einziger Patient, sondern auch der erste und einzige Mensch, zu dem ich diesen Satz gesagt habe.

Hier und jetzt, im Café, werde ich ziemlich rot, als ich an den Cafétisch schräg vor meinem trete. Der ältere Herr schaut hoch und sieht mich fragend an. „Guten Tag“, sage ich, „wir haben vor sehr, sehr vielen Jahren mal einen Apfelsaft getrunken. Sie waren mal Patient. Sie kommen nicht aus Argentinien. Sie heißen Dieter“, sage ich, als könne er auch das vergessen haben. Er sagt nichts und schaut mich lange an, und ich kann sehen, wie er langsam in meinem aktuellen Gesicht mein Kindergesicht erkennt. „Sie sind Amalia Anastasia“, sagt er schließlich und lächelt, „vom Glück begünstigt“, und ich sage: „Genau die.“

PH

Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2019: Vom Glück, Verantwortung zu teilen