Über ihre Wahlheimat New York kann Ursula Staudinger richtig ins Schwärmen geraten. Als sie vor sieben Jahren von Deutschland hierhin zog, habe sie sich sofort zu Hause gefühlt, schreibt die renommierte Alters- und Weisheitsforscherin in einem Artikel im New York Lifestyles Magazine. Als Großstadtpflanze mit Liebe zur Natur könne sie in der amerikanischen Metropole beide Bedürfnisse ausleben: „Ich liebe meine morgendlichen Spaziergänge im Riverside Park, den Blick nach Westen auf den Hudson mit den…
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auf den Hudson mit den spektakulären Sonnenuntergängen. Und ich gehe gerne den Broadway entlang, um Besorgungen zu erledigen oder den Tag bei einem Konzert im Lincoln Center zu beschließen.“
Ich besuche die Psychologin in ihrem Zuhause in Manhattan – und verstehe sofort, warum sie so begeistert ist. Das Viertel, in dem sie wohnt, wird vom imposanten Campus der Columbia University dominiert und auf der Hauptstraße sieht man Studenten aller Nationalitäten, aber auch Eltern mit kleinen Kindern und alte Menschen, die aussehen, als wohnten sie schon sehr lange hier. Der Riverside Drive ist nur zwei Blocks entfernt und an diesem Morgen liegt er ganz ruhig in der Sonne.
Die Wohnung, in der Ursula Staudinger mit ihrem Mann wohnt, liegt im sechsten Stock eines 1910 erbauten 13-stöckigen imposanten Wohngebäudes aus Granit und Backstein, das man durch ein breites Eingangsportal betritt. Durch die Fenster des zur Küche offenen Wohnzimmers, das mit modernen Möbeln und viel Kunst an den Wänden ausgestattet ist, kann man durch dichte Baumreihen vage den Hudson River erkennen.
Seit 2013 lebt Staudinger hier. Zuvor hatte sie von 2003 bis 2013 an der privaten Jacobs University in Bremen ein Forschungszentrum für lebenslanges Lernen ins Leben gerufen und wurde dann von der Columbia University angeworben, um ein interdisziplinäres Zentrum für Alterungsforschung aufzubauen. Die Brücken nach Deutschland hat sie aber nicht abgebrochen.
An der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, deren Vizepräsidentin sie viele Jahre lang war, steht sie weiterhin einer wissenschaftlichen Kommission zum Thema demografischer Wandel vor und hat zudem den Kuratoriumsvorsitz im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Von Selbstherrlichkeit oder Dünkel, wie man sie bei Menschen in einflussreichen Positionen bisweilen vorfindet, ist bei Ursula Staudinger nichts zu spüren. Die 61-jährige Wissenschaftlerin macht es einem leicht, sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen. Sie bietet ein selbstgemachtes Melonengetränk an, erzählt von einem Ausflug nach Pennsylvania und lädt mich ein, auf einem der beiden grau-braunen Sofas im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
Die nächsten zwei Stunden sitzt sie mir entspannt gegenüber und antwortet auf meine Fragen mit leiser, aber lebhafter Stimme. Gelegentlich sucht sie nach passenden deutschen Wörtern und meint entschuldigend: „Das Englische ist mittlerweile in meinem Kopf sehr präsent.“
Aus Fürth in die Welt
Bereits in ihrem Elternhaus habe das Lernen von Fremdsprachen einen hohen Stellenwert gehabt, erzählt sie. Eine wissenschaftliche Karriere sei dagegen familiär nicht vorgezeichnet gewesen: „Es war der völlige Nichtakademikerhaushalt.“ Weil der Vater erst spät aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und sich die Eltern dann eine Basis aufbauen mussten, waren sie schon über 40, als die Kinder kamen. Die Familie wohnte in Fürth in einem Haus mit Garten, wo sich Tochter und Sohn mit den zahlreichen Nachbarskindern austoben konnten.
Während die Mutter den Nachwuchs betreute, arbeitete sich der Vater in der Glasindustrie nach oben. Er stieg zum Direktor in seiner Firma auf und war später Präsident eines Industrieverbandes. Der Vater sei zwar kein Akademiker gewesen, aber er habe an seine Kinder den Wunsch der Nachkriegszeit nach mehr Wissen und mehr Erreichen weitergegeben, sagt Staudinger. Auch darauf, dass sie als Mädchen genauso wie der zwei Jahre ältere Bruder auf eine finanzielle Unabhängigkeit hinarbeite, habe er sehr viel Wert gelegt.
Zur Psychologie kam sie ein bisschen aus Trotz, aber vor allem aus Neigung, wie sie erzählt: „Das Gymnasium fiel mir leicht und so habe ich ein gutes Abitur gemacht. Da sagte jeder: Mit diesem Notendurchschnitt musst du doch Medizin studieren. Diese Automatik fand ich blöd. Mich hat Medizin einfach nicht so interessiert.“
Menschliches Verhalten dagegen interessierte sie sehr. Als sie in die 11. Klasse ging, verschlang sie ein Buch, das eine Nachstellung der Pazifiküberquerung von Thor Heyerdahl mit einem Floß beschrieb. Es habe sie gefesselt, erinnert sie sich, wie sich Menschen in einer solchen Extremsituation verhalten, und so sei sie auf die Psychologie gekommen.
Es gab durchaus einen ernsthaften Wettbewerber, und das war die Architektur. Sie sei ein sehr visueller Mensch, sagt sie, und Umwelten zu erzeugen und zu gestalten habe sie immer fasziniert. „Das ist schon witzig, denn jetzt untersuche ich ja, wie Kontexte Menschen in ihrer psychologischen Entwicklung beeinflussen.“
Als Lebensspannenpsychologin erforscht Staudinger, wie sich Menschen im Lebensverlauf physisch, kognitiv und emotional verändern und wie die Entwicklung durch die richtige Lebensgestaltung und vorteilhafte Umweltbedingungen bereichert werden kann. Die Wissenschaftlerin sei unter Kollegen hochangesehen und eine echte Vordenkerin in einer Reihe von Bereichen, sagt Linda Fried, Dekanin der Mailman School of Public Health der Columbia University, die Staudinger nach New York geholt hat.
Staudingers Forschung habe entscheidend zu der Erkenntnis beigetragen, „dass Menschen mit zunehmendem Alter Stärken mitbringen, die für sie selbst und die Allgemeinheit sehr wichtig sind“. Ursula Staudinger habe die Potenziale des Alters ins rechte Licht gerückt und diesen Gedanken durch ihr Engagement in Gremien und Kommissionen auch Politikern und anderen Entscheidungsträgern nähergebracht, hebt Eva-Marie Kessler, Professorin an der Medical School Berlin und ehemalige Doktorandin der Forscherin, hervor.
Ihre Themen hat Staudinger früh gefunden. Schon in ihrer Diplomarbeit an der Universität Erlangen-Nürnberg befasste sie sich mit der Lebensgeschichte als psychologischem Forschungsgegenstand. Dabei griff sie Überlegungen ihres Professors Hans Werbik auf, der den erforschten Menschen nicht als Objekt, sondern als Partner begriff, den der Wissenschaftler auf interpretative, einfühlsame und ganzheitliche Weise in den Blick nimmt.
In ihrer Abschlussarbeit beleuchtete sie, wie Menschen ihre Biografie rekonstruieren, um sich ihrer eigenen Identität zu versichern, und wie sich Erfahrung im Lebensverlauf kumuliert. „In gewisser Weise waren das schon Vorstufen für das, was ich später in der Weisheitsforschung gemacht habe.“
Nach dem Diplom dachte sie zunächst daran, als Therapeutin tätig zu werden. Wie der Großteil ihrer Kommilitonen hatte sie während des Hauptstudiums eine Ausbildung in Gesprächstherapie gemacht. Aber Stellen in der klinischen Psychologie waren damals rar und nach mehr als einhundert erfolglosen Bewerbungen gab sie den Plan „frustriert und tief enttäuscht“ auf und nahm eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Bielefeld an. Und dann erhielt sie einen Hinweis, der ihren weiteren Weg entscheidend beeinflussen sollte.
Im Mekka der quantitativen Psychologie
Am Max-Planck-Institut (MPI) für Bildungsforschung in Berlin, so erfuhr sie von einer Freundin, baute Paul Baltes, einer der international einflussreichsten Entwicklungspsychologen, einen neuen Forschungsbereich für Weisheit auf und hatte eine von der VW-Stiftung geförderte Promotionsstelle ausgeschrieben. Sie bewarb sich und wurde eingeladen. Dass Baltes sie dann tatsächlich auswählte, habe sie damals verblüfft. „Mit meinem Hintergrund in Werbiks qualitativem und kritischem Ansatz kam ich vom völlig anderen Ende der Psychologie. Das MPI in Berlin war das Mekka der quantitativen, funktionalistisch orientierten, empirischen Psychologie – das absolute Gegenteil.“
Sicher habe ihr bei der Bewerbung ihre Auslandserfahrung sehr geholfen, vermutet sie. Schon 15-jährig war sie das erste Mal nach England gereist und nach dem Grundstudium hatte sie mithilfe eines Fulbright-Stipendiums zwei Semester an der Clark University, einer kleinen Privatuniversität in Massachusetts, verbracht. „Ohne Fulbright wäre ich wohl kaum eingeladen worden. Paul Baltes hatte den ersten Teil seiner Karriere ja in den USA gemacht und war so stark durch das amerikanische Wissenschaftssystem geprägt worden. So wurde am Institut auch primär Englisch gesprochen.“
Staudinger genoss die internationale Atmosphäre, den Austausch mit Forschern aus aller Welt. Auf der anderen Seite habe dort am Institut hoher Leistungsdruck geherrscht. „Es war full speed angesagt, um innerhalb der Stipendienlaufzeit die Promotion fertigzubekommen. Überhaupt wurde erwartet, dass man stets zweihundertprozentige Leistung bringt, und es herrschte eine wettbewerbsorientierte Atmosphäre.“
Staudinger beschreibt sich als eher dünnhäutigen Menschen, der den permanenten Druck als belastend empfand. So beschloss sie nach Abschluss der Promotion, dem Hamsterrad erst einmal zu entfliehen. Vier Jahre arbeitete sie an der Akademie der Wissenschaft zu Berlin (West) als wissenschaftliche Referentin und half dort, die Berliner Altersstudie ins Leben zu rufen und den ersten interdisziplinären Reader für Gerontologie in Deutschland zu veröffentlichen. Im Vergleich zu vorher war das eine Entlastung – aber auf Dauer nicht so befriedigend, wie sie merkte. „Ich bin irgendwann zu Paul Baltes gegangen und habe ihn gefragt, ob es möglich wäre, dass ich zum Max-Planck-Institut zurückkomme.“
Das Weisheitsparadigma
Es war möglich. Baltes bot der damals 33-Jährigen eine Stelle als „Senior Scientist“ an. Die nächsten sieben Jahre waren sehr fruchtbar: Staudinger baute eine Gruppe mit rund einem Dutzend Mitarbeitern auf, veröffentlichte Forschungsarbeiten in internationalen Journalen, hielt Vorträge auf Kongressen. Welche Leistung aus dieser Zeit würde sie besonders hervorheben, will ich wissen. Es seien letztlich ihre Arbeiten gewesen, die das Berliner Weisheitsparadigma psychometrisch verankert und so salonfähig gemacht hätten, sagt sie, „und darauf bin ich stolz“.
Mit ihren Mitforschern holte sie Probanden ins Labor und bat sie, über fiktive, aber ernste und existenzielle Lebensprobleme nachzudenken. Zum Beispiel dieses: „Stellen Sie sich vor, jemand erhält einen Anruf von einem guten Freund, der ihm mitteilt, er habe es sich gut überlegt, er könne nicht mehr weiter, er wolle sich das Leben nehmen. Was könnte der Angerufene in einer solchen Situation bedenken und tun?“
Darüber sollten die Teilnehmer dann laut reflektieren. Diese Denkprotokolle wurden aufgezeichnet und anschließend von trainierten Beurteilern daraufhin abgeklopft, wie viel Weisheit in den Überlegungen steckte. Sie orientierten sich dabei an fünf Merkmalen, die laut dem Berliner Paradigma für weise Menschen charakteristisch sind (siehe Kasten auf Seite 60).
Grundsätzlich zeichnen sich weise Personen durch einen ganz bestimmten „kognitiven Stil“ aus, wie Ursula Staudinger 2001 in einem Interview mit Psychologie Heute erläuterte, nämlich „das Herangehen an die Welt mit einem fragenden statt mit einem sanktionierenden Auge“. Diese Menschen „möchten lieber verstehen als beurteilen. Sie fragen also eher nach dem Wieso und Warum als nach dem Gut oder Schlecht.“
1999 kam der Moment, an dem Staudinger das Gefühl hatte, dass es am Max-Planck-Institut zu eng wurde und es – auch im Hinblick auf den Ausbau ihrer eigenen Reputation – an der Zeit war, die Institution zu wechseln. Mittlerweile habilitiert, nahm sie aus drei an sie ergangenen Rufen eine Professur an der Technischen Universität Dresden an.
Sie hatte nun Raum, Ideen zu verfolgen, die in Berlin wenig Widerhall gefunden hatten, wie sie sagt. Dazu gehörte die Überlegung, dass es einen Unterschied zwischen allgemeiner und persönlicher Weisheit gibt. „Mich hat es immer umgetrieben, dass es ein ganz anderes ball game ist, eine ganz andere Herausforderung, weise zu entscheiden und zu handeln, wenn es einen selbst betrifft.“
„Ich kann viel über das Leben wissen – das heißt aber nicht zwangsläufig, dass ich mein Leben im Griff habe“, sagte Staudinger seinerzeit im Interview und nannte als Beispiel den biblischen König Salomon. Er war ein weiser Herrscher und Ratgeber – aber in seinem eigenen Leben ließ ihn seine Weisheit im Stich. „Das wird ja auch in Redensarten thematisiert wie ‚Lehrers Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie‘“, sagt Staudinger. Mithilfe eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft entwickelte sie Maße zur Selbsteinsicht und zur persönlichen Weisheit. Sie belegte sogar, dass sich persönliche Weisheit durch Anleitungen zum gezielten Nachdenken verbessern lässt, „ein ziemlich komplexes Projekt“, wie sie schmunzelnd einräumt.
Forschen – und Forschung managen
Promotion, Habilitation, Ruf an eine Universität – bis hierhin war die wissenschaftliche Karriere von Ursula Staudinger in weitgehend klassischen Bahnen verlaufen. Doch mit 44 Jahren nahm sie eine Herausforderung an, die über den üblichen Aufgabenbereich einer Forscherin und Professorin deutlich hinausging. 2003 wurde sie von der Jacobs University Bremen (die damals noch International University Bremen hieß) angeheuert, ein „Zentrum für lebenslanges Lernen und institutionelle Entwicklung“ aus der Taufe zu heben. Das von ihr entwickelte Konzept sah vor, viele unterschiedliche Disziplinen zu bündeln, um Lern- und Entwicklungsprozesse vom jungen Erwachsenenalter bis ins hohe Alter systematisch zu durchleuchten. Neben Forschung und Lehre sollte das Zentrum zudem Firmen, staatliche Stellen und Non-Profit-Organisationen beraten.
Sie begann, mit Neuro- und Sportwissenschaftlern, Ökonomen, Biologen, Medizinern, Pädagogen und Soziologen zusammenzuarbeiten. Und sie wurde Vizepräsidentin der Universität. „Mitzuhelfen, auf deutschem Boden eine englischsprachige Campusuniversität aufzubauen, mit einem Bachelor of Arts and Science, wie es ihn so in Deutschland nicht gab, und Studierenden aus der ganzen Welt, das fand ich sehr spannend.“
Hat sie Zweifel gehabt, die Aufgabe zu stemmen? „Klar, immer“, sagt sie und scheint selbst ein bisschen über sich lachen zu müssen. „Ich bin jemand, der kontinuierlich zweifelt, manchmal auch zu viel. Aber es war in der Tat ein knochenharter Prozess.“ Auf der einen Seite sei in einer sehr jungen Institution manches leichter, weil man Dinge mitgestalten könne. Auf der anderen Seite gebe es große Herausforderungen. „Nehmen Sie die Aufbauarbeit bei der Rekrutierung. Man muss die Wissenschaftler, die man gewinnen will, erst mal für die Position und das Thema, dann aber auch für die junge Institution interessieren. Und das klappt nicht immer. Das sind alles enorm zeitgreifende und auch emotionale Prozesse, die erschöpfend sind.“
Dazu seien die speziellen Herausforderungen der Interdisziplinarität gekommen – darunter nicht zuletzt die Frage, wie man Forscher überzeugt, sich auf diese Art von Arbeit überhaupt einzulassen. „Interdisziplinarität ist so viel anstrengender, so dass es niemandem zu verdenken ist, wenn er sagt: Lass mich in Ruhe mit der Interdisziplinarität; ich muss sehen, dass ich schnell eine Veröffentlichung auf die Beine stelle. – Ich habe die Herausforderung in meinem etwas naiven Idealismus wohl etwas unterschätzt.“
Zudem galt es, für das Zentrum zusätzliche Finanzmittel zu generieren. „Der Stifter der Universität, Klaus Jacobs, hatte uns mitgegeben, in die Wirtschaft hineinzugehen. Das war ein völlig neuer Bereich für mich, mit einer eigenen Realität. Ich musste mich einarbeiten, wie man unsere Kenntnisse über den Alterungsprozess in die Personalentwicklung und Arbeitsorganisation hineintragen kann. Das fand ich sehr spannend, aber es war gleichzeitig ein ganz anderes Spiel. Da muss man erst mal die Regeln lernen und dabei macht man auch Fehler.“
Andere begeistern
Vielfältiges Arbeiten liege ihr und das habe ihr sicherlich sehr geholfen, meint sie. Was andere als Stress erlebten, empfinde sie oft eher als animierend. „Wenn es zu einerlei wird, dann kann es mir schnell langweilig werden. Und ich schätze es nicht unbedingt, wenn die Arbeit zu absehbar ist und ich schon genau weiß, wie das nächste Jahr aussehen wird.“
Als größte Stärke aber sieht sie an, andere begeistern zu können. „Ich halte viele Vorträge, nicht nur für Fachleute, sondern auch für allgemeines Publikum, weil es mir wichtig ist, dass diese Themen wie Weisheit oder Altern, die so zentral für uns alle sind, bei einem größeren Publikum ankommen. Ich denke, was sich überträgt, ist mein Engagement.“
Ansteckend ist das Wort, das Werner Greve, Psychologieprofessor an der Universität Hildesheim, verwendet. Er kennt Staudinger seit gemeinsamen Doktorandentagen in Berlin. „Die Themen, von denen sie überzeugt ist, trägt sie so vor, dass man gerne mitgeht und beginnt, es zu sehen wie sie. Das habe ich in Diskussionen oft erlebt. Dabei hört sie erst mal zu, auch wenn es um ein Thema geht, bei dem sie sich gut auskennt. Jeder wird ernsthaft gehört und alle Argumente, auch wenn sie von einem Studenten oder unbekannten Kollegen kommen, werden auf dieselbe Waage gelegt und einfach nach dem Nettogewicht gewogen.“
Neues wagen – und Luft holen
Staudinger ist weit gekommen. Das ist auch ganz wörtlich zu verstehen. Als man sie darauf ansprach, ob sie an der Columbia University ein Zentrum für Alterungsforschung aufbauen wolle, hätten sie und ihr Mann Christian Ludwig – ein Immobilienökonom, der sich heute in seiner eigenen gemeinnützigen Stiftung für Projekte im Bereich nachhaltiger Entwicklung engagiert – schon gut überlegt, erzählt sie. „Den Wohnsitz in Deutschland aufzugeben und ganz in das amerikanische System überzuwechseln, das ist schon eine enorme Veränderung.
Aber dann haben wir uns gesagt: Was für eine Chance!“ Für sie geht es über den Reiz hinaus, in einer Stadt wie New York zu leben. Sie sieht es als ganz persönliche Umsetzung ihrer Forschung, „nicht nur predigen, dass man sich im mittleren Erwachsenenalter noch mal verändert und sich etwas Neues zutraut, sondern es auch leben“.
Von der jungen Jacobs-Universität an die altehrwürdige Columbia University. Das war in der Tat ein weiter Sprung. Staudinger machte sich daran, innerhalb der riesigen Institution Forscher für fachübergreifende Projekte zu gewinnen, und strickte ein attraktives Fellowship-Programm, um interdisziplinäre Studien zur positiven Plastizität des Alterns zu fördern, also dazu, was man im Alter noch immer lernen oder kompensieren kann.
Mit leuchtenden Augen spricht sie über einen großen Forschungsantrag, den sie gerade gemeinsam mit Kollegen eingereicht hat. Es geht darum, inwieweit körperliche Bewegung gesundes Altern fördern und Gebrechlichkeit aufhalten kann und welche biologischen Prozesse dabei eine Rolle spielen. Auch verstärkte internationale Kooperationen stellt sie sich vor. Sie habe bereits enge Kontakte mit einer der Universitäten in Singapur aufgebaut und Forscher aus Norwegen und Chile rekrutiert, erzählt sie.
Bei aller Energie, die sie nach wie vor in ihre Projekte steckt: Ihre Position als Gründungsdirektorin hat Ursula Staudinger inzwischen aufgegeben. Sie ist „nur noch“ Professorin. Nach der langen Aufbauarbeit in Bremen und New York habe sich bei ihr eine gewisse Erschöpfung breitgemacht, offenbart sie freimütig: „Ich habe vielleicht unterschätzt, wie viel Kraft und Energie es kostet, sich in einem anderen Wissenschaftssystem wie dem einer US-amerikanischen Privatuniversität freizuschwimmen und etwas Neues aufzubauen.“ Sie wolle jetzt einfach mal Luft zum Atmen haben, sagt sie, und endlich die Freiheitsgrade genießen, die ein Professorenstatus mit sich bringt und die sie, die bislang so viel gegründet hat, bisher kaum erlebt hat.
SERIE: DAS PSYCHOLOGEN-PORTRÄT
Martin Seligman – Von der Hilflosigkeit zum Glück. Heft 10/2019
Jan Born – Der Grenzgänger. Heft 1/2020
Forschungsfeld: Weisheit
Zusammen mit dem 2006 verstorbenen Max-Planck-Direktor Paul Baltes erarbeitete Ursula Staudinger richtungweisende Konzepte, wie man den schillernden Begriff „Weisheit“ so definieren kann, dass diese Eigenschaft messbar wird. Die Forschergruppe ließ Studienteilnehmer laut über fiktive Lebensdilemmata nachdenken und bewertete dann ihre Antworten nach fünf Kriterien:
1. Eine weise Person hat ein reiches Faktenwissen und Strategierepertoire. Sie kann deshalb in schwierigen Lebenslagen guten Rat geben.
2. Sie hat bei solchen Überlegungen und Entscheidungen nicht nur das eigene Wohl im Sinn, sondern das aller Beteiligten.
3. Sie berücksichtigt den Kontext und stellt zum Beispiel bei der Beurteilung eines Menschen dessen Lebensalter, sozialen Hintergrund und Perspektive in Rechnung.
4. Sie hat auch die zeitliche Dimension im Auge, also die Vorgeschichte einer Situation und ihre möglichen Konsequenzen.
5. Sie kann bei aller Planung mit den Ungewissheiten und Unsicherheiten des Lebens gut umgehen.
Staudinger zeigte ferner, dass Weisheit eine soziale Dimension hat. So kamen in einer ihrer Studien Probanden, die sich mit einem Vertrauten über ein Lebensdilemma austauschten, zu besseren Einschätzungen und Ratschlägen als jene, die allein reflektierten. Später untersuchte Staudinger Persönlichkeitsreife und selbstbezogene Weisheit, also die Einsicht eines Menschen in sein eigenes Leben.
Forschungsfeld: Altern
Staudinger entwarf ein neues Bild der zweiten Lebenshälfte, das die Möglichkeiten, altersspezifische Stärken zu nutzen und zu wachsen, in den Mittelpunkt stellt (aber auch thematisiert, wo diese Möglichkeiten ihre Grenzen haben). Diese positive Seite des Alterns, so betont sie, entfalte sich allerdings leider selten von selbst, sondern der betroffene Mensch und die Gesellschaft als Ganzes müssten eine Menge dafür tun. Bildungschancen, das Gesundheitssystem und die Bedingungen am Arbeitsplatz seien hier ganz zentral.
In einer 2017 unter dem Titel Don’t Lose Your Brain at Work veröffentlichten Studie zeigte sie zusammen mit Kollegen beispielsweise, dass Berufstätige, die im Beruf häufiger mit neuen Dingen konfrontiert sind, besser gegen den altersgebundenen kognitiven Abbau gewappnet sind. Momentan arbeitet sie an einem interdisziplinären Projekt zu Gebrechlichkeit und Muskelverlust im Alter, um beispielsweise mit Bewegungstrainings früh gegensteuern zu können.
Forschungsfeld: Resilienz
Ursprünglich wurde der Begriff „Resilienz“ primär auf Kinder und Jugendliche angewendet, die es schaffen, sehr schwierige Lebensumstände ohne größere nachteilige Folgen zu überstehen. Staudinger war eine derjenigen, die ihn auf das Erwachsenenalter ausdehnten und verbreiterten. Resilienz in diesem Sinne bedeutet, Stressoren, die im Berufs- oder Privatleben auf einen einströmen, mithilfe von inneren und äußeren Ressourcen abzupuffern.
Zu diesen Ressourcen zählen etwa die Fähigkeit, seine Emotionen zu steuern, oder die Unterstützung durch die Familie. Diese Widerstandskräfte sorgen dafür, dass das Wohlbefinden entweder gar nicht erst absackt oder, falls es eingeknickt ist, wieder hochreguliert wird. Resilienz wird hier also nicht als unverrückbare Persönlichkeitseigenschaft verstanden, sondern als etwas, das man mobilisieren kann.