Wünsch Dir was!

Unsere Wünsche sind ein Fenster zu wichtigen Facetten unseres Selbst, sagen Psychologen. Haben wir verlernt, richtig zu wünschen?

Die Illustration zeigt eine Frau mit Pluderhose und einer Alladinlampe, aus der Wünsche herauskommen, wie im Märchen
Unser Leben lang jagen wir Wünschen hinterher – häufig ohne uns dass uns bewusst wäre, wieso eigentlich. © Nadja Zinnecker

Schwitzend, verdreckt, mit knurrendem Magen in der Schwüle des Dschungels liegend, malt sich Marc Wallert erstmals ein Bild aus, das ihn in den folgenden Wochen seiner Gefangenschaft begleiten wird: Er ist in seinem Stammcafé in Luxemburg und blättert in einer der ausliegenden Zeitungen. Im Hintergrund läuft Musik, der Duft gerösteter Kaffeebohnen hängt in der Luft. Freunde gesellen sich zu ihm und begrüßen ihn freudig – ihn, den sie so lange nicht gesehen haben. Und dann erzählt er ihnen, wie es damals war…

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nicht gesehen haben. Und dann erzählt er ihnen, wie es damals war während der Entführung, die er nun so glücklich überstanden hat.

Am Ostersonntag vor 20 Jahren verschleppten Terroristen auf der malaysischen Insel Sipadan 21 Tauchtouristen und Hotelangestellte; Marc Wallert war einer von ihnen. Fast fünf Monate dauerte sein Martyrium. In seiner Fantasie konnte er die bedrückende Gegenwart zumindest für kurze Zeit hinter sich lassen. „Ich habe mir bis ins kleinste Detail ausgemalt, was ich als freier Mann tun werde und wie sich das anfühlen wird“, sagt er heute. „Diese Wunschvorstellungen haben mir nicht nur viel Kraft gegeben; sie halfen mir auch, mich in dieser immensen Stresssituation innerlich auszurichten und mich so zu verhalten, dass ich mein Ziel erreiche: zu überleben.“

Wünsche entspringen Bedürfnissen; sie entstehen, wenn es uns an etwas mangelt: In Gefangenschaft sehnen wir uns nach Freiheit, bei Durst nach Wasser, während des Lockdowns nach den Enkeln oder unseren Freunden. Wünsche können ein Fenster sein, durch das wir sehen, was uns in unserem Leben fehlt.

„Es ist daher wichtig, dass wir unsere Wünsche ernst nehmen“, erklärt die Motivationspsychologin Gabriele Oettingen, die an der Universität Hamburg sowie der New York University forscht und lehrt. „Und zwar weil sie uns anzeigen: An dieser Stelle muss ich aufpassen, hier habe ich einen Mangelzustand und den möchte ich beheben.“

Gerade wenn es um das Beheben geht, hilft Wünschen allein aber nicht. Auf dieses Phänomen ist Oettingen schon vor fast drei Jahrzehnten gestoßen; seitdem hat es sich in zahllosen Studien bestätigt. Ein Beispiel ist ein Experiment aus dem Jahr 2001, an dem mehr als 130 Berliner Studentinnen teilnahmen. Oettingen und ihre Kolleginnen Hyeon-ju Pak und Karoline Schnetter baten ihre Probandinnen, ein dringendes persönliches Problem zu beschreiben und anzugeben, wie sehr sie sich eine Lösung dafür wünschten. Die Probandinnen nannten zum Beispiel Konflikte mit den Eltern oder in der Partnerschaft.

Steine auf dem Weg 

Dann sollten sie sich eine Zukunft ausmalen, in der dieser Streit beigelegt war, und dabei ganz konkret Aspekte formulieren, die sich dadurch aus ihrer Sicht zum Besseren ändern würden. Erstaunlicherweise ergriffen die Teilnehmerinnen in den Wochen danach nur selten Schritte, das Problem zu lösen und ihre Wunschfantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Anders sah es aus, wenn sie sich nicht nur die rosige Zukunft ausmalen sollten, sondern danach auch die Steine auf dem Weg dorthin: Die Studentinnen schmiedeten dann häufiger konkrete Pläne, wie sie die Situation ändern könnten, und setzten diese auch öfter in die Tat um.

Träume sind Schäume. Möchten wir, dass sie wahr werden, sollten wir sie in der Realität erden. Das betont auch das ehemalige Entführungsopfer Marc Wallert: „Sehnsuchtsvorstellungen, wie ich sie hatte, können sicher sinnvoll sein“, sagt er. „Dazu muss man sich in einem zweiten Schritt aber auch die Schwierigkeiten vor Augen führen, die ihnen entgegenstehen.“ In Krisen sei es wichtig, zweigleisig zu denken: gleichzeitig optimistisch zu sein und risikobewusst vorzugehen. „Wer einfach naiv erwartet, sein Zukunfts­wunsch werde sich schon erfüllen, der läuft Gefahr, leichtsinnig zu werden.“

Gabriele Oettingen sieht das ganz ähnlich: Aus ihrer Sicht können uns positive Fantasien die Energie rauben, die wir eigentlich benötigen, um unsere Wünsche wahr werden zu lassen. Wir verwechseln gewissermaßen Wunschvorstellung mit Wirklichkeit und lassen uns dadurch einlullen. Experimentelle Daten belegen, dass Menschen sich nach Zukunftsträumereien nicht mehr tatkräftig fühlen; sogar ihr Blutdruck sinkt.

Wie Wallert empfiehlt sie als Gegenmittel einen gesunden Schuss Realität: „Wer sich einen machbaren Wunsch positiv ausmalt und sich gleich danach darauf besinnt, welche inneren Hindernisse auf dem Weg dorthin im Weg stehen, der wird aktiv werden und sich den Wunsch erfüllen“, meint sie. „Die wissenschaftliche Literatur spricht von mentaler Kontrastierung.“ Tatsächlich hat sich diese Strategie in einer Reihe experimenteller Studien als erfolgversprechend erwiesen: beim Abnehmen; beim Erlernen einer Fremdsprache; bei dem Wunsch, mit dem Rauchen aufzuhören.

Doch haben Wünsche nur dann eine Berechtigung, wenn wir daran arbeiten, sie umzusetzen? Der Oldenburger Psychotherapeut und Buchautor Joseph Rieforth sieht das nicht so. „Wünsche sind nicht unbedingt dazu da, erfüllt zu werden“, betont er. „Das unterscheidet sie ganz klar von Zielen. Das Spannende dabei ist: Auch wenn wir sie nicht Wirklichkeit werden lassen, können sie uns doch dabei helfen, uns sinnvoll weiterzuentwickeln.“ Unsere Wünsche sind demnach so etwas wie ein Kompass: Allein dadurch, dass wir sie hegen, lenken sie unser Leben in eine bestimmte Richtung. Doch damit sie diese Wirkung entfalten können, muss es uns gelingen, sie uns bewusstzumachen.

Der verzauberte Butt

Gerade an dieser Fähigkeit fehle es uns jedoch leider oft, bedauert der Wissenschaftler von der Universität Oldenburg. Er hat kürzlich zu diesem Thema ein Buch mit dem Titel Wunschkompetenz veröffentlicht – eine Wortschöpfung, die auf den ersten Blick überraschen mag: Ist uns das Wünschen nicht in die Wiege gelegt? Praktizieren wir es nicht fast tagtäglich, angefangen von der Kindheit bis ins hohe Alter? Wozu braucht es dann eine besondere Kompetenz? „Wünsche können uns auf einen Weg bringen, der uns nicht guttut“, betont Rieforth. „Zum Beispiel dann, wenn sie nur vordergründig sind und das eigentlich zugrunde liegende Bedürfnis gar nicht adressieren. Wunschkompetenz bedeutet, mir kognitiv und gefühlsmäßig in der Tiefe bewusstzuwerden: Was möchte ich eigentlich wirklich – und wofür?“

Schon die Midassage warnt uns vor den Gefahren falscher Begehrlichkeiten: Der antike König wünschte sich, dass alles zu Gold werde, was er berührte. Sein Fehler wurde ihm erst bewusst, als sich auch das Essen in seiner Hand in das wenig nahrhafte Edelmetall verwandelte. Auch das Märchen vom Fischer und seiner Frau thematisiert die Maßlosigkeit: Ein verzauberter Butt erfüllt den Eheleuten immer größere Wünsche. Als sie schließlich verlangen, gottgleich zu werden, finden sie sich in derselben armseligen Hütte wieder, in der sie anfangs lebten.

Tatsächlich ist es so, dass uns gerade Konsumwünsche selten langfristig zufriedenstellen. „Wir kennen dafür den Begriff der hedonistischen Tretmühle“, erklärt die Psychologin Tatjana Schnell, die an der Universität Innsbruck zum Thema Sinn forscht: „Wir arbeiten darauf hin, uns einen Wunsch zu erfüllen. Doch schon bald, nachdem wir das geschafft haben – das ist typischerweise nach einigen Monaten –, geht unsere Glückskurve wieder nach unten, zurück zum Ausgangszustand. Kurzfristig fühle ich mich also gut, aber dann muss etwas Neues her.“ Sie warnt davor, uns zu sehr auf die Defizite in unserem Leben zu konzentrieren. „Platon meinte, wenn wir nicht mit dem zufrieden sind, was wir haben, wären wir auch nicht zufrieden mit dem, was wir gerne hätten. Dieses Zitat finde ich sehr weise.“

Wünsche sind wie Zwiebeln

Auch Tatjana Schnell streitet aber nicht ab, dass unsere Wünsche uns dabei helfen können, unserem Leben eine Richtung zu geben. Dabei komme es weniger darauf an, nach was wir uns sehnen oder wie wir es erreichen können. „Interessanter ist oft die Frage nach dem Warum: Aus welchem Grund hege ich diesen Wunsch überhaupt?“ Denn Wünsche haben oft mehrere Schichten oder sind wie eine Walnuss, bei der wir zunächst die harte Schale knacken müssen, um an den Kern zu gelangen.

So kann der Wunsch, Karriere zu machen, ganz unterschiedliche Wurzeln haben: die Sehnsucht nach interessanteren Aufgaben; den Drang, Menschen anzuleiten und zu führen; die Suche nach mehr Respekt und Anerkennung. Oder auch das unbewusste Gefühl, dem Ehrgeiz der längst verstorbenen Eltern genügen zu müssen. Erst wenn wir die Wünsche hinter unseren Wünschen kennen, sind wir dazu in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen und damit unsere eigentlichen Bedürfnisse zu befriedigen.

Psychotherapeut Joseph Rieforth empfiehlt dazu einerseits den Blick in die Vergangenheit, in die eigene Biografie. „Wenn etwa jemand zu mir kommt und sich ein besseres Betriebsklima wünscht, frage ich ihn, wann er denn in seinem beruflichen Kontext bereits ein gutes Betriebsklima erlebt hat“, sagt er. „Indem sich die Person gedanklich und sinnlich in diese Zeit zurückversetzt, wird ihr bewusster, was ihr in der aktuellen Situation konkret fehlt und welche Wünsche sie damit verbindet.“ In einem zweiten Schritt soll sie sich dann gezielt vorstellen, wie sie sich fühlen wird, wenn das Problem gelöst ist. Einerseits trennt diese Frage Spreu von Weizen: Habe ich wirklich den Sachverhalt angepackt, der mir auf der Seele lag? Falls ja, entsteht daraus zudem zusätzliche Motivation, diesen Weg tatsächlich zu beschreiten.

Rieforth hat die Erfahrung gemacht, dass uns die Konzentration auf das, was uns persönlich wirklich etwas bedeutet, heute immer schwererfällt: durch die omnipräsente Werbung, aber auch soziale Medien wie Facebook oder Instagram, die uns das Leben der anderen begehrenswerter erscheinen lassen als unser eigenes.

Wir laufen Gefahr, uns von Fremden diktieren zu lassen, was wir uns wünschen sollen: genauso coole Freunde zu haben wie sie, ebenso tolle Reisen zu unternehmen, immer auf Achse zu sein, von einer glamourösen Party zur nächsten. Das verstelle uns den Blick auf unsere eigenen und somit eigentlichen Bedürfnisse – und damit auch den Weg zu unserem wahren Selbst. „Selbstentwicklung ist nicht möglich, wenn ich dauernd anderen folge“, betont Rieforth. „Ich muss mir meines Selbsts bewusster werden. Ansonsten wird es in kritischen Lebenssituationen deutlich, dass das gar nicht mein Weg war, den ich da gegangen bin. Und dass sich daher das Glück, das ich mir davon versprochen habe, gar nicht einstellt – zumindest nicht langfristig.“

Sehnsüchte, die uns dominieren

Besondere Skepsis sei angebracht, wenn ein Wunsch so intensiv werde, dass er alles dominiere. Seiner Erfahrung nach stehen solche Sehnsüchte oft stellvertretend für andere, die noch im Unbewussten liegen. „Es ist, als stünde man mit einer Taschenlampe im dunklen Keller und würde nur eine Ecke ausleuchten.“ Auch die Innsbrucker Sinnforscherin Tatjana Schnell warnt davor, das Lebensglück von der Erfüllung eines Wunsches abhängig zu machen – nach einem Kind, einem Partner oder auch dem Traumjob, nach dem wir schon so lange streben: „Wünsche können uns den Weg verstellen, wenn wir zu viel an ihnen festmachen – wenn wir zum Beispiel sagen: Nur wenn ich diesen Wunsch erreiche, wird mein Leben gut.“

Denn auch wenn der Traum tatsächlich wahr wird, heißt das nicht unbedingt, dass er in der Realität hält, was wir uns von ihm versprochen haben. Außerdem sind Wünsche nichts für die Ewigkeit: „Unsere Bedürfnisse ändern sich ständig, je nach Lebenslage“, gibt die Psychologin Gabriele Oettingen zu bedenken. „Sich einen Wunsch zu erfüllen bedeutet nicht das ewige Glück.“

Wunschkompetenz sei nicht einfach ein Tool zur Selbstoptimierung, sondern eher ein Mittel zur Selbstfindung, betont Rieforth: „An unseren Wünschen erkennen wir, was in uns schlummert und uns einzigartig macht. Sie können uns stärker in Einklang mit uns bringen. Dabei kommt es nicht auf konkrete Ziele an, sondern in erster Linie darauf, den Blick auf Dinge, Situationen und Personen zu schärfen, die für uns bedeutsam sind.“

Problematisch ist es dagegen, wenn wir uns unsere Wünsche nicht eingestehen – sei es, weil wir uns für egoistisch halten, beispielsweise bei sexuellen Wünschen, oder aber weil wir denken, wir hätten zu unseren Wünschen kein Recht: Wieso benötige ich eine Haushaltshilfe? Andere schaffen es doch auch ohne. Wer aus Angst, das Falsche zu wünschen, seine Bedürfnisse hintanstellt, verbaut sich die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. „Oft behaupten solche Menschen, sie seien wunschlos glücklich“, sagt Rieforth. „Dann denke ich mir häufig: Das ist aber schade.“

Literatur

Anton Gollwitzer u. a.: Mental contrasting facilitates academic performance in school children. Motivation and Emotion, 35, 2011, 403–412. DOI: 10.1007/s11031-011-9222-0

Gabriele Oettingen u.a.: Self-Regulation of Goal Setting: Turning Free Fantasies About the Future Into Binding Goals. Journal of Personality and Social Psychology, 80/5, 2001, 736–753. DOI: 10.1037/0022-3514.80.5.736

Joseph Rieforth: Wunschkompetenz. Von der Fähigkeit, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020

Paschal Sheeran u.a.: Gone exercising: Mental contrasting promotes physical activity among overweight, middle-aged, low-SES fishermen. Health Psychology, 32, 2013, S.802–809. DOI: 10.1037/a0029293

Marc Wallert: Stark durch Krisen. Von der Kunst, nicht den Kopf zu verlieren. Econ, Berlin 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2020: Die Macht des Selbstbilds