Herr Professor Gilovich, seit rund eineinhalb Jahrzehnten erforschen Sie, ob uns Erfahrungen glücklicher machen als materielle Güter. Was hat Sie veranlasst, sich mit dieser Frage zu befassen?
Ich bin selbst ein sehr erlebnisorientierter Mensch. Als Kind habe ich intensiv Sport getrieben; später bin ich viel im Yosemite-Nationalpark und in der Sierra Nevada gewandert. Das Thema steckte irgendwie in mir, glaube ich. Aber eigentlich begonnen hat die Forschung, als ich mich in einer Einführung zur…
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die Forschung, als ich mich in einer Einführung zur Sozialpsychologie etwas zu weit aus dem Fenster lehnte.
Wie meinen Sie das?
In der Vorlesung sprach ich über Glück und die bemerkenswerte menschliche Fähigkeit, sich an neue Umstände anzupassen. Wenn einem etwas Schreckliches passiert, ist das eine großartige Ressource. Man mag zuerst glauben, man wird nie über etwas Schreckliches hinwegkommen, aber im Großen und Ganzen gewöhnen sich Menschen an Schicksalsschläge und führen ein sehr befriedigendes Leben. Bei positiven Dingen allerdings ist unsere Anpassungsfähigkeit ein Glücksfeind. Man denkt: Falls ich diese Beförderung bekomme, werde ich auf ewig glücklich sein. Aber wenn es tatsächlich eintritt, ist dies schnell vergessen, und man fängt wieder an, sich über Nichtigkeiten zu beklagen.
Und was hat das mit der Wahl zwischen materiellen Dingen und Erlebnissen zu tun?
In der Vorlesung erläuterte ich eine Überlegung des legendären Wissenschaftlers Robyn Dawes, der in seinem Buch House of Cards erklärt, wie man die Gewöhnung an etwas bekämpfen kann. Er macht dazu ein Gedankenexperiment. Man soll sich vorstellen, man würde sein Leben ganz daran ausrichten, Gutes zu tun und anderen Menschen zu helfen. Würde man sich auch daran gewöhnen? Wenn man gestern drei Leuten das Leben gerettet hat, würde man dann heute sagen: Drei ist wirklich nicht so viel. Heute muss ich mehr Leben retten? Und seine Antwort lautet: Nein, einen Menschen zu retten fühlt sich großartig an, und wenn man morgen und übermorgen wieder einen rettet, fühlt sich das genauso großartig an. Während man sich an materiellen Konsum gewöhnt und immer mehr braucht, gilt das für altruistische Erfahrungen nicht. Ich fand das Argument sehr überzeugend. In einem Gespräch mit meinem damaligen Doktoranden Leaf Van Boven ist dann die Idee entstanden, zu untersuchen, ob das vielleicht wirklich stimmt: Gewöhnt man sich an materielle Dinge mehr als an Erfahrungen?
Inzwischen haben Sie und Ihre Mitarbeiter in zahlreichen Studien gezeigt, dass Erfahrungen Menschen glücklicher machen als materielle Güter. Mancher mag diese Erkenntnis allerdings nicht einleuchtend finden. Wenn ich ein Auto kaufe, habe ich 10 Jahre was davon. Wenn ich mein Geld in eine Weltreise stecke, ist das Vergnügen in vier Wochen vorbei.
Wohlgemerkt, wir behaupten nicht, dass jede Erfahrung besser ist als jedes materielle Gut. Aber in der Tendenz sind Erfahrungen resistenter gegen Gewöhnung als Dinge und machen so langfristig zufriedener. Oft neigt man dazu zu denken: Etwas zu erleben würde Spaß machen, aber das Erlebnis kommt und geht, während ein Gegenstand dauerhaft ist. Wir sagen, das stimmt zwar im materiellen, aber nicht im psychologischen Sinne. Man kauft vielleicht einen Bücherschrank, weil es so schön im Esszimmer aussieht – aber man gewöhnt sich daran, und nach einer Weile sieht man ihn gar nicht mehr. Die Erinnerung an ein schönes Erlebnis dagegen bleibt.
Was raten Sie also konsumfreudigen Menschen?
Ein bisschen zurückhaltender beim Kauf von materiellen Dingen zu sein und den Konsum etwas mehr in Richtung von Erfahrungen zu verlagern. Leute fragen mich oft, ob das Fazit aus der Forschung lautet, dass man all sein Geld für Erfahrungen ausgeben soll. Und die Antwort lautet: Nein, unsere Empfehlung ist nicht, jeglichem materiellen Konsum abzuschwören und wie ein Mönch zu leben. Aber wir alle haben begrenzte Mittel und müssen uns manchmal zwischen Dingen und Erfahrungen entscheiden.
Wenn ich also nicht sicher bin, ob ich mein Geld besser in ein neues Möbelstück oder eine Reise investiere, sollte ich lieber die Reise wählen?
Wenn Sie zweifeln, liegen die Alternativen wahrscheinlich nah beieinander, und dann mag es in der Tat eine gute Idee sein, sich für das Erlebnis zu entscheiden.
Die Wahl zwischen materiellen Dingen und Erfahrungen sehen Sie nicht allein als persönliches Problem. In einem Aufsatz mit dem Titel A wonderful life (Ein wundervolles Leben), den sie 2014 zusammen mit zwei Kollegen veröffentlicht haben, argumentieren Sie, dass auch der Staat in dieser Hinsicht eine Rolle hat. Wie muss man sich das genau vorstellen?
Die Idee, die wir versuchen voranzutreiben, lautet folgendermaßen: Wenn Erfahrungen befriedigender sind als materieller Konsum, dann sollte man Erfahrungen leichter zugänglich machen. Leute können nicht radeln und wandern, wenn es keine Wege dafür gibt. Politiker täten also gut daran, Parks, Museen, Strände und dergleichen zur Verfügung zu stellen. Wir müssen eine erfahrungsorientierte Infrastruktur bauen. Das ist das, was mich an dieser Forschung am meisten begeistert und befriedigt: zur momentan laufenden Diskussion beigetragen zu haben, in welcher Gesellschaft und in welcher Art von Städten wir leben wollen.
Sie schlagen auch vor, Einkaufsstraßen fußgängerfreundlicher zu gestalten, um Open-Air-Lokale, Straßenfeste und Nachbarschaftsaktionen zu ermöglichen, sodass Shoppen mehr zum Erlebnis wird. Aber würde das nicht auch den materiellen Konsum anheizen?
Wir alle kaufen eine Menge Zeug, das setze ich als gegeben voraus. Die Frage ist, wie man daraus eine menschenfreundlichere und sozialere Erfahrung machen kann. Sehen Sie sich beispielsweise an, wie Leute in Rom einkaufen gehen: Sie schlendern durch die Straßen, halten ein Schwätzchen, setzen sich für eine Stunde zum Essen hin. Wie viel Spaß das macht! Hier dagegen fährt man mit dem Auto zum Supermarkt, erledigt seine Einkäufe und geht wieder. Die Frage ist, wie glücklich man mit dieser Art, seine Zeit zu verbringen, und mit den Gütern, die man so gekauft hat, ist.
Es gibt heute eine riesige Unterhaltungsindustrie, die Leuten Erlebnisse verkauft. Kommerzielle Erfahrungen können sehr künstlich und auch teuer sein. Ich denke beispielsweise an einen Besuch im Disneyland. Sind solche fabrizierten Erfahrungen eine ebenso gute Glücksquelle wie Erfahrungen, die man selbst gestaltet oder die sich zufällig ergeben?
Da kann ich nur spekulieren. Sie sprechen mit jemandem, der Wandern und andere Aktivitäten in der freien Natur liebt. Auf der anderen Seite macht es mir Spaß, mit meinen Kindern ins Disneyland zu fahren, und wir haben das oft gemacht. Wir alle lieben Achterbahnfahren. Es ist das Künstlichste, was man sich vorstellen kann – aber es ist auch aufregend. Es gibt eine Menge an künstlichen Erfahrungen, die Spaß machen, wenn sie richtig gestaltet werden. Und der Disney-Konzern ist ziemlich gut darin. Insofern würde ich die Unterscheidung zwischen künstlichen und natürlichen Erfahrungen nicht zu stark betonen wollen. Dennoch stimmt es, dass Menschen Authentizität wichtig ist. Wenn man draußen im Wald ist, entgeht einem nicht, dass dies eine authentische Erfahrung ist. Andere Arten von Aktivitäten mögen diese Art von Authentizität vermissen lassen. Aber Authentizität ist ein schwer greifbares Konzept. Ich wüsste nicht, dass es nennenswerte Forschung gäbe, die künstliche und authentische Erfahrungen vergleicht. Wie ausgeprägt der Unterschied ist, kann ich also nicht sagen.
Abschließend eine persönliche Frage. Haben Sie im Lichte Ihrer Forschung Ihr eigenes Verhalten geändert?
Ja, ich glaube, sie hat mich beeinflusst. Ich war, wie gesagt, immer sehr erlebnisorientiert, was Outdoor-Aktivitäten angeht. Aber es gab Momente, wo ich Gelegenheit hatte, was zu erleben, und gezögert habe. Es gibt oft so viele Gründe, etwas nicht zu tun: Man ist faul oder beschäftigt oder müde. Und dann habe ich mir gesagt: Weißt du, diese Art von Erfahrung ist sehr lohnend. Also mach es einfach.
Thomas D. Gilovich, ist Professor an der Cornell University im Bundesstaat New York und ein bekannter Vertreter der positiven Psychologie. Jüngste Buchveröffentlichung (zusammen mit Lee Ross): The wisest one in the room. Think clearly. Make better decisions. Influence people (Oneworld Publications 2017).
Der Vorteil von Erlebnissen
Stärkung der Identität
Erfahrungen tragen in stärkerem Maße zur Identität bei als Gegenstände. Man könne sich zwar auch mit seinen Besitztümern verbunden fühlen und sich mit ihnen identifizieren, erklärt Gilovich, aber dennoch blieben sie Teil der äußeren Welt. „Erfahrungen dagegen sind wirklich ein Teil von uns. Letztlich sind wir die Summe unserer Erfahrungen. Wenn wir also in Erfahrungen investieren, investieren wir in uns selbst. Sie verändern und bereichern uns, und das bleibt, solange man lebt.“
Soziale Verbundenheit
Erfahrungen schaffen mehr soziale Verbundenheit als materielle Güter, und das in mehrfacher Hinsicht. Erstens sind viele Erlebnisse von Natur aus sozial. Um Tennis zu spielen, braucht man jemanden, der auf der anderen Seite des Netzes steht. Oft gehen wir gemeinsam auf Urlaubsreisen, ins Konzert oder Restaurant. Auch manche materiellen Dinge teilt man mit anderen, beispielsweise Besteck, ein Kunstwerk oder Bücherregal; aber das soziale Element steht dennoch weniger im Mittelpunkt. Zweitens schaffen Erfahrungen eher ein Zugehörigkeitsgefühl als Besitztümer, wie Studien zeigen. Wenn man beispielsweise weiß, dass jemand anders auch gerade eine Donaukreuzfahrt gemacht hat, so wie man selbst, dann neigt man dazu, sich enger mit dieser Person verbunden zu fühlen, als wenn man das gleiche Auto fährt. Und drittens spricht man über Erlebnisse, die man hatte, tendenziell mehr als über Sachen, die man besitzt, was ebenfalls förderlich für die sozialen Bande ist.
Vergleiche mit anderen
Wenn es um Erfahrungen geht, spielen Vergleiche mit anderen Leuten eine geringere Rolle als bei materiellen Gütern. Oder anders gesagt: Während wir materielle Güter mehr daran messen, was andere haben, bewerten wir Erfahrungen eher aus sich heraus. „Wenn man für das gleiche Geld ein schlechteres Auto, Bücherregal oder Tablet erstanden hat als jemand anders, wird man enttäuscht sein“, so Gilovich. „Das kann durchaus auch bei Erlebnissen passieren. Wenn wir beide nach Portugal gereist sind und ich erfahre, dass Sie in einem schöneren Hotel direkt am Strand genächtigt haben, ohne mehr zu bezahlen, dann ärgert mich das – aber bei weitem nicht so sehr wie beim Computer.“ Warum? Es ist schwieriger, Erfahrungen objektiv zu vergleichen als Besitztümer. Sie sind flüchtig, und man kann sie nicht in die Hand nehmen oder betrachten. War das Hotel am Strand wirklich besser als meine zwar altmodische, aber charmante Pension in der Nebenstraße? Und selbst wenn. „Man hat seine Erinnerungen an den Urlaub, die nun Teil der eigenen Biografie sind, und die möchte man in der Regel nicht aufgeben oder gegen die Erinnerungen von jemand anders eintauschen.“
Rosarote Brille
Wenn der Computer ständig ausfällt, ist das einfach nur nervig. Aber Wanderungen, die im Nichts enden, oder Campingwochenenden, die von Anfang bis Ende schiefgehen, liefern oft die besten Geschichten. Wenn man in Urlaub fährt und das Wetter die ganze Zeit schlecht ist, erläutert Gilovich, dann mag man das im Moment schrecklich finden. Aber im Nachhinein sagt man vielleicht: „Weißt du noch, wie schön es war, als wir im strömenden Regen zum Strand gingen; und wie wir im Zimmer gesessen und uns Geheimnisse erzählt haben.“ Die Flüchtigkeit von Erfahrungen führt dazu, dass man negative Erlebnisse leichter verklären kann als mangelhafte Dinge.
Vorfreude
Auch im Hinblick auf die Vorfreude haben Erfahrungen im Vergleich zu Dingen die Nase vorn, wie eine 2014 veröffentlichte Studie von Gilovich und Kollegen zeigt. Auf ein Erlebnis zu warten, etwa den Urlaub oder ein Konzert, ist mit mehr Glücksgefühlen verbunden als die Wartezeit auf ein materielles Gut. Mehr noch: Während die Teilnehmer das Warten auf eine Erfahrung als aufregend und relativ angenehm empfanden, beschrieben sie das Gefühl, bis man den neuen Fernseher oder das Traumkleid endlich hat, als – weniger angenehme – nervöse Ungeduld.