An den zwei Meter messenden, Respekt einflößenden Mann erinnere ich mich noch heute, als stünde er vor mir: Pfarrer Rockenschuh. Wie er auf uns Winzlinge runtergeschaut hat mit Augen wie Laser, die durch die dicken Brillengläser so mächtig erschienen wie der Mann selbst und einem bis ins Mark gingen. „Mäßigt euch!“, mahnte er dann mit bedrohlichem Ton und erhobenem Zeigefinger im Kindergottesdienst, „und der Herr wird mit euch sein!“ Der Mann war selten spaßig nach allem, was man sah und hörte. Mit Mäßigung…
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Der Mann war selten spaßig nach allem, was man sah und hörte. Mit Mäßigung meinte der rechtschaffene Protestant: sich mithilfe der Willenskraft anstrengen, sich mühen, um Versuchungen zu widerstehen – um Triebe, Wünsche, Gedanken, Gefühle zu unterdrücken. Und dafür auf lange Sicht ein gottesfürchtiges Leben zu bestreiten.
Mäßigung heißt heute, wissenschaftlich korrekt ausgedrückt: Selbstkontrolle. Sie ist ein großes Thema, vielleicht größer denn je seit den Zeiten, als Eva es nicht lassen konnte, in den Apfel zu beißen. Die Verfehlung wurde hart bestraft, weiß die Genesis der Bibel: Das Urpärchen musste raus aus dem Paradies. Die Botschaft aus der Misere lautet bis in die Leistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts: Wenn die Versuchung über die Willenskraft siegt und die Selbstkontrolle versagt, ist das ein moralisches Vergehen, für das man sich schuldig fühlen muss.
Wenn der Kuchen schon auf dem Tisch steht …
Ganz nüchtern, aus der aktuellen Psychologenwarte gesehen, kann Michael Inzlicht mit der Schwarz-Weiß-Sicht auf die Selbstkontrolle nichts anfangen. „Der Nutzen der willentlichen, anstrengenden Selbstkontrolle, wenn Sie gegen sich selbst kämpfen, ist maßlos überbewertet“, meint der Psychologe von der University of Toronto in Kanada nach jüngsten, auch eigenen Studien: „Wir haben gezeigt, dass anstrengende Selbstkontrolle langfristig wenig bringt.“ Ein zweites Stück Kuchen zu essen, wenn es schon auf dem Tisch steht und man eigentlich Diät halten will, bedeutet keine moralische Verfehlung. Es ist in dieser Situation die wahrscheinlichste Handlung der meisten Menschen.
Was wirkt wie ein Faustschlag in die Magengrube der Vernunft, ist zentraler Teil einer neuen Sicht auf Willenskraft und Selbstkontrolle, vielleicht sogar eine Zeitenwende in der Erforschung beider Bereiche.
Laut einer Studie der Universität Hamburg wünschen sich zwei Drittel der Befragten mehr Selbstkontrolle, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie wissen um die Größe der Aufgabe. Da wartet entweder die lästige Pflicht (zum Beispiel Arbeitsaufgaben) oder ein Ziel, das langfristige Vorteile verspricht (eine gesunde Lebensführung mit Sport und kalorienbewusstem Essen), das aber die bösen Triebe und die unzähligen Versuchungen der Überflussgesellschaft allzu oft und allzu schnell aushebeln.
Allerdings setzen schon manche Vorschulkinder derlei Ziele konsequent um, wie der legendäre Marshmallow-Versuch des Psychologen Walter Mischel (siehe auch Heft 4/2015) gezeigt hat. Unfassbar präzise kann er sogar die Zukunft eines Kindes prophezeien. Ein Vierjähriger sitzt an einem Tisch, auf dem ein Schokoriegel liegt, und erhält eine Aufgabe: „Warte, bis ein Erwachsener zurück ins Zimmer kommt – und dann kriegst du zwei Schokoriegel. Wenn du nicht so lange warten kannst, bleibt es bei einer Portion.“ Einige Mädchen und Jungen halten es kaum eine Minute aus – andere verharren geduldig die vollen 20 Minuten lang, bis es geschafft ist. Der Clou: Je länger ein Kind sich gedulden kann, wenn es darauf ankommt, desto besser sind seine Aussichten später im Leben – seine sozialen Fähigkeiten, sein beruflicher Erfolg, seine Lebenszufriedenheit. „Das steht außer Frage“, sagt der Motivationsforscher Wilhelm Hofmann von der Universität zu Köln.
Unstrittig erschien auch, worauf der Erfolg dieser Menschen beruht: Sie können sich besser als andere am Riemen reißen und besiegen so ihre Impulse, gemäß der jahrhundertealten protestantischen Tradition: Disziplin! Jüngste Daten aber lassen erhebliche Zweifel aufkommen. „Ob diese willentliche Kontrolle die wahre Ursache ist, wissen wir weniger denn je“, erklärt Hofmann. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der sogenannten Ego-Erschöpfung „zwar nicht tot, aber schwer krank“.
Den Begriff ego depletion hat der US-Psychologe Roy Baumeister nach einem Experiment Mitte der 1990er Jahre geprägt (siehe dazu auch Heft 2/2012 und Heft 4/2017). Demnach ist Selbstkontrolle an eine begrenzte Menge mentale Energie in unserem Selbst gebunden und schon nach kurzer Zeit erschöpft. Ist der Speicher nach einem stressigen Jobtag leer, droht abends der Verlust der Willenskraft. Wir lungern ausgelaugt auf dem Sofa herum, den Schokoriegel in der Hand. Das Fitnessstudio muss warten. Die Sünde hat gewonnen. Selbstkontrolle „verhält sich wie ein Muskel, der sich erschöpfen kann“, erklärte Baumeister. Zuckerhaltige Lebensmittel beispielsweise, hieß es weiter, könnten den leeren Akku der Willenskraft wieder aufladen. Das alles basiert auf der Annahme, dass es Anstrengung braucht, um über einen reflektiven Prozess augenblickliche Impulse auszubremsen.
Dutzende Studien schienen das Konzept zu bestätigen. Doch etliche Ergebnisse sprachen auch dagegen. Nur kümmerte sich niemand darum. Erst dem Psychologen Evan Carter von der University of Miami, fiel die Seltsamkeit 2010 erstmals auf. Seitdem rumort es kräftig in der Szene der einschlägigen Experten. Und seit mehrere Forscherteams bis ins vergangene Jahr das originale Baumeister-Experiment wiederholten, zeichnet sich ab: „Viele Experten haben den schnellen Effekt erschöpfender Tätigkeiten auf die Selbstkontrolle überschätzt“, wie Hofmann sagt.
Das bedeutet, so der Kölner Forscher weiter: „Entweder ist willentliche Kontrolle überhaupt nicht wichtig.“ Oder: „Die meisten Menschen verfügen über genügend willentliche Kontrolle und setzen diese nur dann ein, wenn nötig und wenn sie dazu motiviert sind.“ Von der Ego-Erschöpfung bleibt „höchstens noch die banale Erkenntnis, dass Menschen natürlicherweise irgendwann einmal mit anstrengenden Dingen aufhören, um sich zu erholen oder anderen, interessanteren Dingen zuzuwenden.“
Ego-Erschöpfung – nur Einbildung?
Michael Inzlicht wird noch deutlicher: „Wer versucht, willentliche Selbstkontrolle wie einen Muskel aufzubauen, verschwendet seine Zeit.“ Womöglich treten Zeichen der Ego-Erschöpfung nur dann auf, wenn wir daran glauben, dass die Selbstkontrolle begrenzt ist. Sofern sich die Resultate in weiteren Studien bestätigen, wäre die Ego-Erschöpfung nichts weiter als ein Placeboeffekt. „Offenbar variiert der Glaube an Willensstärke und Willensschwäche“, sagt Hofmann, „wer weniger an Willensschwäche glaubt, erliegt ihr auch weniger.“ Immerhin konnten alle „Sünder“ mit dem Konzept ihr „zügelloses“ Verhalten prima rechtfertigen – allerdings nur kurzfristig, denn das schlechte Gewissen kehrt oft zurück.
Schon 2012 hat ein Team um Wilhelm Hofmann in einer bahnbrechenden Studie per Smartphonetechnik über 200 Probanden eine Woche lang verfolgt. Immer wieder tauchten auf dem Bildschirm ihres Gerätes plötzlich Fragen auf: Welche Impulse sie gerade verspürten? Welche Versuchungen ihnen gerade begegneten? Ob sie sich gerade am Riemen reißen müssten?
Heraus kam ein scheinbares Paradox: „Teilnehmer, die sich hohe Selbstkontrolle als Wesensmerkmal bescheinigen, gehen problematischen Dingen von vornherein aus dem Weg“, erklärt Hofmann. Sie umkurven sie. So treffen sie auf deutlich weniger Situationen, die aktive Willenskraft erfordern, um einem unerwünschten Verlangen zu widerstehen. Außerdem dürstete es sie weniger stark als andere nach kurzfristigen Belohnungen.
Seit jenen Zeiten rücken Strategien ins Licht, die zuvor im langen Schatten der Ego-Erschöpfung standen. In einer ähnlich wie die Kölner Studie angelegten Untersuchung wollten Inzlicht und seine Kollegin Marina Milyavskaya wissen, warum manche Leute ihre Ziele besser erreichen als andere. Ergebnis: Probanden mit mehr willentlicher Selbstkontrolle waren nicht erfolgreicher darin, ihre gesteckten Ziele zu erreichen. Dies schafften viel besser jene Studienteilnehmer, die über den Untersuchungszeitraum kaum Verlockungen ausgesetzt waren. Mehr noch: Die Leute, die sich im Sinne der Selbstkontrolle anstrengten und ihre Ziele verfehlten, fühlten sich am Ende erschöpfter. Der Versuch, willensstark zu bleiben, hatte sie ausgelaugt.
„Konzepten wie der antizipatorischen oder präventiven Selbstkontrolle gehört die Zukunft“, meint der Kölner Motivationsexperte Hofmann. Struktur im Alltag halten amerikanische Forscher für ein wesentliches Mittel. „Gewohnheiten sind der Kern für Selbstkontrolle“, erklärt Brian Galla. Zusammen mit seiner Kollegin Angela Duckworth hat er in sechs Studien mit fast 2300 Teilnehmern ermittelt: Selbstkontrollierte treiben mehr Sport, essen gesünder, lassen sich seltener von der Arbeit abhalten und erzielen bessere Leistungen – sofern sie feste Gewohnheiten haben. „Es hilft, das gewünschte Verhalten fest in den Alltag einzubauen“, betont Galla. Unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken nutzte mal wieder wenig.
In einer der Studien befragten die Psychologen rund 500 Erwachsene nach ihren Ess-, Sport- und Schlafgewohnheiten. Wer von sich behauptete, Versuchungen gut widerstehen zu können, hatte fast immer auch feste Gewohnheiten – aß fast täglich zur gleichen Zeit, trieb Sport zu festen Zeiten, ging fast täglich immer zur gleichen Zeit schlafen. Die Gewohnheiten erklärten den Effekt der Selbstkontrolle auf das angepeilte Verhalten. „Leute mit hoher Selbstkontrolle strukturieren ihr Leben so, dass sie gar nicht erst in Not kommen, sie anwenden zu müssen“, betont auch Galla.
Was man nicht gerne macht, sollte man automatisieren
Dinge, die man im Sinne eines langfristigen Ziels nicht so gerne macht, sollten durch eine zeitliche Struktur automatisiert werden. Dann gehen sie wahrscheinlich in Fleisch und Blut über. So verschleißt man letzten Endes weniger Energie und Willen, um das gewünschte Verhalten umzusetzen. Wenn die Routine nur stark genug ist, greift man auch nicht in die Chipstüte, die ein Freund bei einem Besuch mitgebracht hat. Noch besser ist es, sagt Wilhelm Hofmann, „wenn man Freunde und Lebenspartner für seine langfristigen Ziele einspannt“. Ganz wichtig: sich die richtige soziale Umgebung für ein angepeiltes Ziel zu schaffen.
Ein weiteres offenes Geheimnis: Man mache sich den Weg und die Mittel für ein angestrebtes Ziel zu einem Freund, zu einem (un)bedingten Vergnügen. Viele Ziele, die Selbstkontrolle fordern, sind extrinsisch, von außen motiviert – durch die Gesellschaft, Ärzte, Medien und so weiter. „Damit ein nützliches Verhalten stabil wird, kommt es aber im Wesentlichen auf die innere Motivation an“, betont Hofmann. Wer „heiß“ auf etwas ist, der gerät in einen Flow, findet Freude an seinem Tun und braucht wohl kaum Mäßigung, die anstrengt. Wenn Menschen nur ausreichend angestachelt sind, legt eine Studie nahe, dann bleibt auch ihre Willenskraft trotz Erschöpfung intakt.
Wilhelm Hofmann schwört letztlich auch auf die „Verwirklichungsvorsätze“ („Wenn-dann-Sätze“), wie sie Peter Gollwitzer von der Universität Konstanz seit langem erforscht. Diese Vorsätze sollen uns wappnen gegen alle Störfeuer auf dem Weg zum langfristigen Ziel, was immer auch passiert. Anfangs wird es ein tägliches Ringen sein. Doch wendet man die Technik lange genug an, laufen die Entscheidungen stetig routinierter ab: Wer mehr joggen will, sagt also nicht: „Ich fange im nächsten Vierteljahr zu laufen an“, sondern: „Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, ziehe ich sofort die Sportklamotten an und renne los.“
Mit seiner Kollegin Ayelet Fishbach hat Hofmann eine darauf aufbauende Strategie getestet. Sie soll helfen, drohenden Versuchungen nachzugeben. Über Textnachrichten wurden Probanden eine Woche lang ermutigt, mögliche Hindernisse zu benennen, die tagsüber ihre Ziele durchkreuzen könnten. Gleichzeitig sollten sie angeben, wie sich die drohenden Versuchungen am besten konkret vermeiden ließen und das Ziel verwirklicht werden könnte. Diese Erkenntnisse wurden ihnen dann immer wieder per SMS eingeflößt. „Schon diese simple Intervention kann bei der erfolgreichen Umsetzung von Zielen helfen“, sagt Hofmann.
„Leicht sind auch diese Strategien nicht“, fürchtet allerdings Michael Inzlicht. Und fügt hinzu, dass auch das neue Denken über die Selbstkontrolle erst mehrfach wissenschaftlich bestätigt werden muss: „Damit wir nicht wieder auf eine falsche Fährte kommen.“ Pfarrer Rockenschuh wäre es vermutlich egal gewesen, wie man letztlich den Versuchungen widersteht. Hauptsache, man tut es.