Herr Renn, viele Menschen in Deutschland fürchten sich vor aggressiven Viren, steigender Kriminalität oder Terrorangriffen. Zu Recht?
Subjektiv sind alle Ängste gerechtfertigt, denn sie geben die Realität aus Sicht der betroffenen Menschen wieder. Verglichen mit statistischen Daten, wird die Tragweite dieser Effekte oft überschätzt, gelegentlich auch unterschätzt. Das liegt unter anderem an der starken Präsenz in den Medien: Wenn wir täglich viele Morde in den Fernsehprogrammen sehen, neigen wir dazu, das…
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Präsenz in den Medien: Wenn wir täglich viele Morde in den Fernsehprogrammen sehen, neigen wir dazu, das Risiko für Gewaltverbrechen zu überschätzen. Dem subjektiven Empfinden steht ein statistisches Risiko gegenüber, das Forscher errechnen können. Wir blicken dazu auf die Vergangenheit und schauen, wann und wie oft es zu solchen Ereignissen gekommen ist.
Nehmen wir etwa die Gefahr eines Terroranschlags in Deutschland: Wer in einem Stadion ein Fußballspiel ansehen möchte, wird eher beim Überqueren der Straße dorthin als durch einen Terroranschlag ums Leben kommen. Die Wahrscheinlichkeit, als Fußgänger von einem Auto überfahren zu werden, ist ungefähr 700-mal so hoch wie das Risiko, von einem Terroristen getötet zu werden.
Das gilt für Deutschland?
Ja, und auch für Europa mit kleinen Abstrichen. Aber es gilt natürlich nicht für Nigeria. Dort sind zum einen die Verkehrsunfälle viel häufiger. Aber abgesehen davon sterben in diesem Land seit 2009 Jahr für Jahr rund 3500 Menschen durch Terrorangriffe. In Deutschland hatten wir dagegen nur ein bis zwei Terroropfer pro Jahr in den vergangenen 30 Jahren.
Verhältnisse können sich ändern. Deutschland beteiligt sich seit Anfang Dezember 2015 an Kampfhandlungen gegen den IS. Wie fließt das in die Berechnungen ein?
Wir haben in der Risikoforschung zwei Möglichkeiten. Zum einen können wir aus der Vergangenheit lernen, ob und in welcher Häufigkeit solche Ereignisse stattgefunden haben. Daraus können wir einen statistischen Trend errechnen. In Deutschland blicken wir beispielsweise auf den linken Terror der RAF und den rechten Terror des NSU. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass wir ausgewiesene Experten befragen, ob sich die Lage verändert hat. Wenn das so ist, leiten wir daraus neue statistische Berechnungen ab, einen neuen Trend. So kann es sein, dass wir zu einer neuen Einschätzung des Terrorrisikos kommen. Das sind die Möglichkeiten, die wir als Wissenschaftler haben. Ereignisse genau vorhersagen – wann oder wo ein Anschlag stattfinden wird –, das kann kein Mensch.
Der Psychologe Philip Tetlock übt Kritik an den amerikanischen Experten und sagt, man könne globale Ereignisse sowieso nur für etwa eineinhalb Jahre voraussagen.
Das kommt auf den Kontext an: Wann die Sonne aufhören wird zu scheinen, kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, das wird sich in 6,3 Milliarden Jahren ereignen. Veränderungen in der Geologie kann ich mit relativ hoher Genauigkeit über Tausende Jahre voraussagen –die Börsenkurse kann ich aber nicht mal einen Tag im Voraus vorhersagen, sonst wäre ich schon Billiardär. Beim Wetter sind es drei Tage, die wir zuversichtlich prognostizieren können. Für die Reichweite von Prognosen kommt es darauf an, wie gut wir das System kennen und wie schnell sich die Variablen in diesem System verändern. Unabhängig davon gilt: Je größer der Zeitraum, desto unsicherer wird die Prognose.
Was ist mit den vielen Flüchtlingen, die in den vergangenen Monaten nach Europa kamen? Hat diese Entwicklung niemand vorausgesehen – oder haben wir diese Stimmen nicht gehört?
Was den Flüchtlingsstrom angeht, gab es viele ernst zu nehmende Mahnungen von Politikwissenschaftlern. Sie warnten: „Wenn ihr die Flüchtlinge in der Türkei und im Libanon nicht stärker unterstützt, müsst ihr damit rechnen, dass die Leute nach Europa kommen.“ Da es aber nur wenige Anzeichen für eine solche Wanderung gab, wurden diese Warnungen in den Wind geschlagen.
Vergessen wurde dabei, dass Menschen so lange in ihrem Land oder in Lagern in der Nähe ihrer Heimatländer ausharren, solange sie die Hoffnung haben, dass sich die Umstände in absehbarer Zeit verbessern. Gilt das nicht mehr, tritt in kürzester Zeit eine andere Situation ein. Dass sich die Verhältnisse in Syrien stabilisieren, schien eine Weile plausibel, aber das hat sich geändert, und dann suchen die Flüchtlinge ihr Glück im fernen Ausland – und zwar in großer Zahl.
Sie schreiben in Ihrem Buch, die „wahren“ Risiken für uns und die Nachwelt seien die systemischen Risiken. Was meinen Sie damit?
Systemischen Risiken liegen komplexe Muster zugrunde. Das können wir uns am Beispiel der Flüchtlinge vergegenwärtigen. Zum einen sind die Flüchtlingsströme global, wir haben die entwurzelten Menschen nicht nur in Europa. Die Flüchtlingskrise wurde unter anderem ausgelöst durch staatliches Versagen und den Klimawandel. Zum Zweiten handelt es sich um ein vernetztes Ereignis. Beispielsweise treffen in Syrien wirtschaftliche, religiöse und politische Probleme aufeinander. Die Massenflucht hängt aber auch mit dem Versagen der internationalen Gemeinschaft zusammen, sinnvolle Lösungen vor Ort zu finden. Drittens handelt es sich um ein stochastisches Phänomen, nicht alle Flüchtlinge entscheiden sich, nach Deutschland zu kommen. Welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt und dann Massenbewegungen auslöst, ist oft schwer vorhersehbar.
Kennzeichnend für systemische Risiken ist außerdem, dass die Ereignisse nicht linear verlaufen. Das sehen wir bei der Flüchtlingskrise auch: Früher kamen über einen längeren Zeitraum maximal 300 bis 500 Menschen pro Tag. Dann waren es plötzlich 10 00 Menschen täglich, damit hatte fast niemand gerechnet.
Lange passiert wenig, aber dann ändert sich die Lage abrupt, und über Nacht ist alles anders. Jetzt haben wir plötzlich eine Million Flüchtlinge, da kann man nicht sagen: „Das sind zu viele, tut uns leid, fahrt bitte alle zurück.“ So geht das nicht, vor allem aus humanitären Gründen.
Sie nennen drei Arten von systemischen Risiken: die Bedrohung des Ökosystems Erde, die Bedrohungen durch Steuerungsdefizite in Wirtschaft und Gesellschaft und die Bedrohungen durch ungleiche Lebensbedingungen. Was kann ich als einzelner Mensch tun, um diese Risiken zu mindern?
Als Einzelner bin ich vor allem als Konsument gefragt. Wenn ich bei einem Discounter ein T-Shirt für 1,50 Euro kaufe, kann es nicht nachhaltig hergestellt worden sein. Die Näherin hat keinen fairen Lohn bekommen, vielleicht ist Kinderarbeit im Spiel, die Farben werden nicht ökologisch verträglich sein. Kurzum, das Hemd kann kaum unter nachhaltigen Bedingungen hergestellt sein, die dem Umweltschutz entsprechen.
Und es geht noch weiter: Wenn in Deutschland das T-Shirt für 1,50 Euro angeboten wird, müssen wir uns nicht wundern, wenn sich dann eine Näherin auf den Weg nach Europa macht. Diese Zusammenhänge sehen wir meist nicht, denn die beiden Ereignisse liegen räumlich und zeitlich weit auseinander. Aber das Billigshirt hier und der Entschluss eines Menschen zur Flucht haben tatsächlich etwas miteinander zu tun. Dasselbe gilt für alle Produkte, die „zu günstig“ angeboten werden. Ist das Produkt zu billig, stimmt etwas nicht. Was die Umweltverträglichkeit angeht, können wir außerdem auf Zertifizierungen achten. Ökosiegel gibt es inzwischen für Fisch, Holz, Waschmittel, Möbel – alles Mögliche. Diese Siegel sind nicht perfekt, aber sie geben dem Einzelnen etwas Sicherheit, dass der Einkauf umweltverträglich ist.
Neben meiner Rolle als Konsument kann ich als Staatsbürger aktiv werden. Beispielsweise wenn ich eine Partei wähle, die etwas gegen den Klimawandel tun möchte und dabei nicht verschweigt, dass uns diese Politik auch etwas kostet. Man sollte stets überlegen: Ist die Politik, für die ich stimme, den systemischen Risiken angemessen? Insofern übt jeder Einzelne von uns über sein Wahlrecht einen Einfluss aus, wie fair und wie verträglich unsere Politik sein wird.
Ortwin Renn ist Risikoforscher, Soziologe und Volkswirt und leitet das Nachhaltigkeitsinstitut IASS in Potsdam. 2014 veröffentlichte er das Buch Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten im Fischer-Verlag.