Religiöse Bekehrungen werden derzeit misstrauisch betrachtet: 25 Prozent der Anhänger des Islamischen Staates sollen Konvertiten sein. Doch das ist nur die extreme Seite eines Phänomens, das so alt ist wie die Religionen selbst und zunehmend an Bedeutung gewinnt. „Seit immer weniger Menschen in einem geschlossenen konfessionellen Milieu aufwachsen, wird die eigene Entscheidung in Glaubensdingen immer wichtiger“, sagt der Theologe Joachim Hake, Direktor der Katholischen Akademie in Berlin.
Psychologen hat die…
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Joachim Hake, Direktor der Katholischen Akademie in Berlin.
Psychologen hat die religiöse Belehrung als tiefgreifende Verwandlung schon lange fasziniert. Immerhin geht es um das innerste Wesen des Menschen und die Frage, ob dieses sich radikal verändern kann, um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, freiem Willen und Determination. Vor gut 100 Jahren war die Bekehrung eins der ersten Themen der jungen Wissenschaft Psychologie überhaupt. Allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden dazu mehr als 500 Studien, vor allem US-amerikanischer Psychologen und Soziologen. Das ist kein Zufall, denn ein- oder mehrmaliges Konvertieren ist in den USA wesentlich häufiger als im alten Europa, über 40 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen gaben bei Umfragen an, einer anderen Religion anzugehören als der, mit der sie aufgewachsen sind.
Zu Konversionen gibt es keine oder keine verlässlichen Zahlen. Angaben des Islam-Archivs in Soest, das Zahlen über zunehmende Übertritte zum Islam verbreitete, konnten nicht verifiziert werden. Erschwerend kommt hinzu: Konversionen sind so vielfältig wie die Konvertiten, und Wissenschaftler tun sich bis heute schwer, überzeugende Typologien zu entwickeln. „Es ist einfach etwas ganz anderes, ob Sie es mit einem jugendlichen Sinnsucher zu tun haben oder mit jemandem, der nach zwanzig Jahren Mitgliedschaft aus einer obskuren Sekte geworfen wird, weil er zu selbständig gedacht hat und sich jetzt neu orientieren muss“, erklärt Heinz Streib, Professor für evangelische Theologie an der Universität Bielefeld, der sich mit seinem Team besonders mit Dekonversionsprozessen, mit der Abkehr vom Glauben beschäftigt.
Paulus, den ersten Konvertiten des Christentums, warf die Konversionserfahrung der Überlieferung zufolge zu Boden, er konnte tagelang nichts mehr sehen. Solche dramatischen Geschichten hören Konversionsforscher heute nicht. Viele bezweifeln, dass eine Bekehrung überhaupt religiöse Ursachen hat, und sehen sie eher als eine Frage der Persönlichkeit und der Lebensumstände. Eine Konversion wäre demnach weniger eine Entscheidung für eine Religion als eine Entscheidung für einen sozialen Kontext, eine Gruppe, ein Netzwerk, das den Bedürfnissen des Konvertiten entgegenkommt, vielleicht auch eine mehr oder weniger rationale Abwägung der Vor- und Nachteile der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, vielleicht der Versuch, ein persönliches Problem zu lösen. Manche sehnen sich nach klareren Geschlechterverhältnissen, die in ihrer Wahrnehmung den Islam attraktiv machen, andere nach einem spannenderen Gottesdienst, den sie in charismatischen Gemeinden zu finden glauben.
Die Psychologin Ines Jindra von der University of Notre Dame in Indiana hat zahlreiche Interviews mit Konvertiten geführt. Sie ist überzeugt, dass Menschen sich die Religion suchen, die am besten zu ihnen passt. Manche Konvertiten kämen aus einer strengen Gemeinde und suchten mehr Freiheit, bei anderen sei es umgekehrt, sie fühlten sich haltlos und suchten einen festeren Rahmen. Sie unterscheidet push factors wie persönliche Krisen oder Erlebnisse von Missachtung, Kränkung oder einfach Langeweile von den pull factors, zu denen sie neben sozialen Faktoren auch die religiösen Inhalte und Glaubenserlebnisse zählt.
Oft geht es bei der Entscheidung für eine Glaubensgemeinschaft aber um ziemlich diesseitige Fragen. Heike zum Beispiel erzählt: „Ich habe es für meinen Mann getan.“ Damit die Familie zur selben Kirche gehen kann, wechselte sie vor der Geburt ihres ersten Kindes aus der evangelisch-lutherischen in die evangelisch-reformierte Gemeinde ihres Mannes. Kirchenrechtlich ein kleiner Schritt – aber psychologisch nicht unbedingt. Selbst heute, 20 Jahre später, sagt Heike: „Mir fehlt immer noch etwas, manche Worte, der Gottesdienst ist so nüchtern, und die Farben stimmen nicht, Ostern kein Grün, Weihnachten kein Lila.“
Zugehörigkeit und Sinnfragen
Familiäre Motive sind nach den Beobachtungen von Pastor Frank Schäffer ein sehr häufiger Grund für einen Konfessionswechsel. Schäffer, der beim Erzbistum Paderborn für Wiedereintritte und die Internet-Seite www.katholisch-werden.de zuständig ist, fragt die Konvertiten nach ihren Beweggründen. Für die meisten sei der Anstoß zu einem solchen Schritt ein Partner oder eine Partnerin, die oder der mit der Kirche verbunden ist. „Man möchte zusammen in den Gottesdienst und zur Kommunion gehen, Taufpate werden, vielleicht kirchlich heiraten.“
Schäffer hört aber auch noch andere Gründe: „Manche sind ausgetreten, weil der Partner gar nicht mit der Kirche einverstanden war, und wenn so eine Beziehung zerbrochen ist, sagen sie sich, das war eigentlich gar nicht das, was ich wollte.“ Andere treten in die Kirche ein, weil sie bei einem kirchlichen Träger arbeiten wollen. Bei wieder anderen sei im Laufe der Zeit der Ärger über den konkreten Anlass, aus dem sie ausgetreten sind, verraucht. „Und manche“, berichtet Schäffer, „sind wohl eher unüberlegt ausgetreten, einmal habe ich es erlebt, da ist jemand nach nur vier Wochen wieder eingetreten.“ Erwachsenentaufen in der Osternacht sind in seiner Gemeinde etwas Besonderes. „Soweit ich das übersehen kann, kam der Anstoß bei allen durch den künftigen Ehepartner“, sagt Schäffer.
Kommen die Menschen auch mit theologischen Überlegungen? „Das habe ich noch nicht erlebt.“ Dennoch, so Schäffer, sei der Glaubenswechsel keineswegs eine profane Entscheidung: „Das haben die Menschen sich schon gut überlegt, das macht keiner mal eben so, das ist heute ja auch nicht gerade Mainstream.“
In den evangelischen Wiedereintrittsstellen fragt niemand nach Gründen. „Es gibt keine Begründungspflicht“, sagt Tobias Treseler, Theologischer Kirchenrat der Lippischen Landeskirche, „aber natürlich signalisieren wir den Menschen die Bereitschaft, sie in einem freundlichen Gespräch zu empfangen und Fragen zu besprechen.“ Was er dann hört, deckt sich mit den Erfahrungen seines katholischen Kollegen. „Viele berichten auch, dass sie etwa nach einem Umzug Kontakt zu einer Gemeinde gefunden haben und Teil dieser Gemeinde sein möchten“, ergänzt er.
Hört er theologische Gründe für die Rückkehr zum Glauben? „Es gibt Menschen, die in einer fortgeschrittenen Lebensphase den Wunsch nach Beheimatung haben, die sich fragen, wo bin ich verortet in meinem Leben, was die Sinnfragen angeht?“, sagt Treseler. „Man muss sich das nicht spektakulär vorstellen. Da kommen Menschen und sagen: ‚Im Laufe der Jahre ist mir klargeworden, dass die Erfahrungen und Werte, die ich in meiner Familie gelernt habe, gut und richtig sind, und deshalb trete ich wieder ein.‘ Das ist eine Bekehrung in kleinen Schritten.“ Es gebe eben beides, konstatiert er, einen allmählichen Verlust, eine Verdunstung der Inhalte, der Nähe zur Religion, der Gottesvorstellungen, aber auch eine Verdichtung und den Wunsch, wieder mit christlicher Gemeinschaft und christlichem Glauben in Verbindung zu treten.
Wer sich zum Judentum bekehren möchte, muss sich auf intensiveres Nachfragen einstellen. „Wer um Aufnahme in die Gemeinde bittet, wird traditionell zwei- oder dreimal abgelehnt, um die Ernsthaftigkeit des Wunsches zu prüfen“, erklärt Irith Michelsohn, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Bielefeld. „Wir ermutigen die Menschen nicht zu diesem Schritt, aber wenn sie sich einmal entschieden haben, unterstützen wir sie nach Kräften.“ In ihre Gemeinde konvertieren vor allem Menschen, die aus Osteuropa zugezogen sind, in den dortigen Gemeinden als Juden anerkannt wurden, in den hiesigen aber nicht, weil sie zwar einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben. Hat der Rabbiner dem Übertritt zugestimmt, folgt ein Kurs (Giur genannt), der sich über drei bis vier Jahre hinziehen kann. Zudem wird die aktive Teilnahme am Gemeindeleben erwartet. „In Israel mag das gehen, aber in Deutschland kann man seinen Glauben nicht ohne eine Gemeinde leben“, so Michelsohn. „Ich fände das auch nicht toll, wenn ich da freitags mit meinen Schabbatkerzen allein sitzen sollte.“ Ihre Erfahrung mit Konvertiten: „Viele sagen danach, sie seien jetzt glücklich, sie wüssten jetzt, wo sie hingehören, sagen: ‚Jetzt bin ich angekommen.‘“
„Menschen suchen und finden einen neuen Deutungsrahmen, wenn der alte sich als unzureichend erwiesen hat“, sagt Joachim Hake. „Das reicht von religiöser Sehnsucht, Geborgenheit in einer religiösen Gemeinschaft bis zur Widerfahrnis des Heiligen. Grenzerfahrungen des Lebens, für die sie sich auf einmal nur eine religiöse Deutung vorstellen können und irgendwie auch müssen, Geburt, Tod, überwältigende Schönheit, alles, was wir als religiöse Erfahrung beschreiben können.“
Aber widerfährt dem modernen Menschen noch das Heilige? „Die Konversion ist ein tiefes religiöses Phänomen“, konstatiert Hake und möchte das Thema daher nicht nur den pragmatisch argumentierenden Soziologen überlassen. Erst wenn man die Konversion als religiöse Erfahrung ernst nehme, werde auch ihre Dynamik deutlich. „Ich will nicht konvertieren, ich werde konvertiert. Das ist wie in der Liebe: Ich entscheide mich nicht, meine Frau zu lieben, ich kann nicht anders. Vielleicht kann man auch so sagen: Am Anfang steht eine elementare Erfahrung der Umkehr, die dann in einer Entscheidung angeeignet wird, eine Erfahrung, die ich nachträglich ratifiziere.“
Wie die Liebe könne jedoch auch die Konversion erhebliche Energien freisetzen, die aufgefangen werden müssen. Es gehöre daher zur guten Konvertitenseelsorge, im Blick zu behalten, dass kein Hass gegen das aufkommt, was man verlassen hat, und keine falsche Überidentifizierung mit der neuen Religion. „Nach der Konversion scheint man im wahren Leben angekommen zu sein, das alte erscheint einem ausschließlich als sündhaft im Sinne von ‚Da war ich auf dem falschen Dampfer‘. Und dann hat man die Neigung, das falsch abzuspalten. Diese innere Verwandlung so zu gestalten, dass sie zu einem lebendigen, einem lebenswerten Leben führt, das ist das Schwierige.“ Aus dem Wissen um diese Gefahren sei die katholische Seelsorgepraxis skeptisch gegenüber zu starken Bekehrungserlebnissen, meint Hake. Er hat den Eindruck, „dass es derzeit nicht nur im Islam zu viel Konversionen gibt, die mit Hass auf das Überwundene einhergehen. Aus der Perspektive einer Religionsgemeinschaft bemisst sich eine Konversion daran, wie der Konvertit sich mit seiner kostbaren Erfahrung einfügt in den Gesamtrahmen der Gemeinschaft.“
Wenn Sicherheit zu Eifer wird
Bekehrung, schrieb William James, der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie in den USA, im Jahr 1902, sei ein Prozess, „durch den ein bisher gespaltenes und sich schlecht, unterlegen oder unglücklich fühlendes Selbst seine Ganzheit erlangt und sich jetzt, stärker gestützt auf religiöse Wirklichkeiten, gut, überlegen und glücklich fühlt.“ Eben dies sind die beiden Seiten von Bekehrungserlebnissen: Der neu gefundene Glaube kann Sicherheit geben und glücklich machen, aber unter Umständen eben auch Überlegenheitsgefühle wecken.
Übereifrige Bekehrte kennen alle Religionsgemeinschaften. „Die Konvertiten, die frisch aus dem Giurkurs zur Vorbereitung der Konversion kommen, wollen dann auch mal zeigen, was sie gelernt haben, machen aber alles aus dem Kopf und aus den Büchern und nicht so aus dem Bauch wie die, die mit der Religion aufgewachsen sind“, sagt Irith Michelsohn: „Das führt in der Gemeinde schon mal zu Irritationen.“
Die Gemeinde des Islamischen Zentrums in Bielefeld ist in Zeiten des Islamismus bei Konvertiten besonders hellhörig. „Wir sehen zum einen, dass ernsthafte Konvertiten kommen, die viel gelernt und gelesen haben und zum Teil den Alteingesessenen Anstöße geben und sie mitziehen“, sagt Amin, ehemaliger Katholik und im Vorstand des Islamischen Zentrums. Das sei der positive Teil. „Wir sehen aber leider auch, dass da junge Leute kommen, die haben sich nie mit dem Islam beschäftigt, dann hören sie einen dieser Hetzprediger, tauchen in der Moschee auf und sagen unserem Imam, der seit zig Jahren den Koran studiert, er habe keine Ahnung. Aber wir sind ja froh, wenn die überhaupt noch kommen und mit sich reden lassen.“
Wieder andere treffen auf dem immer vielfältiger werdenden Markt der Religionen lieber keine eindeutige Entscheidung und praktizieren unterschiedliche religiöse Rituale nebeneinander. Der Theologe Heinz Streib nennt sie „akkumulative Häretiker“: Da gibt es den Kirchenrat, der zum Meditieren in ein buddhistisches Zentrum geht, den Katholiken mit dem Altar einer fernöstlichen Gottheit im Schlafzimmer.
Und nicht alle finden auf geradem Weg, was sie suchen, so ging es auch Thomas: Aufgewachsen in einer evangelischen Familie, wendet er sich während seines Lehramtsstudiums Bhagwan zu, probiert es dann mit transzendentaler Meditation, verbringt eine kurze Zeit bei Scientology, wechselt in eine Gospel Church. Zur Zeit singt er im Kirchenchor und liest seinen Kindern aus der Bibel vor. „Eine typische Suchbewegung“, sagt Streib, „man probiert es überall und erinnert sich letztlich an die Traditionen, mit denen man aufgewachsen ist.“ Conversion career, Konversionskarriere nennen die Forscher das.
Literatur
William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Verlag der Weltreligionen im Insel-Verlag, Berlin 2014
Ines W. Jindra: A new model of religious conversion. Beyond network theory and social constructivism. Brill Publishing, Leiden/Boston/Tokyo 2014
Raymond F. Paloutzian u. .: Conversion, Deconversion, and spiritual transformation: a multilevel interdisciplinary view. In: R. F. Paloutzian, C. L. Park (Hg.):Handbook of the psychology of religion and spirituality.The Guilford Press, New York 2013
Heinz Streib u. .: Deconversion. Qualitative and quantitative results from cross-cultural research in Germany and the United States of America. Research in Contemporary Religion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009