Den Sonnenuntergang in allen Farben nuanciert wahrnehmen, die blühenden Rosen wirklich riechen, die frisch gefallenen Kastanien fühlen und spüren, den duftenden Espresso schmecken – wie schön.
Sich an solchen und anderen schönen Momenten wirklich zu erfreuen fällt allerdings vielen schwer: „Wir gehen so selbstverständlich davon aus, dass die Menschen das Gute, was sie erfahren, auch genießen“, sagt der Sozialpsychologe Fred Bryant von der Loyola-Universität in Chicago, „die Wirklichkeit sieht allerdings…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
etwas anders aus.“ So belegen alle neueren repräsentativen Befindlichkeitsstudien in Deutschland, Europa und den USA, dass wir zum Augenblick nicht allzu oft sagen: Verweile doch, wie bist du schön!
Fred Bryant versteht die Fähigkeit, Freude genießen zu können, als direkten Gegenspieler zu Stress und Stressverarbeitung. Er begann seine Genussforschung Ende der 1980er Jahre und begründete die Psychologie des Savoring – des Auskostens. Inhaltlich integriert Savoring die auch hierzulande praktizierte Genussschule – bei der es wesentlich um eine Schulung der Sinne geht. Doch Bryants Ansatz geht deutlich darüber hinaus: Das Forschungskonzept des Auskostens umfasst den komplexen kognitiven und verhaltensbezogenen Gesamtprozess, der unsere positiven Erfahrungen sowohl emotional vertieft als auch zeitlich verlängert und erweitert – in Richtung Vergangenheit und Zukunft. Bedingung des Auskostens ist das aufmerksame, achtsame Wahrnehmen und bewusste Reflektieren dessen, was um mich herum und in mir selbst geschieht. Der Blick richtet sich sowohl nach außen, auf die Situation, als auch nach innen, auf das positive Glückserleben.
Savoring führte überraschend lange ein Schattendasein. So findet sich noch 2006 im Standardwerk Handbook of Positive Psychology weder ein Verweis auf Bryants Forschung noch ein eigener Eintrag zu Savoring. Dies hat sich zwar geändert, in der deutschsprachigen Psychologie sind die Arbeiten von Bryant und vielen Kollegen zu Savoring aber noch immer nicht angekommen.
Das ist schade, denn die Befunde belegen, wie gut es uns tut, wenn wir das Positive, das uns widerfährt, richtig auskosten können. Wenn uns das gelingt, hat das eine Auswirkung auf praktisch alle Lebensbereiche: Es fördert etwa Gesundheit und Lebensfreude, Zufriedenheit, Selbstwert und Wohlbefinden, verbessert unsere Achtsamkeit, Gelassenheit und Konzentration, lässt uns freundlicher und beziehungsfreudiger agieren. Auskosten als Lebensstil weckt zudem unsere Neugier und Freude auf Neues, stärkt die Lernmotivation und macht uns zu kreativeren Problemlösern und besseren Entscheidern: Unser Gedächtnis merkt sich, was uns unter welchen Umständen wirklich gutgetan hat. „Wer das Auskosten gelernt hat“, sagt die bekannte Psychologin Barbara Fredrickson, „scheint davon über die gesamte Lebensspanne zu profitieren: Gesteigertes Wohlergehen finden wir bei Grundschulkindern, Jugendlichen, Studenten, Erwachsenen und den Älteren.“
Mit „Positivem Denken“ hat Savoring nichts zu tun: Statt sich die Dinge schönzumalen, geht es um eine positive Emotionsarbeit im Hier und Jetzt als besondere Facette der Lebenskunst. Savoring ermöglicht Sinnerleben. So konnte die neuseeländische Psychologin Erica Chadwick von der Victoria-Universität in Wellington zeigen: Jeder achtsam und bewusst erlebte, körperlich und psychisch ausgekostete Glücksmoment gibt unserem Leben Sinn und Bedeutung, weil wir unsere Erfahrungen wirklich wertschätzen.
Das Herzstück des Auskostens sind zehn Savoringstrategien: alle Denk- und Verhaltensweisen, die das Positive verlängern und vertiefen können – oder es aber verkürzen und dämpfen.
Das Positive mitteilen
Das Gute wie eine prima Neuigkeit kommunizieren steht in diesen Top 10 ganz oben: Seine Glücksmomente und -erlebnisse mit anderen Menschen zu teilen ist der große Freudenverstärker, der alles Positive nachhaltig vertieft und erweitert.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese anderen im momentanen Erleben tatsächlich präsent sind – der reine Gedanke an sie genügt völlig. Wie Erica Chadwick genauer erforschte, ist es für das Auskosten zudem auch weniger wichtig, ob einem die Menschen, denen man sein Glück mitteilt, nahe und vertraut sind. Entscheidend ist vielmehr, wie sie reagieren: aktiv oder passiv, konstruktiv oder destruktiv? Wer auf eine richtig gute Nachricht von seinem missmutigen Partner nur eine passive Bemerkung wie „Okay, schön“ hört – oder gar eine offen destruktive wie „Das bringt nicht viel, wir haben doch andere Probleme“ –, ist tatsächlich weit besser beraten, seine Freude im Büro mit den Kollegen zu teilen oder die gute Nachricht seinem wohlwollenden Friseur zu erzählen.
Erinnerungen schaffen
„Welch ein Moment!“ Man sollte den freudvollen Augenblick nicht nur äußerlich mit Fotos und Videos festhalten, sondern bewusst innehalten, die Augen schließen und aktiv im Geiste eigene mentale Momentaufnahmen des Geschehens sammeln. Oder sich mit wirklich wertvollen Souvenirs versorgen: einem besonderen Stein vom Strandspaziergang oder der handsignierten Rechnung vom wunderbaren Abendessen. Wer alles Wichtige und Wertvolle bewusst speichert – die Umgebung, Details, besondere Farben, Töne, Gerüche –, kann es später wieder Revue passieren lassen. Dies verstärkt nicht nur das momentane Erleben, sondern schafft die stabile Grundlage für das Erinnern und Wiedereintauchen in diesen Moment.
Sich selbst beglückwünschen
Ob Prüfung, Komplettrenovierung oder ein neuer sportlicher Rekord: Wenn man richtig gut war, etwas geleistet oder vollendet hat, darf man stolz darauf sein und sollte den kleinen oder großen Triumph auch wirklich auskosten und sich darin sonnen: Wie lange und wie hart hat man dafür gearbeitet! Wie erleichtert und befreit fühlt man sich jetzt, wie beeindruckt reagieren andere! Das hat nichts mit Arroganz, Überheblichkeit oder gar Prahlerei zu tun. Wem etwas Tolles gelungen ist, der braucht sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern sollte sich an den Früchten seiner Arbeit erfreuen.
Die Wahrnehmung schärfen
Die Sinnesschulung ist auch Kernstück des traditionellen Genusstrainings: Wenn man etwas besonders Schönes sieht, einen verführerischen Duft riecht, eine vollendete Form anfühlt, ein ergreifendes Musikstück hört oder den vollendeten Geschmack einer Frucht schmeckt – den wahren Genuss und die tiefe Freude daran hat nur, wer sich mit allen Sinnen darauf konzentriert und vom alltäglichen Multitasking bewusst auf den Modus des Innehaltens umschaltet.
Sich vertiefen
Wenn einem Gutes widerfährt, sollte man ganz in der Situation aufgehen, sich von der Stimmung und Muße des Momentes führen lassen. Möglichst das Denken ausschalten, nicht grübeln, was als Nächstes kommt oder was sonst noch zu erledigen ist, nicht vergleichen und nicht urteilen. Kurz: Vom Kopf auf Bauch und Herz umschalten und das Gute konzentriert auskosten.
Die Freude ausleben
„Seid umschlungen, Millionen“, beschrieb Schiller die höchste Freudenagitation, „diesen Kuss der ganzen Welt“. Es geht auch alltäglicher: lachen und kichern, die Arme hochreißen, in die Hände klatschen oder in die Luft springen, tanzen, hüpfen oder die Beckerfaust ansetzen, singen oder Freudenschreie ausstoßen – alles ist erlaubt. Und jeder nach seiner Façon – es muss nicht immer südländisch sein. Die Hauptsache in Sachen Auskosten bleibt: Die Freuden unbedingt auch körperlich ausdrücken. Diese ganz besondere „Glücksstrategie“ vertieft nicht nur das aktuelle Hochgefühl, sondern auch die Erinnerung daran.
Dankbar sein
Man sollte das Gute nicht krämerisch verbuchen, sondern immer wieder bewusst erfassen und wahrnehmen: Dank empfinden für das gelingende und geglückte Tun, für die großen und kleinen Geschenke, Hilfen oder Wohltaten anderer. Und dieses Dankbarsein vor allem auch ausdrücken: ob im dankbaren Innehalten oder in einem Dankesbrief, einer kleinen Dankesschokolade für den Nachbarn oder einem freundlichen Nicken für die offen gehaltene Tür.
Zeitbewusstsein kultivieren
In Momenten der Freude sollte man sich immer wieder bewusstmachen, wie flüchtig, vorübergehend und vergänglich auch dieser so schöne Moment ist, dass man sich wünscht, er möge doch verweilen und nie vergehen. Diese Bewusstseinshaltung schärft quasi von selbst das Auskosten, weil das Einzigartige, Kostbare und Wertvolle des Augenblicks in den Vordergrund rückt und das Schöne auch für spätere Zeiten aufbewahrt wird: „Was für ein wunderbarer Sonnentag – und wie gerne werde ich mich daran an nebligen und eisigen Winterabenden erinnern!“
Mit weniger Gutem vergleichen
Auch sogenannte „Abwärtsvergleiche“ können helfen, das Gute auszukosten, indem man es mit weniger Freudvollem kontrastiert und abwägt: „Wie prima geht es mir in der Partnerschaft – verglichen mit meinem Singledasein!“ Oder: „Das hätte ich früher nie gedacht, dass so etwas Schönes und Großartiges aus diesem ganzen Schlamassel entstehen könnte.“ Bryant weist allerdings darauf hin, dass solche Vergleiche sparsam und sorgsam eingesetzt werden müssen. Da Vergleichen immer bedeutet, das, was man hat, mit dem abzurechnen, was man nicht hat, können vor allem „exzessive Vergleichsstrategien“ die Freude schnell untergraben.
Sich die Freude nicht selbst nehmen
Unkonzentriert und unachtsam sein, sich ablenken lassen, Gefühle unterdrücken und Fehler suchen – all das führt dazu, dass Freude nur schwer aufkommt. Wer wirklich sucht, der findet immer und überall das berüchtigte Haar in der Suppe: Wer denkt: „Na ja, gar nicht so schlecht hier – aber dort ist es sicher viel schöner“, kann jede Freude gehörig dämpfen oder ganz ersticken.
Solche oft automatisch ablaufenden Freudenverhinderungsstrategien sind für Bryant wesentlicher Grund, warum die meisten Menschen keine „Glücksauskoster“ sind. Deshalb sollte man der eigenen versteckten oder offenen Genussfeindlichkeit auf die Spur kommen. Denn: „Jeder Tag hat einen Moment“, wusste schon der Dichter William Blake, „der dem Teufel entzogen ist.“ Genaue Selbstbeobachtung entlarvt unangemessene, miesepetrige Gedanken und überführt einen, wenn man schwarzmalt oder, wie es der Psychologe Alfred Adler ausdrückte, „seinen eigenen Ohrfeigen hinterherläuft“.
Fred Bryant hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem getestet werden kann, ob Menschen sich ihre Freude an dem Guten in ihrem Leben selbst nehmen. Da stehen unter anderem folgende, immer auf eigene positive Erfahrungen bezogene Aussagen: „Ich sagte mir, dass ich das Gute eigentlich gar nicht verdient habe.“ „Ich zog mich innerlich zurück und blockte meine Gefühle.“ „Ich sagte mir, dass es nicht so gut war wie erwartet.“ „Ich erinnerte mich an andere Orte, an denen ich stattdessen sein und andere Dinge tun sollte.“ „Ich dachte über aktuelle Probleme und künftige Sorgen nach.“ „Ich dachte darüber nach, was mir ein schlechtes Gewissen machte.“
Wie Studien aus den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan zeigen, sind Frauen die insgesamt etwas besseren Auskoster: Sie teilen ihre Freuden stärker mit anderen, gehen öfter auch nonverbal und körperlich aus sich heraus und sind dankbarer für das Gute und Schöne – umgekehrt neigen Männer häufiger zum kognitiven Freudenkilling.
Bryant versteht die zehn Savoringstrategien als Kompetenzen des Auskostens, und wie bei allen kognitiven oder verhaltensbezogenen Fähigkeiten „wird man besser“, so Bryant, „wenn man sie trainiert und praktiziert“. Je mehr Strategien man in positiven Situationen nutzt, desto intensiver und dauerhafter wird das Auskosten, was wiederum das Glückserleben und Wohlbefinden nachhaltig stärkt.
Auch für das Auskosten gilt „weniger ist mehr“: Mit hedonistischer Gewöhnung, Gier und der Jagd nach dem nächsten, noch stärkeren Kick hat Auskosten nichts zu tun. Während der Glücksjunkie in der Maximierungsfalle des Immermehr und Immerbesseren gefangen ist, hat sich der wahre Auskoster davon befreit. Ihm geht es darum, das Schöne im Leben nicht nur zu konsumieren – sondern intensiver zu erleben, wertzuschätzen und zu würdigen. Auskosten bedeutet, sich an der eigenen Lebendigkeit zu erfreuen – in allen großen und kleinen Freudenmomenten.
Literatur
Fred Bryant u. .: Savoring. In: S. Lopez (Hg.): Encyclopedia of positive psychology. Wiley-Blackwell, New York 2013, 851–859
Erica Chadwick: The structure of adolescent and adult savoring and its relationship to feeling good and functioning well. Dissertation, Victoria University of Wellington, New Zealand 2014. Online: http://researcharchive.vuw.ac.nz/handle/10063/2124
Barbara Fredrickson: Positive emotions broaden and build. In: P. Devine u. . (Hg.): Advances in Experimental Social Psychology 47, 2013, 1–53
Jennifer Smith u. .: Nurturing the capacity to savor. In: A. Parks u. . (Hg.): The Wiley-Blackwell handbook of positive psychological interventions. Wiley, New York 2014, 42–65
Expedition in die Freude
Die folgende dreistufige „Streifzugübung“ ist Standard in Fred Bryants universitären Psychologiekursen zum Auskosten – sie ist aber nicht nur für Studenten interessant.
Phase 1: Davor
Wählen Sie Ihr ganz persönliches freudebringendes Ausflugsziel – eine Aktivität, einen Platz, einen Ort, eine Veranstaltung, ein Treffen mit anderen Menschen und so weiter.
Reservieren Sie sich dafür ausreichend Zeit und versorgen Sie sich mit allen notwendigen Materialien wie Geld, warme Kleidung oder (Sport-)Schuhen.
Phase 2: Während
Versuchen Sie ab dem Zeitpunkt, an dem Sie ihr Ziel erreicht haben, sich völlig darauf zu konzentrieren und sich bewusst von Alltagssorgen oder Nöten zu befreien. Achten Sie sehr genau auf alles, was Sie als angenehm, freudvoll und schön empfinden – die Aussicht, Geräusche oder Gerüche und so weiter. Registrieren Sie gleichzeitig auch Ihre Gefühle und Gedanken, die Ihnen durch den Kopf gehen. Setzen Sie sich dabei nie unter Druck und vermeiden Sie jede Eigenkritik.
Dokumentieren und registrieren Sie Ihre Erfahrungen, versuchen Sie vor allem, alle Einzelheiten genau zu identifizieren, die das Ganze für Sie freud- und wertvoll machen. Beschreiben und benennen Sie Ihre Gefühle – etwa Glück, Genuss, Frieden, Zufriedenheit und so weiter – und wichtige Gedanken.
Phase 3: Danach
Wenn Sie wieder zu Hause sind, schauen Sie zurück: Erinnern Sie sich sorgfältig an alles, was Sie während Ihres Streifzuges genossen haben – Ansichten, Geräusche, Gerüche, Gefühle, Gedanken. Erzählen Sie anderen Menschen von Ihrer Expedition – und schreiben Sie für sich selbst eine Erzählung über Ihre Erfahrungen.
Nehmen Sie sich die Liste der 10 Savoring-Strategien zur Hand und versuchen Sie herauszufinden, welche davon für Sie eine wichtige Rolle gespielt haben und/oder zukünftig auch in Ihrem Alltag spielen sollten.