Das Treffen mit Robert Seethaler findet in einem privaten Seminarhaus in Berlin-Mitte statt. Es gibt Kaffee, Tee, Kekse. Zwei Räume stehen für das Gespräch zur Auswahl, der Autor schaut kurz in beide, steuert dann zielstrebig den größeren, helleren an. Auf die Fragen im Interview reagiert er teils zügig und mit Gegenfragen, teils mit so großer Konzentration, dass er die Augen schließt und tief nachdenkt, bevor er seine Antwort mit klarer Stimme formuliert. In den fünf Büchern des Österreichers stehen immer…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
bevor er seine Antwort mit klarer Stimme formuliert. In den fünf Büchern des Österreichers stehen immer wieder Außenseiter oder Eigenbrötler im Mittelpunkt, die – in einer schlichten, nüchternen Sprache beschrieben – zu Sympathieträgern werden.
Sein Roman Der Trafikant, in dem es um eine Begegnung von einem Tabakladen-Lehrling mit Sigmund Freud im Wien der dreißiger Jahre geht, ist ein Bestseller. Ebenso sein neuer Roman Ein ganzes Leben, der das Leben eines Tagelöhners in den Alpen während des letzten Jahrhunderts schildert. In seinem eigenen Leben hat Seethaler zunächst Schauspiel in Wien studiert, in zahlreichen Kino- und Fernsehproduktionen mitgespielt. Später schrieb er Drehbücher, studierte Psychologie und fing irgendwann mit dem Romanschreiben an.
Herr Seethaler, in Ihren Romanen treffen immer wieder sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander. Was interessiert Sie an diesen Begegnungen?
Meine Geschichten fangen tatsächlich oft mit dem ersten Aufeinandertreffen zweier Personen an. Von einer Begegnung würde ich noch nicht sprechen, eher von einer Erscheinung. In Die weiteren Aussichten löst sich etwa zu Beginn eine Figur aus der Weite der Landstraße, nämlich Hilde, und erregt im Betrachter, dem einsamen Tankwart Herbert, eine nie gekannte Sehnsucht. In Der Trafikant sieht der 17-jährige Franz dem alten Sigmund Freud beim Zigarrenkauf zu. Diese Erscheinungen drängen sich ins Bild, ins Leben, sie lassen sich nicht abwimmeln. Aber erst wenn man sich bewusst darauf einlässt, wird es eine Begegnung.
Wie wird denn konkret aus einer Erscheinung eine Begegnung?
Es ist ein bisschen wie im Theater: Sobald eine Person aufgetreten ist, verändert sich das Gesamtbild. Dann wird es spannend, wie der Protagonist mit dieser ersten flüchtigen Wahrnehmung umgeht. Er kann sie zurückweisen. Oder sich darauf einlassen. Meine Hauptfiguren und auch ich selbst haben eher die Haltung, die Erscheinung wahrzunehmen, genau zu gucken, was das für ein Mensch ist, wie er aussieht, wie er sich gibt. Dieses genaue Gucken ist der Schlüssel zur Kontaktaufnahme. Und wenn erst mal ein Kontakt entstanden ist, verändert sich sofort die Dynamik der Geschichte.
Wissen Sie eigentlich schon vor dem Schreiben, welche Figuren aufeinandertreffen – und was für eine Dynamik die Geschichte entwickeln wird?
Nein, auch im Schreibprozess beginnt alles im nebelhaft Unbewussten, ein kleiner Lichtpunkt taucht verschwommen am Horizont auf und wächst sich im besten Fall zu einem Interesse aus. Es kann eine Szene sein, eine Empfindung, eine Figur – und mit dieser einen vagen Szene wächst dann eine Art Struktur, kommen erste Bilder, ein grober Ablauf, dann lege ich los. Ich folge den Bildern, den Geschehnissen, wenn man so will, von einem Kontakt zum nächsten.
Können Sie ein Beispiel für eine solche erste nebelhafte Szene geben?
Als Jugendlicher war ich oft Skifahren. Aus diesen Ferien habe ich eine Gefühlserinnerung mitgenommen, die mich mein Leben lang begleitet: Ich sitze allein auf dem Skilift, gleite den Berg hinauf, erst ist alles noch laut, es sausen Skifahrer unten vorbei. Dann kommt irgendwann eine steilere, waldige Stelle, es wird ruhiger, und da ist dann plötzlich diese unfassbare Stille, eine wunderschöne Schneestille, die einerseits beruhigt und andererseits zutiefst ängstigt. Aus dieser starken Erinnerung ist die Idee entstanden, über einen Mann zu schreiben, der in den Bergen lebt und arbeitet. Und in dem Roman Ein ganzes Leben habe ich das dann auch getan.
Es gibt also in Ihrem Leben keine Person, die der Hauptfigur Egger, dessen komplettes Leben Sie ja beschreiben, ähnelt?
Nein. Ich kenne keine Person, die Egger ähnelt. Das sage ich jetzt – und gleichzeitig stimmt es nicht, denn jeder Mensch schöpft ja nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Etwas in mir kennt ihn, kennt etwas von seiner schlichten Art. Ich weiß übrigens oft intuitiv, wie meine Figuren sich fühlen, bin ihnen nah. Aber ich wüsste nicht, wie ihre Gesichter aussehen.
Wie gelingt es Ihnen, den Figuren so nah zu kommen, dass Sie ihre Emotionen und Absichten kennen?
Es lässt sich auf das Wort Achtsamkeit reduzieren: Gib acht, was für Bilder und Gefühle du entwickelst! Gib acht, was das für eine Person ist, die da vor dir sitzt oder steht, wie bewegt sie sich, was tut sie? Ich will genau wahrnehmen, was ich sehe, höre, rieche– und zwar ohne zu bewerten. Achtsamkeit sich selbst gegenüber ist der Schlüssel zur Figur. Denn die Figuren sind ja Geister meiner Seele – also nehme ich erst mal Kontakt zu mir selbst auf, zu allen Gefühlen, Gedanken. Manchmal geht das ans Eingemachte, es tauchen ja auch unangenehme Emotionen auf.
Welche Szenen haben beim Schreiben solche unangenehmen Gefühle ausgelöst?
Es passiert ständig. Die prägnantesten Erinnerungen an Trauer oder Wut hab ich an den ersten Roman Die Biene und der Kurt. In verschlüsselter Form erzähle ich dort viel über mein Leben: Die Biene, ein 16-jähriges Mädchen, bricht aus einem Mädchenwohnheim aus, sie ist undefiniert, hat kaum Stimme, eine ganz dicke Brille, so wie ich früher. Ich hatte als Kind einen Wert von 17 Dioptrien an beiden Augen, war auf einer Sehbehinderten-Grundschule. Diese Gemeinsamkeit brachte mir die Figur nah. Erschütternd war für mich auch, dass Teile dieser Figur für mich im vorsprachlichen Bereich liegen: Sie hatte kaum Sprache, fast nichts zur Verfügung – nur einen großen Überlebenswillen. Beim Aufbruch der Biene aus dem Wohnheim war mir tieftraurig zumute.
Viele Autoren erzählen, dass Gefühle wie Trauer und Wut ihnen helfen, bessere, dichtere Geschichten zu schreiben.
Da möchte ich mich nicht einreihen. Ich bezweifele, dass Rührung und Gefühle ein Buch gut machen. Natürlich geht es einerseits darum, an eigene Grenzen zu gehen, andererseits ist es aber unerlässlich, auch wieder Distanz zum Geschriebenen zu kriegen. Schreiben bedeutet auswählen, streichen, wegschnitzen. Das ist die Arbeit, die anstrengend ist. Mit allem, was ich schreibe, muss ich mich vor einer Instanz in mir selbst behaupten. Sie fragt: Ist das gut genug? Reicht das? Manchmal hat die kritische Position recht, manchmal muss man sich gegen sie durchsetzen und sagen: „Nee, so stimmt es.“ Diese Spannung zu halten, das ist für mich Schreiben.
Viele Ihrer Hauptfiguren sind ja ähnlich gestrickt. Der Lehrling Franz Huchel aus dem Trafikanten, der Seilbahnarbeiter Egger aus Ein ganzes Leben wirken naiv, manchmal sogar schlicht. Ist das bewusst so gewählt?
Ja. Naivität hat für mich viel mit Offenheit zu tun, nicht mit Dummheit. Meine Figuren sind häufig bereit, ihre Grenzen zu erweitern, sich auf andere einzulassen, sie staunen über sich und die Welt und gehen dem nach. Nicht naiv zu sein heißt dagegen für mich, eine „fertige“ Persönlichkeit zu sein – also starr und festgefahren. Die naive Haltung der Figuren gefällt mir auch aus einem profanen Grund gut: Ich bin kein Intellektueller. Das einfache Herz, das in mir steckt, der einfache Geist, das lege ich auch in die Figuren.
Eine sehr naive und berührende Begegnung ist die zwischen Franz, dem Lehrling in einem Tabakwaren-Kiosk und dem 80-jährigen Sigmund Freud. Wer war eigentlich zuerst da?
Ich wollte gern über Freud schreiben, aber über ihn ist schon so viel gesagt worden, dass mir schnell klar war: Ich brauche einen anderen Zugang. Dieser Zugang kam über Franz – einen jungen Mann, der einen vorurteilsfreien Blick auf den alten Psychoanalytiker zulässt: Er guckt, wie Freud dasitzt, Zigarre raucht. Franz hat die Bücher von Freud nicht gelesen, trotzdem bekommt er einen Eindruck, was um ihn herum passiert, was ihm wichtig ist. Franz selbst versteht die Welt nicht, versteht die Liebe nicht – und Freud gibt ja dann zu, dass er sich mit der Liebe auch nicht auskennt.
Wie haben Sie diese beiden Figuren zueinander gebracht? Durch Dialoge, Gesten, besonderen Szenenaufbau?
Ich finde es entscheidend, wie die beiden sich gegenseitig betrachten, was sie voneinander denken. Ich beschreibe ja vor allem die Perspektive von Franz, der einen alten Mann sieht, der eine Haut hat wie Seidenpapier, er sieht das Verletzliche an Freud. Auch die Art der Dialoge ist wichtig. Die wenigen Gespräche der beiden haben da einen Aufbau. Beim letzten Treffen etwa wird vor allem geschwiegen. Es ist ein großer Abschied. Freud muss vor den Nazis fliehen, geht nach London und letztlich dem Tod entgegen.
Auch wenn die Geschichte fast eine Miniatur ist – sie wirkt wie ein Symbol für etwas Größeres. Der Abschied von Freud steht für den Abschied von einer westlichen, aufgeklärten Welt, die ins Wanken gerät.
Freud kann man sich einfach nicht ohne die Geschichte nähern. Es reicht aus, dass ich mich um das Kleine kümmere. Der große, zeitgeschichtliche Hintergrund schwingt dennoch immer mit. Eigentlich mag ich Symbole oder Metaphern nicht besonders, sie gehen meist schief. Trotzdem ertappe ich mich immer mal wieder dabei, dass ich sie schreibe, aber das ist gar nicht so gedacht.
Sie interessieren sich für Freuds Psychoanalyse und haben selbst Psychologie studiert. Was fasziniert Sie daran?
Das Studium war ein Traum, den ich mir erfüllt habe. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, bin mit 15 Jahren von der Schule gegangen, hatte zwar viele Freunde, die Abitur gemacht und studiert haben, aber ich stand immer etwas außerhalb. Das hab ich vor zehn Jahren noch mal ändern wollen, hab das Abitur mühsam nachgemacht, Psychologie studiert. Komischerweise hab ich es aus dem Ärmel geschüttelt – lauter Einsen in Statistik (lacht). Dann habe ich das Studium abgebrochen, weil die Schreiberei zu groß wurde. Für mich war es aber gut. Ich habe verstanden, dass ich in dem Bereich nicht arbeiten will.
Warum können Sie sich nicht vorstellen, als Psychologe zu arbeiten?
Mir fehlen einige Eigenschaften, die ich von einem guten Therapeuten erwarte. Die wichtigste ist Geduld. Diese Kontinuität zu gewährleisten, jemandem einmal pro Woche zuzuhören, empfinde ich als große Leistung. Ich kann auch die Intimität eines geschlossenen Raumes und eines Zweiersettings nur schwer aushalten, ich finde das zu anstrengend.
Sie haben jetzt fünf Bücher geschrieben. Es scheint, als würden Sie mit jedem Roman besser und erfolgreicher werden. Macht Sie das auch im Schreibprozess sicherer?
Nein, ich werde im Gegenteil immer unsicherer. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt. In mancher Hinsicht weiß ich schon, dass da einiges ist, auf das ich mich verlassen kann. Ich weiß, was ich geschafft habe. Aber daneben wächst das Gespenst der Unsicherheit noch schneller. Es kommt vielleicht auch daher, dass mir kein ausgewiesenes Werkzeug zur Verfügung steht. Ich kann mich nicht wie andere Schriftsteller auf meine Sprache, meine Eloquenz, meine Intellektualität zurückziehen. Natürlich gibt es irgendwo einen Schatz, den ich in mir habe, aber ich muss mir jeden einzelnen Satz irgendwoher erkämpfen.
Haben Sie sich mit dem Schreiben der Bücher denn auch persönlich weiterentwickelt? Sind Sie achtsamer oder offener als früher?
Nein. Schreiben ist für mich tatsächlich eher einsam, egozentrisch, konzentriert. Es hat meiner Erfahrung nach mit dem Leben nicht viel zu tun. Ich habe einen fünfjährigen Sohn –mit dem findet das Leben statt.
Robert Seethaler wurde 1966 in Wien geboren. Er spielte viele Jahre lang in Fernseh- und Kinofilmen und im Theater. Heute ist von diesem Beruf nur noch eine kleine Dauerrolle in der Krimireihe Ein starkes Team übrig, in der Seethaler einen Gerichtsmediziner spielt. Neben mehreren preisgekrönten Drehbüchern schrieb der Autor fünf Romane, die ebenfalls zahlreiche Literaturpreise erhielten. Darunter: Der Trafikant (Kein & Aber) sowie der Roman Ein ganzes Leben (Hanser) überraschend zu Bestsellern geworden.