Das fühlende Tier

Spitzhörnchen, die sich verlieben, Kohlmeisen, die Persönlichkeit zeigen: Verhaltensbiologe Norbert Sachser weiß um die Gedanken und Gefühle von Tieren

Das Foto zeigt einen Schimpansen, der gefühlvoll schaut
Worüber er wohl gerade nachdenkt? Schimpansen, Delfine oder Elefanten haben erstaunliche kognitive Fähigkeiten © Walter Schels

Herr Professor Sachser, Ihr neues Buch Der Mensch im Tier handelt von großen Umbrüchen in der Verhaltensbiologie. Sie sagen, dass Mensch und Tier sich viel ähnlicher seien als gedacht. Wie nah sind wir denn den Tieren?

Man kann in der Verhaltensbiologie tatsächlich von einem Paradigmenwechsel sprechen. Früher hieß es, Tiere könnten nicht denken, bei ihnen sei alles nur Instinkt. Das Gleiche bei den Emotionen, da hieß es, über die Gefühle von Tieren könne man keine wissenschaftlich überprüfbaren Aussagen…

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Emotionen, da hieß es, über die Gefühle von Tieren könne man keine wissenschaftlich überprüfbaren Aussagen machen. Heute aber kennen wir Methoden, die uns genau diese Aussagen ermöglichen. Sie lassen uns zum Ergebnis kommen, dass die kognitiven und emotionalen Leistungen von Tieren viel weiter fortgeschritten sind, als wir uns das vorstellen konnten. Es steckt also ziemlich viel Mensch im Tier.

Sie beschreiben einen Orang-Utan, der eine Erdnuss aus einem Reagenzglas holen will. Als ihm das nicht gelingt, weil seine Finger zu kurz sind, füllt er das Reagenzglas einfach mit Wasser auf und fischt die Nuss heraus. Das ist eine ziemlich anspruchsvolle kognitive Leistung.Alle Menschenaffen sind prinzipiell zu diesen kognitiven Leistungen fähig. Von Schimpansen weiß man das eigentlich schon seit hundert Jahren. Damals hatte der deutsche Psychologe Wolfgang Köhler in einem Affengehege auf Teneriffa eine Banane an die Decke gehängt und geschaut, was passiert. Ein besonders schlauer Schimpanse im Gehege, Sultan, guckte sich die Situation eine Weile an. Dann holte er Kisten und stapelte sie aufeinander, die größte nach unten und die kleinste nach oben. Schließlich suchte er ein paar Stangen, steckte sie ineinander, stieg auf die Kisten, angelte sich die Banane und aß sie auf. Mithilfe seiner hohen kognitiven Fähigkeiten konnte Sultan also einen mentalen Denkvorgang vollziehen, der dann zur Lösung seines Problems führte. Erstaunlicherweise hielt sich trotzdem viele Jahrzehnte das Dogma, dass Tiere nicht denken könnten. Erst seit wenigen Jahren ist allgemein akzeptiert, dass manche Tiere Probleme nicht durch Versuch und Irrtum lösen, sondern durch Nachdenken eine Lösung finden.

Welche Tiere außer den Menschenaffen können noch denken?

Delfine und Elefanten zeigen ebenfalls weitentwickelte kognitive Leistungen. Für uns Biologen war in den letzten Jahren aber die größte Überraschung, dass auch Rabenvögel denken können, obwohl sie ja nicht die komplexe Großhirnrinde haben, die wir immer als entscheidend für Intelligenzleistungen hielten. Neukaledonienkrähen und Kolkraben scheinen in ihren kognitiven Leistungen selbst den ­Menschenaffen in nichts nachzustehen. Die Entwicklung zu hohen kognitiven Leistungen ist also keine Einbahnstraße Richtung Mensch, sondern in ganz verschiedene Richtungen verlaufen.

Uns Menschen unterscheidet von den Tieren aber ja auch, dass wir ein Ich-Bewusstsein haben. Wissen hochintelligente Tiere um ihre Identität?

Definitiv. Schimpansen zum Beispiel erkennen sich im Spiegel. Wenn man Schimpansen einen roten Fleck auf die Stirn malt und sie vor den Spiegel setzt, dann greifen sie nicht in den Spiegel hinein, um den roten Punkt zu berühren, sondern fassen sich an die eigene Stirn. Sie wissen also, dass sie selbst im Spiegel zu sehen sind. Ein Kind kann das erst ab dem Alter von etwa anderthalb Jahren. Ähnliche Experimente funktionieren auch bei Delfinen, Elefanten und wiederum bei Rabenvögeln. All diese Tiere können aber noch viel mehr: Sie können sich auch in andere hineinversetzen, also die Vorstellungen und Absichten ihrer Artgenossen erkennen und ihr eigenes Verhalten danach ausrichten. In der Philosophie sagt man dazu: Sie haben – zumindest in Ansätzen – eine Theory of Mind, also die mentale Fähigkeit, die Welt aus der Sicht eines anderen zu sehen.

Wie findet man heraus, ob ein Tier sich in andere hineinversetzen kann?

Vor anderthalb Jahren gab es dazu ein raffiniertes Experiment am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die Forscher versuchten, mit Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans den False-Belief-Test nachzustellen, einen Test den man üblicherweise mit Kindern durchführt, um zu schauen, ab welchem Alter sie verstehen können, dass Menschen manchmal falsche Überzeugungen haben. Sie spielten den Affen ein Video vor, was Affen übrigens lieben, wenn man ihnen gleichzeitig Fruchtsaft zum Nuckeln gibt. Im Video stiehlt ein als King Kong verkleideter Mensch einem nicht verkleideten Menschen einen Stein und versteckt ihn in einer von zwei Boxen. Dabei wird King Kong von dem Menschen beobachtet. Nun bedroht King Kong den Menschen, worauf dieser aus dem Raum flieht. Anschließend nimmt King Kong den Stein und versteckt ihn in der anderen Box. Dann überlegt er es sich doch anders, nimmt den Stein an sich und geht damit raus. Nun kommt der Mensch wieder ins Gehege und will den Stein holen. Die Frage ist jetzt: Wo gucken die Affen hin? Bemerkenswerterweise schauen sie genau zu der Box, in der der Mensch fälschlicherweise den Stein vermuten muss. Die Tiere können sich also in den Menschen hineinversetzen und wissen, dass der Mensch in diesem Moment einen false belief – eine falsche Vorstellung – hat. Wenn man entsprechende Untersuchungen mit Kindern macht, können viele Kinder das erst im Alter von fünf bis sechs Jahren.

Bedeutet das also, dass diese Tiere ähnlich einfühlsam sind wie wir?

Erstens bedeutet das, dass es eine große Ähnlichkeit zwischen unseren Gehirnen, unserer Wahrnehmung und unseren kognitiven Leistungen gibt. Zweitens bedeutet es, dass sowohl Menschen als auch intelligente Tiere stark durch Umwelterfahrungen geformt werden. Die komplexen kognitiven und emotionalen Prozesse, die eine Theory of Mind voraussetzt, entwickeln sich nämlich nur in der Beziehung zu den Artgenossen. Das ist definitiv kein Instinkt.

Die Fähigkeit zur sozialen Perspektivübernahme, die Sie beschreiben, nennt man in der Psychologie ja auch Mentalisierung. Forscher glauben heute, dass die Mentalisierungsfähigkeit vor ­allem in der Bindungsbeziehung des kleinen ­Kindes zur den Eltern erworben wird. Erlernen Tiere diese komplexen kognitiven Prozesse auch durch die Bindungsbeziehung?

Das ist schwer zu sagen. Aus Studien mit Ratten wissen wir, dass Kinder von guten Rattenmüttern im späteren Leben mutiger sind und besser lernen als der Nachwuchs von schlechten Rattenmüttern. Die Bindungserfahrung ist also wichtig und prägt das individuelle Verhalten. Unsere Untersuchungen an Meerschweinchen haben aber auch gezeigt, dass schon die Phase der Trächtigkeit extreme Auswirkungen darauf hat, wie sich das Gehirn und die Persönlichkeit der Nachkommen entwickeln. Wenn die trächtige Mutter in einer sozial instabilen Umwelt lebt, verhalten sich die Töchter später maskulinisiert und die Söhne infantilisiert. Die Umwelterfahrungen wirken wie bei uns Menschen also auf die Gehirnentwicklung ein und entscheiden später, wie die Individuen sich verhalten werden. Das Sozialverhalten von Säugetieren allerdings wird vor allem in deren Adoleszenz geprägt.

Was passiert in der Adoleszenz?

Junge Meerschweinchenmännchen lernen in der Gemeinschaft mit erwachsenen Männchen die Regeln des Zusammenlebens und wissen später genau, wie sie soziale Beziehungen stress- und aggressionsfrei führen können. Wenn Tiere in der Adoleszenz aber einzeln aufwachsen, reagieren sie nach instinktiven Mustern: Sobald sie ein anderes Männchen sehen, greifen sie an. Das ist natürlich gefährlich. Die spannende Frage ist jetzt: Wie interagieren die verschiedenen Entwicklungsphasen miteinander? Welche Dinge werden in der pränatalen Phase ausgeformt, welche in der frühkindlichen und welche in der Adoleszenz? Vermutlich werden wir für Mensch und Tier sehr ähnliche Antworten bekommen.

Wenn die prägenden Entwicklungsphasen bei Mensch und Tier ähnlich sind, sind dann auch unsere Emotionen ähnlich? Sicherlich haben Menschen doch wesentlich ausdifferenziertere Gefühle als Tiere.

Interessanterweise handelt es sich bei dem Gehirn­areal, in dem die Emotionen generiert und verarbeitet werden – dem limbischen System – um eine sehr alte Struktur, die sich zwischen Mensch und anderen Säugetieren kaum unterscheidet. Deshalb verwundert es nicht, dass auch verblüffende Ähnlichkeiten bei den Emotionen bestehen. Insbesondere sehe ich eine große Übereinstimmung bei basalen Emotionen wie Angst oder Freude. Bei den komplexeren Emotionen scheinen Eifersucht und Frustration Gefühle zu sein, die Tiere ähnlich empfinden könnten. In der Verhaltensforschung gibt es beim Thema tierliche Emotionen aber gerade eine Kontroverse: Manche Forscher versuchen, menschliche Emotionen passgenau bei den Tieren zu identifizieren. Das sind aber reine Analogieschlüsse, da muss man aufpassen: Nur weil ein Schimpanse eine ähnliche Gesichtsmimik hat wie wir, heißt es nicht, dass er dasselbe fühlt. Evolutionsbiologische Argumente mahnen ebenfalls zur Vorsicht: Denn alle emotionalen Merkmale stellen Anpassungen an den Lebensraum dar. Das heißt: Bei vielen Tieren könnten auch Emotionen entstanden sein, die wir Menschen gar nicht kennen.

Das heißt zum Beispiel, dass wir nicht wissen können, wie eine Fledermaus fühlt, weil sie im Luftraum lebt?

Oder ein Delfin, der im Ozean lebt. Wenn Emotionen die Anpassung an die Umwelt darstellen, sollte man annehmen, dass Emotionen von Tieren, die in anderen Lebensräumen leben, uns möglicherweise fremd sind. Deshalb vertreten andere Forscher die Meinung, dass wir mit unseren jetzigen Methoden bei Tieren mit Bestimmtheit nur die Wertigkeit von Emotionen feststellen können, das heißt: Wir können nur sagen, ob gewisse Emotionen positiv oder negativ sind oder stark oder schwach ausgeprägt. Darüber hinaus können wir die Tiere aber anhand von Präferenztests selbst befragen, wie sie die Welt sehen. Durch Präferenztests können wir erfahren, welchen Bodenbelag Ferkel bevorzugen, welche Liegematten Rinder haben wollen und mit welchem Partner Schafe sich am liebsten paaren.

Welche Rolle spielt die Bindung für das Wohlgefühl der Tiere?

Bei vielen Säugetieren spielt die Bindung eine riesige Rolle. Wir haben dazu viele Untersuchungen mit Meerschweinchen durchgeführt, die eignen sich gut, weil sie stabile soziale Beziehungen aufbauen. Trennt man ein Meerschweinchen von seinem Bindungspartner und setzt es in ein fremdes Gehege, so kommt es zu einer akuten Stressreaktion: Die Kortisolwerte im Blut schnellen innerhalb von 30 Minuten um 100 Prozent in die Höhe. Das ist exakt dieselbe Reaktion, die kleine Kinder auch bei der Trennung von ihren Müttern zeigen. Umgekehrt schützt die Bindung vor Stress. Ist der Bindungspartner in der Nähe, verlangsamt sich der Herzschlag, die Stresshormonausschüttung verringert sich, und das Immunsystem wird stärker. Wie bei den Menschen ist auch bei den Tieren eine gute soziale Bindung der beste Puffer gegen Stress.

Bindung kommt ja nicht nur bei Eltern-Kind-Beziehungen, sondern auch bei Partnerschaften ins Spiel. Können Tiere sich auch verlieben?

Erstaunlicherweise kennen Tiere sogar die Liebe auf den ersten Blick! Es gab sehr schöne Untersuchungen an Spitzhörnchen, die in monogamen Paaren in freier Natur leben. Wenn man fremde Männchen und Weibchen gemeinsam in ein Gehege setzt, gibt es häufig Mord und Totschlag. Aber es passiert immer wieder, dass ein Männchen und ein Weibchen sich anschauen, aufeinander zugehen und für immer zusammenbleiben. Auch hier sieht man dann wieder, wie gut eine positive Paarbeziehung für die Gesundheit der Tiere ist.

Warum verlieben sich Tiere auf den ersten Blick? Liegt es am Aussehen oder der Persönlichkeit?

Das wissen wir nicht so genau. Was wir aber wissen, ist, dass es definitiv Tierpersönlichkeiten gibt. Kein Hund ist wie der andere und keine Kohlmeise wie die andere. Mittlerweile sehen wir selbst bei Insekten, dass kein Blattkäfer wie der andere ist.

Wenn Umwelt und Gene bei Tieren ähnlich stark interagieren wie bei uns Menschen, gibt es dann auch psychische Störungen bei Tieren?

Es gibt auf jeden Fall Verhaltensstörungen. Wenn ein Tier in schlechten Haltungsbedingungen lebt, kann es Verhaltensstereotypien entwickeln. Ein Papagei zupft sich die Federn aus, ein Luchs im Zoo läuft immer wieder dieselbe Bahn, ein Eisbär immer wieder dieselbe Acht. Dieses Verhalten kann auch dann gezeigt werden, wenn die Tiere in aktuell guten Haltungsbedingungen leben, aber früher mal ein traumatisches Erlebnis hatten, etwa in der Kindheit oder Jugend. Das ist dann definitiv eine Störung.

Sie sprachen auch von maskulinisierten Meerschweinchenweibchen, deren Mütter in der Schwangerschaft aufgrund einer hohen Populationsdichte viel Stress hatten. Sind diese Tiere aus Ihrer Sicht auch gestört?

In der Verhaltensforschung haben wir gelernt, dass vieles, was bei Tieren auf den ersten Blick wie abweichendes Verhalten aussieht, eigentlich eine gute Anpassung an die Umweltbedingungen darstellt. Evolutionsbiologen würden sagen: Wenn eine Tochter kraft der pränatalen Hormonausschüttungen der Mutter in einer stressigen Umgebung maskulinisiert zur Welt kommt, dann ist das fantastisch, weil sie robuster ist und sich besser durchsetzen kann. Sie kann sich die Ressourcen besser sichern und hat wahrscheinlich einen größeren Reproduktionserfolg.

Ist es dann nicht manchmal schlimm für Sie als Verhaltensbiologe, wenn Sie sehen, wie wir mit Tieren umgehen? Ich denke vor allem an die Massentierhaltung.

Das ist sehr frustrierend. Meines Erachtens müssen wir nicht mehr darüber forschen, ob es Legehennen in Batterien gutgeht oder ob es tiergerecht ist, Rinder quer durch Europa zu fahren. Die Forschung hat es längst geschafft, ein Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, womit wir sagen können, ob es Tieren gutgeht oder nicht. Aber in Bezug auf die Massentierhaltung sagt einem so was ja schon der gesunde Menschenverstand.

Norbert Sachser, Jahrgang 1954, ist Professor für Zoologie und leitet das Zentrum für Verhaltensbiologie an der Universität Münster. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit der Evolution und Entwicklung des Sozialverhaltens von Säugetieren

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2018: Der Ex-Faktor