„Vieles bleibt unsagbar“

Der holländische Schriftsteller Gerbrand Bakker litt jahrzehntelang an einer schweren Depression. Mit seinen Büchern berührt er Leser weltweit.

Das Foto zeigt den niederländischen Schriftsteller Gerbrand Bakker.
Der niederländische Schriftsteller Gerbrand Bakker. © Isolde Ohlbaum/laif

Einen üppig blühenden Garten hat Gerbrand Bakker rund um sein Haus in der Eifel gestaltet, mit Terrassenbeeten aus Naturstein, bunten Stauden und einer selbstgebauten Vogelfutterstation. „Als ich ankam, war hier nichts außer Gras und Wildnis“, sagt der 56-Jährige, der diplomierter Gärtner ist. Einige Jahre arbeitete er in dem Beruf, bevor er Sprachwissenschaften in Amsterdam studierte, Wörterbücher verfasste und irgendwann auch anfing, Romane zu schreiben. Diese haben international Aufsehen erregt, Gerbrand…

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und irgendwann auch anfing, Romane zu schreiben. Diese haben international Aufsehen erregt, Gerbrand Bakker erhielt mehrere renom­mierte Literaturpreise, etwa den Independent Foreign Fiction Prize. Sein bekanntester Roman Oben ist es still wurde in 35 Sprachen übersetzt und ist verfilmt worden.

Wer Bakkers letztes Buch Jasper und sein Knecht gelesen hat, der erkennt im Garten in der Eifel einiges von dem wieder, worüber Bakker dort erzählt. Denn in diesem zum Teil autobiografischen Buch, das aus literarischen Tagebucheinträgen besteht, hat Bakker den Kauf des Hauses im Jahr 2012, den Bau der Vogelfutterstation und andere Schritte bei der Gartengestaltung genau beschrieben. Ebenso präzise hat er seinen Gemütszustand dargelegt. Er beschreibt dort im Rückblick die Jahre zwischen 2011 und 2013 als quälend. Er erlebte in der Zeit eine schwere Depression, die mit Panikgefühlen, Zwangsgedanken und Schlaflosigkeit einherging – und mit einer Unfähigkeit, öffentlich aufzutreten. Erst in der Krise habe er verstanden, dass er wahrscheinlich seit seiner Jugend an dieser psychischen Erkrankung leidet, schreibt Bakker in dem Text.

Einige Jahre ging es ihm – auch mithilfe von Antidepressiva – deutlich besser. Doch derzeit kämpfe er wieder mit seinem Gemütszustand, wie er freimütig erzählt. Anzumerken ist ihm das nur zum Teil. Er wirkt ruhig, in sich gekehrt. Wie jemand, der körperliche Schmerzen hat, aber nicht darüber sprechen möchte. Einmal erwähnt er im Interview, dass es für ihn im Augenblick fast unmöglich sei, dieses Gespräch zu führen. Auf Fragen reagiert er aber sehr gewissenhaft, überlegt eine Weile stumm – und gibt dann durchdachte, oft druckreife Antworten.

Herr Bakker, die Hauptfiguren in Ihren Büchern sind auf der einen Seite oft einsam und melancholisch, andererseits aber auch stark und eigensinnig. Was interessiert Sie an diesem Spannungsfeld, an dieser Art Persönlichkeit?

Daran interessiert mich erst einmal gar nichts. Ich forme die Charaktere meiner Bücher nicht aus einer bestimmten Absicht heraus. Sie entstehen alle direkt beim Schreiben. Doch meine Sicht auf meine eigenen Romane hat sich in den letzten Jahren auch geändert: Seit ich Jasper und sein Knecht geschrieben habe und mich dort offen mit meiner Depression auseinandergesetzt habe, ist mir klargeworden, dass meine Romanfiguren wahrscheinlich doch autobiografischer sind, als ich früher angenommen habe. Der wortkarge Bauer Helmer aus dem Roman Oben ist es still beispielsweise trägt Züge von mir und erlebt einen Teil meiner eigenen Konflikte. Und auch in anderen Figuren finde ich mich heute eher wieder.

Wenn Sie die Charaktere zu Beginn des Schreibprozesses noch gar nicht kennen – wie orientieren Sie sich? Haben Sie ein Thema im Blick, beispielsweise Isolation oder Abschied?

Ein festes Thema habe ich nicht vor Augen. Ich habe ein paar Eckpunkte, das ja. Ich baue mir am Anfang eine einfache, überschaubare Welt, sie muss wirklich sehr einfach sein. Es darf keine Stadt sein, da wären zu viele Menschen und zu viel Lärm. In meinem Buch Der Umweg sieht man das: Es gibt die Frau, Agnes, ein Haus in Wales, das sie mietet, die Landschaft, es gibt einen Bäcker, wo man sein Brot kaufen kann. Das ist es. Wenn ich mit einem Buch anfange, weiß ich wirklich nie, wohin das führen wird. Als ich mit Oben ist es still begann, schrieb ich einfach den ersten Satz: „Ich habe Vater nach oben geschafft.“ Ich las den Satz und dachte: Aha, da habe ich dann wohl zwei Personen! Nach einer Weile kommen dann andere Menschen hinzu. Ich frage mich, ob auf dem Bauernhof, wo die Geschichte spielt, auch Nachbarn sind, und dann taucht die Nachbarin Ada auf. Dann frage ich mich, wer im Laufe der Woche noch auf dem Hof vorbeikommt, es sind Milchfahrer und Viehhändler. So geht es immer weiter. Es entwickelt sich organisch. Aber ohne eine bewusste Absicht.

Kritiker loben immer wieder Ihre karge, nüchterne und doch poetische Sprache. Ist dieser Stil denn etwas, das Sie planen?

Die kurzen Sätze sind für mich nur ein Teil der überschaubaren Welt, die beim Schreiben entsteht. Ich lese selbst ungern Romane, in denen es von Metaphern wimmelt. Ich muss dann zu hart nachdenken, was nun eigentlich dieses oder jenes Bild bedeutet, und falle leicht aus der Geschichte raus. Darin sehe ich keinen Sinn. Deshalb wähle ich knappe Sätze, so hat dieser Stil sich entwickelt, wenn man also will „mein Stil“. Mir war aber nicht klar, was er bei anderen bewirkt. Als viele Kritiker und Leser später von der „wunderbaren Sprache“ geschwärmt haben, hörte ich das und dachte: Ich habe doch gar nichts Besonderes gemacht!

Das klingt, als würden Sie Ihren Lesern oder den Kritikern dieses Lob nicht abnehmen.

Doch. Nur bin ich für Lob letztlich nicht empfänglich. Das heißt, es gibt mir nichts, wenn Leute mir sagen, wie wunderbar sie meine Bücher finden. Bei Kritik verhält es sich leider ganz anders, die kann mich sehr angreifen und mitnehmen. Man kann zwar lernen, damit besser umzugehen, aber es ist für mich noch immer nicht einfach. Ich empfinde einen Austausch über meine Bücher ohnehin als schwierig, denn ich habe keine konkrete Intention, will nicht, dass meine Leser in einer bestimmten Weise empfinden, kann die Themen und Motive meiner Romane nicht benennen – und will das auch nicht. Mit meinem Jugendbuch Birnbäume blühen weiß habe ich in den Niederlanden einmal zwei Lesungen mit Schulklassen gemacht. Ich hatte etwas Angst davor, weil ich nicht wusste, wie ich das angehen sollte. Die Schüler hatten mein Buch gelesen und erzählten mir dann von den Motiven und Themen, die ich dort behandele. Ich fand das befremdlich und sagte ihnen: So denke ich gar nicht über meine Bücher. Es sind die Lehrer, die das zerpflücken und den Text damit zerbrechen.

Wie haben die Schüler darauf reagiert?

Das fanden sie ganz interessant. Und doch irritiert es mich selbst manchmal. Ich habe schon einige Male gesagt, dass ich mich im Grunde gar nicht wie ein richtiger Schriftsteller fühle. Ich denke häufig: Ich bin eher jemand, der ab und zu ein Buch schreibt.

Das sieht der Literaturbetrieb anders. Ihre Werke sind mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, Ihre Romane werden weltweit übersetzt und gelesen.

Und doch nutze ich das Schreiben vor allem dazu, einige Monate in einer anderen Welt zu verbringen, auf die ich mich voll konzentrieren und einlassen kann. Es ist dann einfach ein Setting, in dem es schöner ist als in meiner eigenen Welt zu der Zeit. Denn die war oft schrecklich. Ich habe ja lange nicht verstanden, was mit mir los war. Heute weiß ich: Schon damals hatte ich depressive Zeiten. Es ging mir wohl schon immer darum, mich in schweren Phasen mit dem Schreiben quasi durchzuschleppen, mich von Tag zu Tag zu hangeln, einfach ein halbes Jahr weiterzukommen. Das Schreiben hilft.

Wie kann das Schreiben eine depressive Phase erträglicher machen?

Es ist nicht therapeutisch oder eine emotionale Befreiung, aber wenn es mir schlecht geht, muss ich etwas zu schaffen haben. Schreiben ist gut, dabei entsteht etwas. Im Garten zu arbeiten hilft dann auch – das ist oft sogar am allerbesten. Eine dieser Durchschlepp-Perioden, in denen ich mich von Tag zu Tag weiterquäle, erlebe ich gerade wieder. In den letzten Wochen bin ich so depressiv wie selten. Ich habe Panikattacken, kann nicht gut schlafen, ertrage kaum einen Menschen. Dass ich hier sitze und rede, ist eigentlich nicht zu schaffen. Und doch ist es eben so, dass man weitermacht. Ausgerechnet jetzt, in dieser Phase, schreibe ich – nach fast zehn Jahren – zum ersten Mal wieder an einem richtigen Roman. Doch das, was sich da gerade inhaltlich entwickelt, ist so bedrohlich, dass es sogar mich abschreckt. Ich will nicht. Ich will das nicht schreiben. Ich sitze dann hier und denke: Warum kannst du jetzt nicht etwas anderes überlegen? Warum keine Geschichte, die heiterer ist oder trostreich? Aber das geht nicht. Ich muss mich durchkämpfen.

War Schreiben für Sie immer so schwer, so ein Kampf – oder gibt es im Prozess selbst auch gute, stärkende Momente?

Ich schreibe ja regelmäßig Kolumnen für zwei niederländische Medien, für eine politische Wochenzeitschrift, De Groene Amsterdammer, und für eine überregionale Zeitung. Ich mag das. Wenn ich an diesen Texten sitze, ist das Schreiben wunderbar. Und manchmal kann auch das, was in Romanen entsteht, schön sein. Als ich Oben ist es still schrieb, haben mir alle Figuren sehr gut gefallen. Das heißt nicht einmal, dass es nette, brave Figuren sein müssen. Manchmal kann es auch herrlich sein, einen Charakter zu schaffen, der richtig fies ist. Es gibt ja zum Beispiel diesen welschen Bauern in Der Umweg, der wirklich glaubt, dass er das Recht hat, eine Frau, nur weil sie dort allein ein Haus mietet, anzufassen und sie sich quasi zu nehmen. Sich solche Personen auszudenken, das macht manchmal richtig Spaß.

Weil man Aggression zulässt?

Auch. Obwohl ich bisher noch nicht imstande gewesen bin, eine wirklich böse Figur zu schaffen. Immer gibt es bei den Schilderungen noch etwas, was den Leser denken lässt: „ach“. Es entsteht also doch so etwas wie Verständnis oder Mitleid. Und letztlich glaube ich auch, dass es richtig ist, dass die Figuren in Romanen immer gute und schlechte Seiten erkennen lassen. Und dass es hilft, ein bisschen Hintergrund zu geben, damit Leser verstehen, warum Menschen böse und gemeine Dinge tun. Ohnehin möchte ich gern glauben, dass alle Menschen letztlich gut sind oder gut sein wollen. Etwas anderes wäre zu schrecklich.

Sie beschreiben sich selbst in Jasper und sein Knecht keineswegs nur positiv: Die Depression und ihre Effekte, der soziale Rückzug, die Niedergeschlagenheit, das alles schildern Sie nüchtern und offen. Wie haben die Leser dieses Buch aufgenommen?

Es ist etwas Interessantes passiert, als das Buch in Deutschland erschien. Ich habe das erste Mal die Erfahrung gemacht, dass auch hier Leser frech oder böse sein können. Deutsches Literaturpublikum ist normalerweise sehr freundlich und zuvorkommend, nach dem Motto: „Oh, da ist der Schriftsteller, bitte, danke …“ Aber nach der Lektüre von Jasper und sein Knecht waren viele Leser pikiert und fühlten sich verschaukelt. Sie wollten wissen: Was ist das für ein Buch? Und warum soll ich diese vielen privaten, oft auch intimen Erlebnisse und Gefühle des Autors lesen? Zum Teil war das sicher einfach ein Missverständnis. Denn das Buch ist in Holland in einer literarischen Reihe erschienen, die „Privé-Domein“ heißt, also Privatsphäre. Ein Verleger bringt jährlich mehrmals Bücher heraus mit Tagebucheinträgen, Briefen, Gedanken von verschiedenen Schriftstellern. Das sind Ego-Dokumente von zeitgenössischen Autoren, aber eben auch Zusammenstellungen mit Texten von Kafka, Tolstoi, Orwell und anderen. In den Niederlanden kennt jeder diese Bücher, sie haben alle die gleiche Länge, ein ähnliches Cover, es sind schon fast 300 Bände erschienen. In Deutschland wurde das Buch nun aber ohne diese Zusatzinformation verkauft. Die Leute wussten schlicht nicht, was es ist. Für mich ist das okay, es ist ja ein Buch. Da gilt aus meiner Sicht: Lies es und guck, ob es dir gefällt – und wenn nicht, dann leg es auch gern weg. Die Empörung war trotzdem groß. Und ich glaube, das hat auch etwas mit der unterschiedlichen Mentalität von Deutschen und Niederländern zu tun. In den Niederlanden kann man über die eigenen Erkrankungen, Grübeleien, über sexuelle Erlebnisse oder Schwächen ganz anders und offener berichten. In Deutschland gibt es dann häufig einen Reflex, zu sagen: „Das musst du doch für dich behalten, das darf doch so genau niemand wissen.“

Was denken Sie: Hilft ein offener und vielleicht auch öffentlicher Umgang dabei, ein Problem zu verarbeiten? Zum Beispiel auch Ihre Depression?

Ich glaube schon, dass es gut und hilfreich ist, wenn Leute wie ich sich zu einem Thema wie Depression offen äußern – und andere das dann lesen. Denn es ist eine unsichtbare Krankheit, immer noch. Ich sitze hier jetzt gerade nicht mit einem gebrochenen Bein, man kann nicht sehen, was in mir vorgeht, was mir fehlt oder wie schlimm es vielleicht wirklich ist. Das macht unglaublich einsam. Man bekommt manchmal Kommentare voller Unverständnis zu hören, so etwas wie „Du simulierst“ oder „Ich sehe doch gar nichts“. Ich schreibe darüber auch in dem Buch. Ich habe beispielsweise einen Freund verloren, der mir in einer Mail die Freundschaft kündigte und schrieb, wer von sich behaupte, depressiv zu sein, könne das „von da an immer benutzen, um sich vor allem zu drücken“. Gegen so etwas muss man sich wehren. Und eine Form ist eben, darzulegen, wie es im Inneren aussieht, wenn man depressiv ist, und wie der Alltag sich gestaltet. Deshalb habe ich versucht, es zu beschreiben. Aber ich finde, ich habe es sehr schlecht gemacht.

Was hat Ihnen an Ihren Passagen über die Depression nicht gefallen?

Vieles vom Innenleben eines Depressiven ist eigentlich nicht beschreibbar, man kann da vielleicht doch nur in Metaphern darüber schreiben und so versuchen, es anderen zu vermitteln. Selbst wenn ich bei meinem Therapeuten in Amsterdam bin, wenn wir zusammensitzen, ist es für mich fast unmöglich, ihm zu sagen, was es für mich ist, wie ich empfinde in der Depression, welche Zwangsgedanken oder Gefühle von Schuld und Scham ich habe, wie erschlagen ich mich fühle. Also: Es ist nicht zu beschreiben, man kann es aber versuchen.

Sie reflektieren in dem Buch auch über frühere Episoden der Depression. Es gibt eine Szene, in der der 20-jährige Gerbrand bei seinen Eltern am Esstisch sitzt und sagt: „Ich bin so schrecklich unglücklich.“ Und die Eltern sagen erst nichts und später am Abend: „Wir können dir nicht helfen.“ Hier spürt man eine große Ohnmacht und Einsamkeit – und ahnt, wie schmerzhaft solche Reaktionen sind.

Meine Eltern verstehen meine Depression bis heute nicht. Und für mich heißt das: Sie verstehen mich nicht. Denn ich leide ja immer wieder unter diesen Episoden. Und ich treffe sie nun einmal auch, wenn ich gerade eine Tiefphase habe. So wie derzeit. Meine Mutter kann immer sehr schlecht damit umgehen, wenn ich in mich gekehrt bin. Sie ist beleidigt, wenn ich auf ihre vielen Fragen nicht antworte. Sie versucht dann einfach immer weiter, zu mir vorzudringen, selbst wenn ich in dem Moment nicht in Kontakt treten kann. Manchmal sage ich ihr dann ganz klar und auch im harschen Ton, dass ich das nicht will und dass sie bitte mit der Fragerei aufhören soll. Aber danach bekomme ich auch sofort wieder heftige Schuldgefühle.

Warum diese Schuldgefühle?

Weil es eben für die anderen Menschen sehr anstrengend sein kann, wenn man in einer depressiven Verfassung ist. Ich glaube, ich verstehe heute Leute besser, die Selbstmord begehen. Ich denke mittlerweile, die Mehrzahl tut es nicht, weil sie sich selbst nicht mehr aushalten, sondern weil sie den Kontakt mit ihren Bezugspersonen nicht mehr aushalten. Sie müssen weg von den anderen, von ihren Kindern, von ihrem Ehepartner. Sie wollen keine Last mehr sein.

So geht es ja auch Agnes in dem Roman Der Umweg. Sie ist körperlich schwer krank, will für ihren Mann keine Last sein und autonom entscheiden, wie es weitergeht. Sie zieht sich zurück, geht allein von Amsterdam nach Wales. Sehen Sie da Parallelen zu Ihrer eigenen Situation?

Ja, Agnes oder Emily, wie sie sich selbst in dem Buch nennt, ist bestimmt diejenige von meinen Figuren, die mir selbst am nächsten kommt, wenn man es denn so haben will. Nicht nur, weil sie sich so radikal zurückzieht, sondern auch, weil sie dann diesen Jungen kennenlernt, diesen Bauernsohn. Es entwickelt sich zwischen den beiden eine sehr ambivalente Beziehung. Die ganze Zeit ist es eine „Komm her, geh weg“-Dynamik, die mir sehr vertraut ist. Aus depressiven Phasen besonders, aber auch sonst. Ich glaube, dass ich selbst ebenfalls weggegangen bin aus Amsterdam hierher in die Eifel, um Abstand zu bekommen zu meinem Umfeld in Holland.

Und war es für Sie ein guter Schritt – geht es Ihnen besser mit der Entscheidung?

Das weiß ich nicht. Manchmal liebe ich das hier sehr, besonders den Garten. Im letzten Winter hatte ich aber manchmal Momente, in denen ich dachte, dass ich das alles verkaufe und wieder zurückgehe oder woandershin. Die Einsamkeit ist wirklich das Schlimmste an der Depression. Es ist ein kompletter Zwiespalt: Man kann eigentlich keine Menschen ertragen, aber es ist gleichzeitig überhaupt nicht gut, wenn man ganz allein ist, denn dann ist man wirklich einsam. Da hilft es, wenn es gute Freunde gibt, die einfach da sind und mich so lassen können, wie ich bin. Ich bin froh, dass ich einige solcher Freunde habe, mit denen ich viel Zeit verbringe, die mich hier auch regelmäßig besuchen.

Ist es eigentlich hilfreich, dass Sie heute wissen, dass Sie an einer Depression leiden – oder hätten Sie dieses Label lieber nicht im Kopf?

Ich verstehe gar nicht, warum viele Menschen dieses „Etikett der Depression“, wie es immer heißt, bedenklich finden. Für mich ist es eine Erlösung gewesen, einen Namen für mein Leiden zu haben und besser zu verstehen, was seit langem mit mir los ist. Ich habe einige Jahre Antidepressiva genommen, die mir sehr geholfen haben. Es ist gut zu wissen, dass es diese Möglichkeit gibt. Seit einem Jahr nehme ich das Medikament in Absprache mit meinem Therapeuten aber nicht mehr, ich versuche, so zurechtzukommen. Denn das Antidepressivum hat starke Nebenwirkungen. So wie es mir im Moment wieder geht, weiß ich aber nicht, ob ich nicht doch wieder mit den Medikamenten anfange. Letztlich sehe ich es ein bisschen wie bei einer körperlichen Erkrankung. Wenn ich Diabetiker bin, dann muss ich Insulin spritzen, und es hilft mir. Und wenn ich depressiv bin, muss ich das auch behandeln. Das heute so klar zu wissen, empfinde ich als einen Gewinn.

Bücher von Gerbrand Bakker

Oben ist es still. Roman, Suhrkamp Taschenbuch 2010

Birnbäume blühen weiß. Jugendroman, Suhrkamp Taschenbuch 2010

Tage im Juni. Roman, Suhrkamp Taschenbuch 2011

Jasper und sein Knecht. Autobiogra­fisches Tagebuch, Suhrkamp Taschenbuch 2017

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2019: Zwischen Liebe und Pflichtgefühl