Mein eigenes Leben führen

Kennen wir uns nicht, riskieren wir, nur andere nachzuahmen. Ob unser Leben zu uns passt, wissen wir dann nicht, sagt Psychotherapeutin Eva Jaeggi.

Zufrieden lächelnde Frau liegt auf dem Boden und nutzt einen Ordner als Kopfkissen
Es fühlt sich gut an zu wissen: Das ist mein Leben. © Silke Weinsheimer

Frau Professor Jaeggi, wir alle leben seit unserer Geburt „mit uns selbst zusammen“ – wir müssten uns doch gut kennen. Ist das wirklich so?

Davon auszugehen, man würde sich bereits kennen, nur weil man seit seiner Geburt mit sich selbst zusammenlebt, wäre zu naiv. Man sollte sich zunächst einmal bewusstmachen, was man mit „sich selbst kennen“ eigentlich meint. Anders gesagt: Aus welchen Quellen speist sich mein Wissen darüber, wer ich bin? Aus welchen Einflüssen beziehe ich mein Selbstbild? Dabei stoßen wir…

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sich mein Wissen darüber, wer ich bin? Aus welchen Einflüssen beziehe ich mein Selbstbild? Dabei stoßen wir zunächst auf das, was andere in uns sehen, was wir von Kindheit an durch unsere Eltern erlernt, wie sie uns gesehen und beschrieben haben. In diesem Sinne ist jeder Mensch das, was er für andere ist, was andere über ihn denken und sagen.

Aber unsere Identität stützt sich vermutlich auch ein Stück weit auf die gefühlsmäßige Evidenz: Das bin ich und kein anderer! Dieses Ich-Gefühl muss nicht immer mit einem expliziten Gedanken oder einem sprachlichen Ausdruck verbunden sein. Die Entstehung unseres Ich-Gefühls ist vermutlich ein Prozess, der bereits im Säuglingsalter beginnt. Dabei verlassen wir uns auf eine meist unterschwellige Intuition, die uns immer wieder sagt: Ich bin doch etwas anderes als die anderen.

Warum ist es wichtig, sich selbst zu kennen?

Ich denke, dass das Leben nur sehr schablonenhaft gelingen kann, wenn man sich nicht darüber klar ist, was man eigentlich will und wer man ist. In einem sehr strukturierten Leben mit vielen Vorgaben von außen scheint es mir kaum möglich, das zu erreichen, was man ein gelingendes Leben nennen könnte. Man ist dann darauf angewiesen, nachzuahmen, was andere einem vorgeben, das heißt, die Gefahr ist groß, dass man sein Leben nicht wirklich selbst gestaltet. In einem selbstbestimmten und gelingenden Leben gehört die Frage „Will ich das eigentlich?“ unbedingt dazu. Sich selbst zu kennen setzt auch ein Gefühl und das Verständnis dafür voraus, was andere in einem sehen. Zu wissen, wer man eigentlich sein will, meint daher immer auch die Frage: Wer bin ich für andere? Weiß man darauf keine Antwort, fällt es einem schwer, das Leben so zu gestalten, dass es zu einem passt und dass man zufrieden ist.

In unserer modernen Gesellschaft haben wir immer weniger Rollenvorgaben, dafür gibt es mehr Möglichkeiten für persönliche Entwicklung, der Grad an individueller Selbstbestimmung steigt. Gilt das auch für unsere Selbsterkenntnis?

Ich glaube: ja. Allerdings mit einem Vorbehalt: nicht für alle sozialen Schichten. Wenn wir von der sogenannten europäischen Mittelschicht mit einem bestimmten Maß an Bildung ausgehen, dann besteht heute im Vergleich zu Menschen im 18. Jahrhundert auf jeden Fall ein Mehr an Möglichkeiten und ein Mehr an Freiheit. Und das bedeutet ja wiederum, Erfahrungen machen zu können, die unabhängig sind von unseren Eltern und Großeltern. In dem Sinne, in dem wir uns von äußeren Vorgaben und den Erfahrungen unserer Vorfahren abheben können, steigt das Maß an Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Meistens ist das mit einem dauernden Reflexionsprozess verbunden. Insofern bedeutet intensivierte Selbsterkenntnis eine ausgeprägtere Sensibilität für unterschiedlichste Erfahrungen. Aber man braucht auch ein wenig Zeit und Muße, um sich mit Fragen der Selbsterkenntnis zu beschäftigen. Es gibt Lebensabschnitte und Lebenssituationen, in denen solche Fragen in den Hintergrund treten.

Mit dem Maß an Selbstbestimmung wachsen die Erwartungen, die wir an uns selbst und die andere an uns haben. Was macht das mit unserer Selbsteinschätzung?

In dem Maße, in dem wir uns selbst immer wieder neu definieren müssen, werden wir auch labiler, als wir es möglicherweise in einem Rahmen mit vorgegebenen Strukturen wären. Denn wie alle Dinge in dieser Welt hat auch die wachsende Selbstbestimmung positive und negative Seiten. Labiler heißt in diesem Fall nämlich auch differenzierter, so dass wir beispielsweise neue Kategorien für unser Verhalten und unser Leben entwickeln können. Gleichzeitig kann diese neue Freiheit aber verunsichern und dazu führen, dass wir darunter leiden, die eigene Lebensform noch nicht gefunden zu haben. Oder man bemerkt die eigene Unfähigkeit, seine Beziehungen so zu regeln, dass alle zufrieden sind.

Zufrieden sein war in einer Welt womöglich einfacher, in der es genügt hat, als Mann ausreichend Geld für die Familie zu verdienen, und in der die Frau für die Familie gesorgt hat. Steigen die Erwartungen an die Rolle, die wir als Frauen und Männer erfüllen sollen, wird die individuelle Zufriedenheit nicht mehr ganz so leicht zu haben sein. Das betrifft die eigenen Rollen und Ansprüche an uns selbst, aber zum Beispiel auch die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen und welche Erwartungen wir an sie weitergeben. Die moderne Erziehung ist für Eltern eine komplexe Aufgabe geworden, sie gibt aber auch Kindern neue Möglichkeiten an die Hand, ihr Leben kreativer und individueller zu gestalten, als es ihre Eltern getan haben.

Sind wir allein dafür verantwortlich, wie zufrieden wir in unserem Leben sind?

Zunächst: Für viele Eigenschaften bringen wir eine genetische Disposition mit, etwa unsere Labilität oder das Tempo unserer Reaktionen. Mit diesen Dispositionen müssen wir leben. Allerdings gibt es tausende Möglichkeiten, wie wir damit umgehen können, und genau darin liegt unsere Freiheit, unser Leben so zu gestalten, dass es zu uns und unserem Umfeld passt. Zufriedenheit mit dem eigenen Leben ist jedoch keine Kategorie, über die wir allein verfügen können. Gerade in familiären und partnerschaftlichen Beziehungen fließen auch die Urteile anderer mit ein: Haben meine Freunde, Partner oder Kinder mein Verhalten und meine Zufriedenheit als belastend empfunden? Ging die eigene Zufriedenheit auf Kosten anderer?

Es passiert immer wieder, dass man selbst zufrieden war. Aber plötzlich redet der Partner oder ein anderes Familienmitglied nicht mehr mit einem oder drückt seine Unzufriedenheit aus, von der man keine Ahnung hatte. In solchen Krisenmomenten suchen viele Menschen einen Therapeuten auf. In der Rückschau auf das eigene Leben beginnt dann nicht nur ein intensiver Prozess der Selbsterkenntnis, auch die Beurteilung der eigenen Zufriedenheit wird im Nachhinein angepasst. Die Selbsteinschätzung und damit auch die Bewertung der eigenen Zufriedenheit kann sich im Laufe des Lebens verändern.

Manche Leute „messen“ sich selbst per Self-Tracking mit dem Smartphone, sie zählen Schritte oder Kalorien, und es gibt Apps zur Vermessung von Gefühlen. Hilft einem das, sich selbst zu erkennen?

Dass man körperliche Funktionen und Daten von sich überprüft, erscheint mir zunächst einmal sinnvoll. Das Messen des Blutdrucks zum Beispiel erspart einem im Idealfall einen Gang zum Arzt. Wer seine Schritte zählt, achtet auf genügend Bewegung. Bleibt das Interesse an der eigenen Person allerdings auf dieser rein funktionalen Ebene stehen, wird das permanente Messen und Kontrollieren schnell albern. Noch skeptischer bin ich, wenn es um das Messen von Gefühlszuständen geht. Erstens glaube ich nicht, dass dies in naher Zukunft wirklich möglich ist, denn dafür sind die bildgebenden Verfahren noch viel zu grob und unterentwickelt. Zweitens zweifle ich daran, dass unsere Technologien jemals in der Lage sein werden, das kognitive und sprachliche Benennen von Gefühlen und Bewusstseinsinhalten zu ersetzen. Die Selbstbefragung und Selbsterforschung der eigenen Gefühlswelt wird auch durch künstliche Intelligenz nicht überflüssig werden.

Aus der Psychologie ist schon seit langem bekannt, dass wir zu Selbstüberschätzung neigen, speziell was unsere Fähigkeiten betrifft. Warum ist das so?

Das hängt damit zusammen, dass wir alle ein möglichst gutes Selbstwertgefühl anstreben. Je besser ich in einer Sache bin, desto besser kann ich mich fühlen und desto zufriedener darf ich sein. Laut Statistik gibt es zwei Bereiche, in denen wir auffallend einheitlich zu Selbstüberschätzung neigen: überdurchschnittlich intelligent zu sein und überdurchschnittlich jung auszusehen. Das ist einerseits witzig, dass wir kollektiv zu Übertreibungen in diesen Bereichen neigen, andererseits aber auch nicht verwunderlich in einer Gesellschaft, in der Jugend und Intelligenz besonders geschätzt werden. Komplimente wie „Du siehst aber jung aus“ funktionieren im Alltag so gut, weil sie unser Selbstwertgefühl steigern.

In Deutschland liegt die Zahl der Studienabbrecher bei rund einem Drittel, was als hoch gilt. Hat das auch mit falscher Einschätzung eigener Fähigkeiten zu tun?

Nein, es ist eher ein Zeichen dafür, wie sehr es gesellschaftlich akzeptiert ist, sich auszuprobieren, verschiedene Wege einzuschlagen und sich dabei auch mal irren und Umwege machen zu dürfen. Es gibt über 15 000 verschiedene Studiengänge in Deutschland, und mit Anfang zwanzig muss man heute nicht wissen, was man später beruflich machen will. Mit der wachsenden Anzahl an Optionen steigt auch die Möglichkeit, sich selbst zu befragen: Wollte ich meinen aktuellen Weg wirklich einschlagen, oder will ich eigentlich etwas anderes machen? In Deutschland haben wir die luxuriöse Situation, dass die gesetzlichen und ökonomischen Bedingungen der Bildungseinrichtungen dies zulassen. Außerdem werden viele Kinder von ihren Eltern dabei unterstützt, ihren beruflichen Lebenslauf genauso frei und experimentell gestalten zu können wie ihre Vorstellungen von Liebe und sozialer Gemeinschaft.

Wenn ich nun feststelle, ich bin gar nicht so toll, wie ich gerne wäre, etwa weil ich beim Lernen einer Fremdsprache oder Sportart nur langsam vorankomme – wie gehe ich damit um?

Dazu ein persönliches Beispiel: Vor einiger Zeit haben mein Mann und ich versucht, Italienisch zu lernen. Ich dachte eigentlich, dass es mir ziemlich leichtfallen würde, weil ich auf meine Latein- und Französischkenntnisse aufbauen könne. Die Bedingungen waren also ziemlich gut. Trotzdem waren die Lernerfolge miserabel. Meinem Mann erging es ähnlich, so dass wir beide nach einer gewissen Zeit enttäuscht aufgaben. Schließlich haben wir diese Erfahrung verbucht unter: Es tut uns leid, dass wir nicht mehr jung sind und unsere Gehirne nicht mehr so schnell lernen. Bis heute kann ich daran nichts Gutes finden, dass mein Gehirn einfach nicht mehr so lernfähig ist wie früher. Eine enttäuschende Erfahrung, allerdings eine, die wir mit anderen Menschen teilen.

Dieses Verabschieden von Erwartungen ist in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft etwas, womit wir uns in fast allen Lebensphasen auseinandersetzen müssen. Gerade in den mittleren Jahren macht jeder Mensch irgendwann die Erfahrung, dass die gesellschaftliche Dynamik keinen ewigen Aufstieg zulässt und jedem von uns Erfahrungen von Stillstand und Abstieg zumutet. In jeder Lebensphase werden wir daher auf eine andere Weise dazu aufgefordert, uns von liebgewonnenen Ansprüchen und Vorstellungen zu verabschieden – auch wenn wir uns damit in einer größeren Gemeinschaft befinden.

Sie haben den Einfluss anderer auf unser Selbstbild erwähnt. Was können wir in unserer Paarbeziehung oder von guten Freunden über uns selbst erfahren?

Wenn man den Alltag zusammen verbringt, kommen viele Dinge zum Vorschein, von denen man bisher nichts wusste. Vor allem lernt man viel über die eigenen Erwartungen und Vorstellungen, die man in den Partner hineinlegt. Intime Paarbeziehungen sind besonders entwicklungsförderlich, weil wir dort lernen müssen, paardynamisch zu denken. Das bedeutet, dass unser Reflexionsniveau permanent angeregt und andauernd weiterentwi­ckelt wird. Das gilt auch für Freundschaften. Letztlich ist jede Beziehung ein Motor für Selbsterkenntnis und persönliche Entwicklung.

Allerdings sind der Selbsterkenntnis innerhalb einer Beziehung auch Grenzen gesetzt, etwa wenn der Partner nicht mitspielt und eine gemeinsame Kommunikationsebene boykottiert. Manche emotionalen Konflikte und Sackgassen können erst in einer Paartherapie aufgelöst werden, weil es dann für den Therapeuten möglich ist, das Denken und Verhalten beider Partner zu beobachten und zu vermitteln.

Das klingt, als könneman ohne eine langjährige Beziehung niemals so viel über sich selbst herausfinden wie in einer Partnerschaft. Wie sehr verändert uns eine längere Partnerschaft denn?

Eine Beziehung kann einen auf sehr maßgebliche und gravierende Weise verändern, wenn man will und dazu bereit ist. Voraussetzung hierfür ist natürlich so etwas wie Liebe, wie auch immer man das genau definieren mag. Entscheidend für den Entwicklungsprozess ist auf jeden Fall ein Minimum an Wohlwollen und freundlichen Gefühlen gegenüber seinem Partner. Etwas problematischer ist die Bereitschaft, gemeinsam über die Beziehung zu sprechen. Ich kannte einmal ein Paar, das sich sehr geliebt hat und das die Regel befolgte: Wenn man erst anfängt über die Beziehung zu sprechen, dann ist sowieso alles zu spät! Das Paar trennte sich in einem riesigen Chaos. Ein paar Jahre später kamen beide wieder zusammen. Erst dann konnten sie gemeinsame Gespräche über ihre Beziehung zulassen.

Je flexibler und offener die Partner mit ihren Konflikten und Beziehungsthemen umgehen, desto mehr steigt ihr paardynamisches Reflexionsvermögen und damit ihre Fähigkeit, sich selbst und den Partner auf sanfte Weise zu verändern. Das bedeutet wiederum nicht, dass Singles per se unreifer sind oder dass ihnen ohne langjährige Partnerschaft etwas fehlt. Zur Selbsterkenntnis gehört ja auch das Wissen darüber, ob man lieber in einer Beziehung oder mit sich allein leben will. Oftmals kann man jedoch erst hinterher bewerten, wie glücklich man in einer bestimmten Lebensphase war und ob es zum Beispiel gut oder wichtig war, zu einem bestimmten Zeitpunkt allein oder in einer Beziehung gewesen zu sein.

Kennen Freunde oder Partner uns manchmal besser, als uns lieb ist?

Andere sehen oftmals viel direkter und schneller, womit wir uns schwertun und welche Schwächen wir haben. Allein die Tatsache, dass andere dieses Wissen haben, ist für uns eine Kränkung. Werden wir damit konfrontiert, reagieren wir meist mit Abwehr. Nicht selten wird uns dabei nämlich auf schmerzliche Weise bewusst, dass wir eigentlich ganz anders sein wollen, als wir sind. Nicht jede Verhaltensweise und nicht jede Charaktereigenschaft passt in unser häufig positiv eingerahmtes Selbstbild. In guten Therapien kann einem da einiges bewusstwerden. Gerade die besten Freunde sagen einem deswegen nicht immer die Wahrheit ins Gesicht, weil ihnen die Aufrechterhaltung der Freundschaft wichtiger erscheint als eine zutiefst verletzende und möglicherweise entzweiende Konfrontation. Man kann nämlich auch zu viel diskutieren und gewisse Wahrheiten auf die falsche Weise aussprechen. Daran scheitern im übrigen Therapien genauso wie Beziehungen: Wer anderen erzählt, wie sie wirklich sind, und ihnen knallhart offenbart, welche grundlegenden Fehler oder Störungen sie haben, macht am Ende selbst meist mehr falsch als richtig. Sowohl in der Therapie als auch in Gesprächen mit Freunden oder Partnern ist also Vorsicht geboten: Man muss wissen, wie viel man dem anderen an Kränkung zumuten kann.

Eva Jaeggi, Psychologin, Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytikerin, war Professorin für klinische Psychologie an der Technischen Universität Berlin. Seit ihrer Emeritierung unterrichtet Eva Jaeggi an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien als Gastlektorin und hat an der Berliner Akademie für Psychotherapie die Leitung für den Fachbereich tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie inne. Bekannt wurde sie durch zahlreiche Sachbücher, in jüngerer Zeit etwa Alte Liebe rostet schön. Was Paare zusammenhält (2013) oder Wer bin ich? Frag doch die anderen! Wie Identität entsteht und wie sie sich verändert (2014)

Zum Weiterlesen: Es gibt verschiedene Wege, den Alltag gut und selbstbestimmt zu meistern. In Psychologie Heute Compact Nr. 55/2018 lernen Sie sie kennen. 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 55: Den Alltag meistern