Die Urteile der anderen

​Von Geburt an ist Lob unser ständiger Begleiter. Es kann ehrlich sein und motivierend. Oder kurzlebig und unberechenbar. ​

Die Illustration zeigt eine Frau lächelnd mit geschlossenen Augen in Farbe, dahinter zwei Personen in schwarzweiß, ein freundlich applaudierend und die andere Person wütend schreiend, beide beurteilend
Wer sich innerlich in einen schützenden Mantel hüllt, macht sich weniger abhängig von Lob und Tadel anderer. © Niklas Hughes

Zu welcher Wissenskarte soll ich dir eine Frage stellen? Tippe sie an!“ Enthusiastisch tönt die Stimme aus dem Plastikstift, den die achtjährige Leah in der Hand hält – ungefähr so groß wie eine Mohrrübe und auch genauso gefärbt. Vor ihr liegt ein Stapel Tierfotos, den sie nun mit ihrer linken Hand auseinanderstreift. Tiger, Uhu, Dingo, Bär … Sie zögert kurz, dann berührt sie das Bärenbild mit der Stiftspitze. „Wofür benötigt der Braunbär seine Krallen vor allem?“, quäkt die Hightechmöhre. „A: Um seine…

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Hightechmöhre. „A: Um seine Jungen zu kitzeln? B: Um nach Wurzeln und Knollen zu graben? C: Um sich zu kratzen?“ Leah lächelt; das ist einfach. Sie tippt auf den Buchstaben B. „Super!“, begeistert sich der Stift. „Besser geht’s nicht! Du hast 24 Quizpunkte erreicht. Das war wirklich eine Meisterleistung. Du bist ein wahrer Quizchampion!“

„Man füttert ein Kind mit Milch und Lob“, stellte vor 200 Jahren der englische Schriftsteller Charles Lamb fest. Eine Weisheit, die offensichtlich auch der Tiptoi-Stift der Firma Ravensburger verinnerlicht hat. Kein Wunder, gilt Lob heute doch vor allem in westlichen Gesellschaften als der Dünger, der die junge Psyche erst richtig zum Erblühen bringt. Frei nach dem Motto: Wer sein Kind liebt, der lobt.

Ständig im Bewertungsmodus

Lob ist – ebenso wie Tadel – ab dem Kleinkindalter unser ständiger Begleiter. Die in England lebende Psychologin Terri Apter geht noch weiter: Wenn man die indirekteren Formen des Feedbacks mit ­einbeziehe – das Lächeln der Mutter, den kritischen Blick des Gesprächspartners, die zugewandte Körperhaltung des Freundes –, dann schwinge von Geburt an bei jeder Begegnung in unserem Leben eine Bewertung mit. „In jeder persönlichen Interaktion haben wir mit Lob und Kritik zu tun, ohne dass es uns in der Regel bewusstwird“, schreibt sie in ihrem Buch Passing Judgment. Praise and Blame in Everyday Life. Diese Bewertungen hätten einen prägenden Einfluss darauf, wie wir sind.

Oft ist dieser Einfluss erwünscht, etwa in der Kindererziehung. Eltern loben und tadeln ihre Sprösslinge ganz gezielt, um deren Verhalten in die gewünschte Richtung zu lenken. Positives Feedback gilt dabei als besonders motivierend. Doch ganz so einfach ist es wohl nicht: Die Forschung zeigt, dass Lob unter bestimmten Umständen auch Schaden anrichten kann. Auf diese Gefahr wies bereits in den 1970er Jahren der Psychologe Wulf-Uwe Meyer von der Universität Bielefeld hin: Wenn etwa Schüler eine einfache Aufgabe lösten und dafür übermäßig gelobt würden, sei das unter Umständen schlecht für ihr Selbstbild. Sie vermuteten dann nämlich, der Lehrer halte sie für dumm und lobe deshalb noch den kleinsten ihrer Erfolge.

Für Klugheit gelobt

Seitdem sind zahllose Studien zu den paradoxen Wirkungen von Lob erschienen. Sie belegen unter anderem, dass es ganz wesentlich von der Form des Feedbacks abhängt, ob seine Empfänger davon profitieren. So können wir beispielsweise einen Menschen loben, indem wir seine Person mitsamt seinen Fähigkeiten preisen („Du bist gut in Mathe!“). Wir können aber auch den Prozess ins Zentrum unserer Rückmeldung stellen, der zu seinem Erfolg geführt hat („Du hast gut geübt!“). Dieses prozessorientierte Feedback signalisiert: Du kannst viel erreichen, wenn du dafür nur genug tust. „Und wie sehr ich mich bemühe, liegt in meiner Hand“, sagt die Entwicklungspsychologin Heike Buhl von der Universität Paderborn. „Daher wirkt diese Form des Lobs in der Regel motivierend.“ Vor einigen Jahren haben US-Wissenschaftler diesen Effekt eindrucksvoll nachweisen können. Sie besuchten junge Familien zu Hause und filmten sie. Anhand der Aufnahmen zählten sie dann, auf welche Weise die Eltern ihre ein- bis dreijährigen Kinder vorwiegend gelobt hatten. Fünf Jahre später trafen sie die Mädchen und Jungen noch einmal, um sie zu verschiedenen Einstellungen zu befragen. Ergebnis: Kinder, die in jungen Jahren vor allem für ihre Anstrengungen gelobt worden waren, waren häufiger der Ansicht, dass Erfolg eine Frage der Mühe sei. Außerdem gaben sie öfter an, herausfordernde Aufgaben zu bevorzugen.

Personenbezogenes Lob wie „Du bist gut in Mathe“ hat demgegenüber einige entscheidende Nachteile. Zum einen schwingt in ihm mit: Du musst dich nicht bemühen, du kannst das sowieso. „Dadurch reduziert es die Bereitschaft, sich anzustrengen“, erklärt Heike Buhl. Zum anderen wird dem Gelobten der Eindruck vermittelt, dass seine Fähigkeiten fix sind und er daran nichts ändern kann. Spätestens beim nächsten Misserfolg geht das nach hinten los: Aus einem „Diesmal habe ich eine schlechte Arbeit geschrieben“ wird dann ganz schnell ein generelles „Ich bin doch nicht gut in Mathe“.

Der Druck, dem Lob gerecht zu werden

Damit verbunden ist ein dritter Punkt: Wenn wir für unser Mathetalent gepriesen werden, setzt uns das stark unter Druck, auch in Zukunft gute Leistungen zu zeigen. Denn schon ein einzelner Misserfolg würde diese Einschätzung ja infrage stellen. Welche Auswirkungen das haben kann, haben kürzlich chinesische Wissenschaftler demonstriert: Sie zeigten an einer Gruppe von Vorschulkindern, dass diese bei einer Aufgabe häufiger schummelten, wenn sie zuvor für ihre Klugheit gelobt worden waren.

Dem niederländischen Psychologen Eddie Brummelman zufolge kann personenbezogenes Lob zudem eine gefährliche Abwärtsspirale einleiten: Es verstärkt demnach gerade die Probleme, gegen die es bevorzugt zum Einsatz kommt. In einer seiner Studien wollte Brummelman beispielsweise wissen, ob ­Erwachsene selbstbewusste Kinder anders loben als solche mit Selbstzweifeln. Und in der Tat: Die selbstbewussten Kinder erhielten oft Lob für ihre Anstrengungen („Da hast du dir bei diesem Bild aber wirklich Mühe gegeben!“), die unsicheren dagegen für ihre Person („Du bist ein richtig guter Zeichner!“). „Wenn Kinder sich für wertlos halten, scheint es intuitiv die richtige Strategie zu sein, sie für das zu loben, was sie sind“, interpretieren die Wissenschaftler ihre Ergebnisse. Doch diese gut gemeinte ­Strategie kann ironischerweise die Selbstzweifel von Kindern noch verstärken. Das zeigten die Forscher in einem weiteren Test.

Darin durften Schulkinder ein Reaktionsspiel spielen. Zwischendurch bekamen sie Feedback zu ihrer Leistung – entweder ein „Wow, du bist super!“ oder ein „Wow, das hast du super gemacht!“. Das aufmunternde „Du bist super!“ hatte dabei einen paradoxen Nebeneffekt: Die so gelobten Teilnehmer taten sich danach erheblich schwerer damit, Niederlagen zu verdauen. Sie schämten sich für ihre schlechte Leistung in Grund und Boden – und zwar besonders diejenigen Spielerinnen und Spieler, die ohnehin schon unter einem geringen Selbstwertgefühl litten.

Nicht gut fürs Selbstvertrauen

Brummelman sieht diesen Mechanismus als Teil eines verhängnisvollen Teufelskreises: Eltern loben ihre Kinder gerade dann personenbezogen, wenn diese wenig Selbstvertrauen haben. Bei einem Fehlschlag sorgt dieses Feedback dann dafür, dass das Selbstbewusstsein ihrer Sprösslinge weiter in den Keller geht.

Lob ist, bildlich gesprochen, eine potente Medizin. Und wie jede Arznei hat auch diese ihre Nebenwirkungen. Der 2017 verstorbene US-Psychologe und Verhaltensforscher Richard Farson konnte dieser Form des Feedbacks daher rein gar nichts abgewinnen. Bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert zählte er in einem pointierten Essay seine Gründe dafür auf. Lob sei zum Beispiel ein probates Mittel, sich nicht wirklich mit einer Leistung auseinandersetzen zu müssen: Der Sohn zeigt das schöne Bild, das er gemalt hat, und wir wenden uns nach einem kurzen „Toll!“ wieder unserer Beschäftigung zu. Das Problem dabei: Falls der Kleine schon etwas älter ist, merkt er, wie wenig dieses Lob wert ist – ja, schlimmer noch: dass Mama oder Papa das Bild für so langweilig oder schlecht halten, dass sie sich damit gar nicht beschäftigen wollen. Birgit Leyendecker, Entwicklungspsychologin an der Universität Bochum, sieht denn auch ehrliches Interesse als eine Voraussetzung dafür, dass Lob funktioniert. „Ein kurzes ,Schön gemalt‘ reicht nicht“, sagt sie. „Man sollte sich schon auch die Zeit nehmen zu begründen, warum einem das Bild besonders gut gefällt.“

Vorsicht: Herrschaftskommunikation!

Ein weiterer Vorwurf von US-Psychologe Farson: Wer lobe, dokumentiere damit seine Macht – er zeige, dass es ihm zustehe, uns zu bewerten. Die Chefin kann ihrem Mitarbeiter mit einem „Das haben Sie toll gemacht!“ ihre Anerkennung aussprechen. Umgekehrt erscheint das unpassend. „Lob ist eine Form der Herrschaftskommunikation“, bestätigt auch die Heidelberger Psychotherapeutin Hanne Seemann. „Ich selbst mag es gar nicht, wenn mich die falschen Leute loben.“ Farsons Fazit: Allzu oft nutze Lob gar nicht dem, der es empfängt, sondern dem, der es gibt. „Wenn wir den kleinen Tommy dafür preisen, dass er es rechtzeitig auf die Toilette geschafft hat, freuen wir uns vermutlich gar nicht so sehr für ihn, sondern vielmehr für uns selbst: Was Tommy gelernt hat, macht sein Leben komplizierter, unseres aber angenehmer.“ Lob bedeute Manipulation, und da sei es nur allzu verständlich, dass sich viele Menschen durch diese Form des Feedbacks bedroht fühlten. Farson hielt es deshalb für sinnvoller, erst einmal dem anderen gut zuzuhören und dann ehrlich zu sein.

Davon kann auch die Psychologin und Buchautorin Terri Apter ein Lied singen. Ihre Schwiegermutter habe sie oft für ihre Kochkünste oder andere Haushaltstätigkeiten gelobt, erzählte sie einmal in einem Interview: „Das war ihr Weg, mir zu zeigen, dass das mein Job war.“ Heute bezeichnet sie diese schwierige Beziehung als einen Auslöser für ihr Forschungsinteresse.Apter studiert seit vielen Jahren, wie Familienmitglieder miteinander umgehen, ­ welche Konflikte zwischen ihnen typischerweise auftreten und wie sie diese lösen. Dazu besucht sie ihre Studienteilnehmer zu Hause, zeichnet ihre Alltagsgespräche auf und interviewt sie ausführlich.

Bei diesen Besuchen hat sie gesehen, wie ungleich Familien positives Feedback verteilen. „In der einen Familie gehört Lob zum Alltag; es ist eine zuverlässige Konstante“, sagt Apter. „In der anderen ist es unberechenbar und kurzlebig.“ Bewertungen können sich zudem auf die unterschiedlichsten Dinge richten, sogar auf Emotionen: Warum freust du dich nicht auf das ­Wochenende bei Oma und Opa? Wie kannst du nur sagen, dass du deinen Lehrer hasst? Oder auch: Ich finde es toll, wie gut gelaunt du immer bist!

Ich spüre die Absicht

Vor allem dokumentieren Terri Apters Aufzeichnungen aber, wie schlecht Lob bei seinen Empfängern häufig ankommt. Denn oft genug wittern die hinter den warmen Worten eine sinistre Absicht: Du lobst meine Sandwiches, die ich dir zur Arbeit mitgebe? Das tust du doch nur, damit du sie nicht selbst machen musst! Gerade in Beziehungen ist Lob ein zweischneidiges Schwert. Ein „Ich finde es toll, wie offen du auf Leute zugehst“ kann mir das Gefühl geben, geschätzt zu werden. Es kann mich aber ebenso unter Druck setzen, mich auch in Zukunft extravertiert verhalten zu müssen – schließlich ist das ein Punkt, den meine Partnerin oder mein Partner an mir liebt. Besonders groß ist dieser Druck, wenn das Lob von meinem eigenen Selbstbild abweicht: So offen bin ich doch gar nicht. Da ist es dann nicht mehr weit bis zur bohrenden Frage, wie gut mich der andere überhaupt kennt. Die US-Psychologin Jennifer Tomlinson hat diese Zusammenhänge vor einigen Jahren in einer Reihe von Studien analysiert. Ihr Fazit: Wer seinen Partner überidealisiert und damit auf ein ­Podest stellt, tut der Beziehung nichts Gutes.

Ob Lob runtergeht wie Öl, eine ärgerliche Replik provoziert oder (oft unbewusst) Gefühle des Unbehagens und der Bedrohung hervorruft, hängt von vielen Dingen ab: davon, auf welche Weise das Feedback gegeben wurde; von dem Verhältnis zwischen den beiden, die da miteinander reden; und natürlich von den Vorerfahrungen des Gelobten. „Die Wirkung von Lob und Kritik ist vielfältig, je nachdem wie der Empfänger dieses Feedback verarbeitet“, schrieb bereits vor fast 40 Jahren der ­Bielefelder Lobforscher Wulf-Uwe Meyer. Nicht zuletzt ist das auch eine Frage des Alters: Kleine Kinder nehmen alles, was man ihnen sagt, für bare Münze. Sie verfügen noch nicht über die Gabe, sich in andere hineinzuversetzen – eine Fähigkeit, die Psychologen Theory of Mind nennen. Im Laufe der Zeit werden sie darin immer besser. Meyer konnte etwa in einer seiner Studien zeigen, dass 18-Jährige Lob deutlich häufiger hinterfragen als 8-Jährige. Erwachsene verstehen sich oft blendend darauf, jeden Satz auf eine ­hintergründige Bedeutung abzuklopfen.

Wir können die Anerkennung anderer genießen oder ihr misstrauen. Was nicht geht: sie ignorieren. Wir Menschen sind soziale Wesen. Als solche sind wir evolutiv darauf getrimmt, darauf zu achten, wie andere zu uns stehen. Schließlich konnten unsere Vorfahren nur als Mitglied einer Gruppe den Gefahren ihrer Umgebung erfolgreich trotzen. Vermutlich ist das auch der Grund, warum wir ziemlich gut ­darin sind, die Gefühle anderer zu lesen: Ärgert mein Gegenüber sich gerade über mich? Oder findet er gut, was ich mache?

Zu abhängig vom Urteil anderer?

„Oft reichen uns ein paar hundert Millisekunden, um grundlegende Emotionen wie Freude oder Ärger in den Gesichtern anderer Menschen zu erkennen“, erklärt Mattis Geiger von der Universität Ulm. „Je klarer der Gesichtsausdruck, desto schneller und ­sicherer klappt das. Allerdings gibt es dabei große individuelle Unterschiede.“ Geiger betrachtet diese ­Fähigkeit als wichtigen Teil einer frühen Form der Kommunikation – zudem einer, die meist schneller als Sprache funktioniere. Wie wir die mimischen Äußerungen eines Mitmenschen weiter verarbeiten, ist dann wohl auch Frage unserer Vorerfahrungen. Darauf deuten zumindest Experimente der Universität von Wisconsin in den USA hin. „Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, erkennen ­etwa Gefühle wie Ärger besser als andere“, erklärt Paula Niedenthal, die dort das sogenannte Emotions Lab leitet. „Sie achten also besonders auf Gefahrensignale. Sozial ängstliche Personen haben dagegen Schwierigkeiten, freundliche Gesichtsausdrücke als positiv zu interpretieren.“ Wie können wir uns von den Bewertungen unserer Umwelt emanzipieren? „Generell gesehen halte ich das gar nicht für ­sinnvoll“, meint Niedenthal. „Wir müssen akzeptieren, dass diese ein wichtiger Teil sozialer Interaktionen sind.“

Andererseits gilt es zu erkennen, dass Anerkennung und Kritik einen großen Einfluss darauf  haben, wie wir sind und wonach wir streben. Zumal wir dazu tendieren, sie uns selbst zu eigen zu machen. Terri Apter spricht in diesem Zusammenhang auch vom „inneren Richter“ – der Stimme in uns, die allzu oft unser größter Kritiker ist: „Manchmal sprechen aus dieser Stimme die Urteile anderer – insbesondere unserer Eltern –, die wir zwar nicht respektieren, die uns aber dennoch heimsuchen.“ Der innere Kritiker lobe uns aber auch. Oft bemerkten wir das kaum, weil es so selbstverständlich geworden sei, sagt Terri Apter.

Sie empfiehlt, sich diese Tatsache bewusstzumachen: Treffe ich eine Entscheidung, weil ich weiß, dass meine Mutter es so gewollt hätte, und weil mir ihre Missbilligung heute noch weh tun würde? Auch die Paderborner Entwicklungspsychologin Heike Buhl sieht Selbstreflexion als einen Weg zu größerer innerer Unabhängigkeit: „Es hilft oft schon, wenn wir uns fragen, warum uns die Meinung eines Freundes oder eines Kollegen so wichtig ist. Denn dann können wir uns überlegen, ob dieser Grund wirklich berechtigt ist.“

Ein schützender Mantel

Die Psychotherapeutin Hanne Seemann hat häufig mit Menschen zu tun, die sich zu sehr von den Urteilen anderer abhängig fühlen. „Ich empfehle ihnen in solchen Fällen oft, sich innerlich in eine Art schützenden Mantel zu hüllen“, sagt sie. In ihren Sitzungen übt sie das tatsächlich mit einem großen Tuch; später lernen die Betroffenen, das nur in ihrer Vorstellung zu tun. Der beste Garant für eine innere Unabhängigkeit sei aber, sich selbst wertzuschätzen. „Diese Fähigkeit erwirbt man jedoch nicht von jetzt auf gleich“, betont sie. Viele Menschen haben ihr Leben lang gelernt, ihren inneren Kompass nach der Bewertung anderer auszurichten. Den eigenen magnetischen Nordpol zu finden ist dann ebenso mühsam wie zeitaufwendig. In einem ersten Schritt sollten wir uns bemühen zu verstehen, wie die Urteile unserer Eltern, Partner, Freunde, Kollegen uns beeinflussen, sagt Terri Apter. „Danach können wir sehen, wie wir damit am besten zurechtkommen. Doch das ist eine lebenslange Aufgabe.“

Quellen und Literatur zum Weiterlesen

Terri Apter: Passing Judgment: Praise and blame in everyday life. W. W. Norton & Company, New York 2018

Roy F. Baumeister u. a.: Negative effects of praise on skilled performance. Basic and applied social Psychology, Band 11 (2), 1990, S. 131-148. DOI: 10.1207/s15324834basp1102_2

Eddie Brummelman u. a.: On feeding those hungry for praise: Person praise backfires in children with low self-Esteem. Journal of Experimental Psychology: General, Band 143/1, 2014, S. 9–14. DOI: 10.1037/a0031917

Eddie Brummelman u. a.: The praise paradox: When and why praise backfires in children with low self-esteem. Child Development Perspectives, Band 10/2, 2016, S- 111-115. DOI: 10.1111/cdep.12171

Elizabeth A. Gunderson u. a.: Parent praise to 1-3 year-olds predicts children’s motivational Frameworks 5 Years Later. Child Development, Band 84/5, 2013, S. 1526–1541. DOI: 10.1111/cdev.12064

Wulf-Uwe Meyer: Paradoxical effects of praise and criticism on perceived ability. European Review of Social Psychology, Band 3/1, 1992, S. 259-283, DOI: 10.1080/14792779243000087

Ai Mizokawa: Association between children’s Theory of Mind and responses to Insincere praise following gailure. Frontiers in Psychology 10, 2018. DOI: 10.3389/fpsyg.2018.01684

Claudia M. Mueller, Carol S. Dweck: Praise for intelligence can undermine children's motivation and performance. Journal of Personality and Social Psychology, Band 75/1, 1998, S. 33-52. DOI: 10.1037/0022-3514.75.1.33

Paula M. Niedenthal u. a.: Adult attachment and the perception of facial expression of emotion. Journal of Personality and Social Psychology, Band 82/3, 2002, S. 419–433. DOI: 10.1037//0022-3514.82.3.419

Jennifer M. Tomlinson u. a. The costs of being put on a pedestal: Effects of feeling over-idealized. Journal of Social and Personal Relationships, Band 31/3, 2014, S. 384–409. DOI: 10.1177/0265407513498656

Li Zhao u. a.: Praising young children for being smart promotes cheating. Psychological Science, Band 28/12, 2017, S. 1868-1870. DOI: 10.1177/0956797617721529

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2019: Bin ich gut genug?