Als sei nie eine Träne gefallen

Lydia, die Cousine der Kolumnistin Mariana Leky, ist Psychoanalytikerin. Ihr Leben ist scheinbar so cremeweiß wie ihre Praxis.

Collage zeigt eine Frau mit Hunden an der Leine.
Cremeweiße Freundlichkeit statt farbenprächtigem Geheimnis: Lydia geht aus Trennungsangst keine Liebesbeziehung ein. © Elke Ehninger

Meine Cousine Lydia ist Psychoanalytikerin, heute hole ich sie nach Dienstschluss in ihrer Praxis ab. Lydia öffnet die Tür, wie immer trägt sie Cremeweiß. „Warte noch einen Augenblick“, sagt sie, und ich setze mich in den Praxisflur und fühle mich unwohl.

Wegen der hohen Therapeutendichte in meiner Familie habe ich einen guten Überblick über die Gestaltung von Praxisräumen. Es gibt die, die so aussehen, wie man sie von Internetauftritten her kennt (also: Altbau, hell, Bücherregale, Daybed, formschöne Sessel,…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

her kennt (also: Altbau, hell, Bücherregale, Daybed, formschöne Sessel, Beistelltisch mit Tissuebox, in der ein vorgezupftes Tissue zur Benutzung ermuntert). Es gibt Praxen, die so vornehm sind, dass man sich kaum traut, seine verlausten Probleme darin Platz nehmen zu lassen.

Es gibt finstere Souterrainkaschemmen, bei deren Erstbegehung man sich fragt, ob man wirklich einen Termin bei einem Therapeuten mit Schwerpunkt „Paare“ gemacht hat oder vielmehr bei einem Mörder mit Schwerpunkt „bestialisch“. Es gibt Praxen mit präparierten Tierköpfen an der Wand, mit James-Bond-Filmplakaten oder Munchs Schrei, es gibt Praxen mit Hängesesseln, in denen man nur in einer Haltung sitzen kann, die vollkommene Mutlosigkeit ausstrahlt. Es gibt eine Praxis, in der die Couch lustige grüne Menschenfußnachbildungen aus Plastik trägt.

Verstörend cremeweiß

Die verstörendste Praxis, die ich kenne, gehört meiner Cousine Lydia. Bei Lydia hängt nichts an der Wand, und alles, buchstäblich alles ist cremeweiß: von der Couch über den Teppich bis hin zu Lydias Haaren, bis hin zu Lydias Klemmblock. Lydia hat viele Patienten – trotzdem sieht es in ihrer Praxis immer aus, als sei hier nie jemand gewesen, als sei hier nie ein Wort, ein Haar, eine Träne, eine Entscheidung oder ein Groschen gefallen.

Lydia ist von gleichbleibender cremeweißer Freundlichkeit. Wir gehen in einem Park spazieren. Weil Lydia Hunde mag, schlage ich ihr vor, sich einen Hund zuzulegen. „Nein“, antwortet Lydia freundlich und schnell. „Warum nicht?“, frage ich, und dann sagt sie einen Satz, der typisch für sie ist und den ich mir hätte denken können, sie sagt: „Weil ich dann unglücklich sein werde, wenn er stirbt.“

Ich sage nichts und denke an jemanden, der jetzt sehr viel sagen würde, mein Onkel Franz nämlich, ebenfalls Psychoanalytiker (Schwerpunkt präparierte Tierköpfe). Meinem Onkel Franz liegt seine Nichte Lydia sehr am Herzen, und genau deshalb macht er ihr bei jeder Gelegenheit Vorwürfe. Auf jedem Familienfest rüttelt Onkel Franz an Lydia und ihrem Leben herum, weshalb sie immer versucht, ihm auszuweichen, bis er sie irgendwann auf dem Weg zur Toilette stellt und ihr das nichtssagende Cremeweiß ihrer Praxis und ihres Lebens vorwirft.

„Am besten, du hörst auf zu atmen“

Lydia hat nie eine Liebesbeziehung gehabt, aus Angst, dass die irgendwann vorbei sein könnte. Es gibt viele Männer, die sich in Lydia verlieben, und einmal, das weiß ich von Onkel Franz, hat sie sich ebenfalls verliebt, in einen Apotheker.

Über ein Jahr lang blitzte und funkelte es zwischen Lydia und dem Apotheker, bis der Apotheker irgendwann vorschlug, sich einmal außerhalb der Apotheke zu treffen: das lehnte Lydia ab, trotz erwiesener Hoch­verliebtheit, aus dem Grund, dass der Beginn einer Liebesbeziehung ihr Ende nach sich zieht. Lydia hat keine Kinder, weil die irgendwann das Haus verlassen. Lydia unternimmt keine Reisen, weil die vorbeigehen. „Am besten, du hörst auf zu atmen“, donnerte Onkel Franz letztens, „weil du ja sowieso irgendwann damit aufhören musst.“

Auf dem Fest zu Lydias vierzigstem Geburtstag hielt ihr Bruder eine Rede, er sprach von Lydias beruflichen Erfolgen und ihrer Liebenswürdigkeit. Als Onkel Franz Lydia nach dieser Rede stellte, sagte er: „Es wäre wirklich schön, wenn man zu deinem Fünfzigsten mehr über dich sagen könnte als nur cremeweißes Zeug. Du wirst nicht jünger und es wird Zeit, sich für das Alter mit Erinnerungen zu munitionieren.“ Um ein Zeichen zu setzen, schenkte Onkel Franz Lydia eine Wanddekoration für ihre nichtssagende Praxis. Unglücklicherweise war es der präparierte Kopf eines Keilers.

Vergänglichkeitsschmerz

Ich gehe neben Lydia her und stelle mir ihre cremeweiße Einsamkeit vor. Weil ­Lydia eine gute Therapeutin ist, kennt sie die Tricks, mit denen Leute versuchen, Vergänglichkeitsschmerzen auszuweichen, und sie weiß natürlich auch Gegenmittel. Sie weiß, wie man Leuten dabei hilft, trotz Tod und Teufel und Ablaufdaten Leben ins Leben zu bringen, das ganz struppige Leben, das, wie Birgit Vanderbeke einmal schrieb, „immer quer durch die Modderpampe will“, auf den cremeweißen Teppich zu lassen.

Vermutlich ist man besonders einsam, wenn man all die Tricks und die Tricks gegen die Tricks kennt, wenn man zwischen all den Gegenmitteln sitzt und genau weiß, was eigentlich zu tun wäre, aber immer nur anderen dieses Wissen zuspielen kann – und wenn man dann auch noch wohlmeinende Verwandte vom Fach hat, die an einem herumrütteln.

Ein farbenprächtiges Geheimnis

Ein Mann mit einem Hirtenhund geht an uns vorbei, er lächelt Lydia an. Der Mann könnte durchaus als Apotheker durchgehen, und der Hund wirkt besonnen. „Dieser Hund wäre perfekt für Lydia“, denke ich, „und den Mann könnte sie auch gleich mitnehmen.“ Lydia ahnt, was ich denke, und sie schaut mich an, als wolle ich sie nicht mit einem Abenteuer munitionieren, sondern mit einem präparierten Keilerkopf.

Während wir weitergehen – schweigend, denn es ist alles gesagt, ihr Berufliches, mein Berufliches, und mehr gibt es nicht mitzuteilen –, hoffe ich plötzlich und vehement, dass Lydia ein Geheimnis hat. Eins, auf das weder Onkel Franz noch ich jemals kommen, das sich weit weg von der wohlmeinenden Verwandtschaft befindet, im Verborgenen, ein umfangreiches, hochgradiges, farbenprächtiges Geheimnis, das, weil es ein Geheimnis ist, nicht mal ursprünglich cremeweiß war.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen ­Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Räume der Seele: Psychologie Heute 12/2019