Vorgestern bin ich in einem Aufzug steckengeblieben. Sollte das jemals passieren, hatte ich geglaubt, werde ich aus dem Stand in Panik geraten. Tatsächlich war es für mich viel weniger schlimm, als ich dachte – und das lag daran, dass die ältere Dame, die mit mir feststeckte, in Panik geriet. Aus dem Stand begann sie zu zittern und zu weinen, deshalb hielten wir nur kurz den Abstand, den man eigentlich hält, wenn man sich fremd ist.
Schnell hatte ich die Dame im Arm, sie roch nach Veilchenpastillen, sie…
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ist.
Schnell hatte ich die Dame im Arm, sie roch nach Veilchenpastillen, sie weinte in meinen Mantel, und ich versuchte, beruhigend auf sie einzureden, so wie man auf ein fiebriges Kind oder ein altes Pferd einredet. Als die Dame mich unter Tränen bat, ihr etwas vorzusingen, stimmte ich Der Mond ist aufgegangen an, und noch bevor ich den steigenden wunderbaren weißen Nebel besingen konnte, fuhr der Aufzug weiter. Ich hatte das ganze Steckenbleiben über buchstäblich alle Hände voll damit zu tun, die Angst der älteren Dame in Schach zu halten, so dass meine eigene Angst kein bisschen zum Zuge kam.
Jetzt, zwei Tage später, stehe ich erneut vor einem Aufzug, vor einer ganzen Reihe von Aufzügen. Ich befinde mich in einem Ärztehaus und habe einen Ohrenarzttermin im sechsten Stock. Es ist viel los. Die Aufzüge rauschen hoch und runter, die Aufzugtüren gleiten auf und zu, Menschen steigen ein und aus. Nur ich bleibe stehen, und zwar im Weg, und zwar all den Menschen, die keine plötzliche Angst vor Aufzügen haben. Ich weiß nicht, ob die Angst, die ich plötzlich habe, die Angst der älteren Dame von vorgestern ist (die Ärmel meines Mantels riechen noch nach Veilchenpastillen) oder ob es meine eigene Angst vor dem Steckenbleiben ist, die vorgestern nicht zum Zuge kam, weil die ältere Dame sie freundlicherweise übernommen hatte. Ich stehe da und stecke nicht in, sondern vor einem Aufzug fest.
Der innere Verhaltenstherapeut
Und dann drehe ich mich um, weg von den Aufzugtüren, und beschließe, eine Treppe zu suchen. Ich weiß genau, dass dieses Abwenden, dieses „Lieber doch nicht“ verheerend sein kann – denn aus unerfindlichen Gründen ist mit der plötzlichen Angst auch ein plötzlicher Verhaltenstherapeut in mich hineingefahren. Er lässt mich wissen, dass das Abwenden vom Aufzug Vermeidung ist, und Vermeidung ist das Schlimmste, was man bei Angst machen kann.
Sobald man bei Angst auch nur einmal vermeidet, droht der innere Verhaltenstherapeut, hat man sich eine Angststörung quasi schon zugezogen, eine Angststörung, die in kürzester Zeit munter generalisieren wird, und schwuppdiwupp kommt man nicht mehr nur nicht in Aufzüge hinein, sondern kaum noch aus dem Haus heraus vor lauter Angst. Bei Vermeidung ist einmal niemals keinmal, sondern schlimmstenfalls lebenslänglich.
All das rechnet mir der innere Verhaltenstherapeut vor, all das ist vollkommen richtig – all das hilft leider überhaupt nichts. Ich wende mich ab von den Aufzügen, ich stehe im Foyer und überlege, wo wohl die Treppe sein könnte. Blitzartig bin ich vollkommen ratlos, wie man es ist, wenn man nachts auf einem Bahnsteig steht und plötzlich die Durchsage kommt, dass der letzte Zug nach Hause leider entfällt.
Mit einer Visitenkarte gerüstet
Hinter mir räuspert sich jemand. Als ich mich umdrehe, steht dort eine Frau in Uniform. Sie ist sehr groß, das Wort „Sicherheitsdienst“, das auf ihrer Brust steht, ist auf meiner Augenhöhe. „Seht ihr den Mond dort stehen“, denke ich, „er ist nur halb zu sehen.“
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Frau. Ich schaue nach oben in ein von schütterem grauen Haar umgebenes freundliches Gesicht. „Ich suche die Treppe zum Ohrenarzt“, antworte ich. „Der ist ganz oben“, sagt die Frau, „da würde ich lieber den Fahrstuhl nehmen“, und weil eine aufziehende Angststörung und ein eingebildeter Verhaltenstherapeut hinter mir her sind, halte ich nur kurz den Abstand, den man eigentlich hält, wenn man sich fremd ist. „Ich habe Angst, im Aufzug steckenzubleiben“, sage ich, „ich bin vorgestern steckengeblieben.“ Die Frau überlegt kurz. „Soll ich mit Ihnen hochfahren?“, fragt sie dann. „Ich bin vom Sicherheitsdienst. Ich muss dafür sorgen, dass Sie oben ankommen.“
Ich schaffe es gerade noch, die Frau vom Sicherheitsdienst nicht vor Rührung zu umarmen. „Sie sind sehr freundlich“, sage ich, „aber das ist wirklich nicht nötig“, weil es mir unangenehm ist, den Sicherheitsdienst zu bemühen. Die Frau greift in ihre Hosentasche und zieht eine verknitterte Visitenkarte heraus. „Hier ist meine Nummer“, sagt sie. „Sie bleiben nicht stecken. Aber wenn doch, rufen Sie mich an. Ich hole Sie sofort raus.“ Sie klopft auf ihre Brusttasche, hinter der sich neben ihrem Herz auch ihr Telefon befindet. Ich nicke und gehe in den Aufzug, die Visitenkarte trage ich vor mir her wie eine heilige Schrift.
Leer und doch so voll
Mit mir im Aufzug ist niemand und sehr viel. Mit mir im Aufzug ist der harsche Verhaltenstherapeut, der mahnt, dass das nicht gilt, dass die Visitenkarte ein unerlaubtes Vermeidungshilfsmittel ist, dass man lernen muss, sein eigener Sicherheitsdienst zu sein. Mit mir im Aufzug ist die endliche Angst der Dame von vorgestern und meine eigene endliche Angst; mit mir im Aufzug ist vor allem und raumgreifend die unendliche Freundlichkeit der Sicherheitsdienstmitarbeiterin.
Das Wartezimmer des Ohrenarztes ist proppenvoll wie ein klaustrophobischer Kopf, deshalb dämmert es bereits, als ich später im sechsten Stock wieder in den Aufzug steige. Während der Fahrt nach unten hoffe ich, dass die Sicherheitsdienstmitarbeiterin noch da ist, damit ich mich ausführlich bedanken und ihr sagen kann, dass sie und ihre Freundlichkeit heute eine aufziehende Angststörung und einen Verhaltenstherapeuten lahmgelegt haben. Und genauso ist es. Da steht sie noch, und als sie mich sieht, lacht sie und hält beide Daumen hoch.
Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. In Psychologie Heuteschreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker