Die Angst umarmen

Angst macht Angst. Die Idee, sie zu akzeptieren und sich mit ihr vertraut zu machen, kommt Betroffenen absurd vor. Doch genau das hat sich als der beste Weg herausgestellt, der Angst ihren Schrecken zu nehmen

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Es war stockdunkel. Alles, was Doris Iding sah, waren Millionen von schwarzen und weißen dicken Punkten, die sich flirrend vor ihrem Gesichtsfeld bewegten. Innerhalb von Sekunden wurde sie von Angst durchflutet. Werde ich jetzt blind? Habe ich einen Gehirntumor? Verliere ich den Verstand? Im Stakkato lieferte ihr Kopf immer neue Horrorfantasien. Sie fühlte sich wie gelähmt und zitterte gleichzeitig am ganzen Körper. Ihr Atem wurde flach und hektisch. Ihr Herz raste. Sie…

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gleichzeitig am ganzen Körper. Ihr Atem wurde flach und hektisch. Ihr Herz raste. Sie saß schweißgebadet im Bett und fühlte sich völlig hilflos.

Von dieser Nacht an wurde die Angst über viele Monate hinweg zu Doris Idings ständiger Begleiterin. Sie war im Morgengrauen da, wenn Iding nach wenigen Stunden Schlaf hochschreckte, und sie quälte sie abends, wenn sie endlich die Augen schließen und sich von der Daueranspannung erholen wollte. In ihrem Buch Die Angst, der Buddha und ich beschreibt die Ethnologin und Yogalehrerin eindrucksvoll den Beginn ihrer Angsterkrankung und ihren langen, mühsamen Heilungsweg.

Anfangs fiel es ihr schwer, die Diagnose Angsterkrankung zu akzeptieren. Wie konnte es sein, dass sie, die mit beiden Beinen im Leben stand und seit Jahren meditierte, plötzlich die Kontrolle über ihr Leben verlor und sich in ein zitterndes Nervenbündel verwandelte? Sie beschloss, sich Zeit zu nehmen, ihre Erkrankung zu verstehen.

Erst durch den Abstand konnte sie erkennen, dass ihr Leben schon länger in eine Schieflage geraten war. „Niemals kam ich wirklich zur Ruhe. Auch im Urlaub peitschte ich mich nach wenigen Tagen zurück in die Geschäftigkeit.“ Sämtliche Warnzeichen wie Herzrasen und Migräneattacken nach anstrengenden Tagen hatte sie übersehen. Mit Unterstützung ihres Hausarztes und einer Psychotherapeutin drosselte sie ihr Lebenstempo, reduzierte ihre Arbeitszeit auf ein Minimum, fing wieder an, regelmäßig zu meditieren. Als entscheidend für ihre Genesung beschreibt sie den Entschluss, der Angst ins Gesicht zu blicken und sie kennenzulernen. Erst als sie aufgab, ihre Angst partout loswerden zu wollen, konnte sie sich sachte aus ihrem Würgegriff befreien.

Achtsamkeit, Akzeptanz und Selbstmitgefühl sind im Umgang mit Angst hilfreich und wirksam. Diese mittlerweile durch zahlreiche Studien belegte Erkenntnis macht sich die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) zunutze. ACT ist ein Verfahren, das sich zwar unter dem Dach der Verhaltenstherapie entwickelt, jedoch deren lange dominierenden kognitiven Pfad verlassen hat. Statt Ängste und Sorgen zu bekämpfen, lädt ACT dazu ein, ihnen akzeptierend und mitfühlend zu begegnen.

Doch was ist überhaupt das Problem mit der Angst? Angst ist ein urmenschliches Gefühl und nicht nur lähmend, sondern auch mobilisierend. Angst hilft uns, Gefahren zu erkennen und darauf zu reagieren.

Der paradoxe Versuch der Kontrolle

Wenn Ängste jedoch außer Kontrolle geraten, können sie krankhaft werden, die Lebensfreude und jede Weiterentwicklung blockieren und den Alltag auf schmerzhafte Weise einschränken. Die Angst ist dann so übermächtig, dass sie den Alltag regiert. Allein der Gedanke, den Supermarkt zu betreten, in einen Zug oder ein Flugzeug einzusteigen, zu einer Geburtstagseinladung zu gehen, vor mehreren Menschen zu sprechen, Türklinken zu berühren oder eine Brücke zu überqueren, verursacht Herzrasen, Schwindelgefühle, Schweißausbrüche und lässt die Gedankenmaschine im Kopf Horrorfantasien am Fließband produzieren. Was, wenn der Zug verunglückt, die Maschine entführt wird oder die Brücke einstürzt? Wenn die Knie an der Supermarktkasse versagen, man auf der Party in Ohnmacht fällt oder die Türklinke voll ist mit Bakterien, die zu tödlichen Erkrankungen führen?

Wer in ständiger Angst lebt, möchte das unangenehme Gefühl verständlicherweise loswerden oder in den Griff kriegen und mobilisiert dafür alle verfügbaren Energien. Doch paradoxerweise führt der Versuch, die Angst zu kontrollieren, dazu, dass sie sich verfestigt und größer statt kleiner wird, meint der Solinger Psychotherapeut Matthias Wengenroth, der das Buch Das Leben annehmen. So hilft die Akzeptanz- und Commitmenttherapie veröffentlicht hat. Die Menschen, die zu ihm in die Praxis kommen, haben oft jahrelang alles versucht, den Angstdämon schachmatt zu setzen, ohne Erfolg. Wenn Wengenroth ihnen dann vorschlägt, etwas ganz Neues auszuprobieren, sind viele trotz anfänglicher Skepsis offen. „Natürlich gehen die meisten davon aus, dass ich als Therapeut den ultimativen Trick kenne, die Angst zu überwinden. Und erstmal ist es vielleicht eine Enttäuschung, wenn ich klarmache, dass es nicht das Ziel von ACT ist, die Angst loszuwerden.“

Wie kann man die Angst zulassen, die so bedrohlich erscheint wie ein Monster? Zum Repertoire von ACT gehört eine Fülle von Atem- und Achtsamkeitsübungen, die helfen, körperliche Empfindungen, Gefühle und Spannungen wahrzunehmen, ohne sie zu verändern. Andere Techniken zielen darauf ab, Gedanken gleichmütig zu betrachten, ohne mit ihnen zu verschmelzen und ohne sie zu glauben und danach zu handeln.

Für viele, so Wengenroth, bringe schon der Ansatz, der Angst mit Achtsamkeit und Sanftheit zu begegnen, Erleichterung und Entspannung. Angstpatienten seien oft in vielen Bereichen ihres Lebens sehr systematisch, willensstark und entschlossen zu kämpfen. Oft mussten sie sich von Freunden und Familienangehörigen anhören, dass ihre Ängste irrational seien und sie es doch schaffen müssten, sie endlich zu überwinden. „Wenn ich ihnen dann vorschlage, ihrer Angst mit Mitgefühl zu begegnen und sich gewissermaßen selbst zu trösten wie ein Kind, das sich die Knie aufgeschlagen hat, ist das für viele erst überraschend und dann heilsam. Die Angst ist dann nicht weg, aber sie darf da sein. Und in dem Moment, wo sie da sein darf und aus der Perspektive eines wohlwollenden inneren Beobachters betrachtet wird, ist sie nicht mehr so bedrohlich.“

Die ACT-Therapie stellt die Gegenwart in den Mittelpunkt. Natürlich interessieren sich auch ACT-Therapeuten für die biografischen Hintergründe ihrer Patienten und wollen wissen, wie die Angst entstanden ist. Wengenroth hält es jedoch für problematisch, wenn Menschen ihre Ängste mit Erklärungsmodellen im Stil von „Ich musste ängstlich werden, weil meine Mutter überbehütend war“ zementieren. „Manche Patienten haben eine Tendenz, sich als gestört und verkorkst zu sehen. Sie finden dann keine Möglichkeit, etwas zu verändern.“ Wenn jemand sich mit einer stark konstruierten Geschichte blockiert, gibt Wengenroth ihm die Aufgabe, seine Lebensgeschichte in zwei Versionen aufzuschreiben, einmal als Drama oder Tragödie und einmal als Komödie oder absurde Farce. Das schafft Abstand.

Neben Achtsamkeit und humorvoller Distanz spielt die Klärung von Werten und Lebenszielen eine Schlüsselrolle in der ACT-Therapie. „Ein großer Motivator, mit Ängsten anders umzugehen, ist die Verbindung mit den eigenen Werten. Was bedeutet mir viel? Was will ich? Was ist mir wichtig?“ Früher hat Matthias Wengenroth versucht, seine Patienten davon zu überzeugen, dass sie keine Angst haben müssen, in den Bus einzusteigen oder über eine Brücke zu gehen. Rückblickend betrachtet war diese Arbeit oft frustrierend. Heute verzichtet er auf sämtliche Überredungsversuche, die an den Verstand appellieren. Stattdessen fragt er, warum es für sie wichtig sein könnte, sich wieder freier zu bewegen.

Martina König (Name geändert) kam in die Therapie, weil ihr Lebensradius über die Jahre kleiner geworden war. Unter anderem litt sie unter starker Höhenangst, die ihr zu schaffen machte. Sie wohnte in der Nähe der Bahn und musste eine Brücke überqueren, um in ein benachbartes Waldstück zu kommen. Seit Jahren war es ihr nicht möglich gewesen, über die Brücke zu gehen. Sie vermisste den Wald und den See, an dem sie früher schöne Stunden verbracht hatte. In der Therapie lernte sie, ihrer Angst zu begegnen und sich dafür zu öffnen. Sie experimentierte damit, ihre sorgenvollen Gedanken zu verfremden und sich von ihnen zu distanzieren. „Sie konnte ihre Angst spüren und akzeptieren, aber es gab keinen Impuls, über die Brücke zu gehen. Wir haben dann gemeinsam geschaut, was ihr wichtig war in letzter Zeit. Sie war vor kurzem Großmutter geworden. Plötzlich sagte sie mit leuchtenden Augen, sie wolle so gerne mit ihrem kleinen Enkel über die Brücke gehen und ihm den Wald und den schönen See zeigen. Wir sind dann gemeinsam über die Brücke gegangen. Es hat lange gedauert, aber sie war danach sehr glücklich und stolz.“ Auch für den Therapeuten war es ein eindrucksvolles Erlebnis.

ACT geht davon aus, dass die Verbindung mit den eigenen Werten die Bereitschaft erhöht, auf etwas zuzugehen, das einem viel bedeutet. Wengenroth findet die Botschaft, dass niemand seine Angst erst verlieren muss, um sich in Bewegung zu setzen, befreiend. „Ich kann dann in jeder Lebenslage einen neuen Schritt machen. Ich akzeptiere die Angst als Begleiter, aber nicht die Angst entscheidet, was ich tue, sondern ich entscheide im Hinblick auf das, was mir kostbar ist und wonach ich mich sehne.“

Literatur

  • Georg Eifert, John P. Forsyth: Mit Ängsten und Sorgen erfolgreich umgehen. Hogrefe, Göttingen 2010
  • Matthias Wengenroth: Das Leben annehmen. Huber, Bern 2013
  • Doris Iding: Die Angst, der Buddha und ich. Nymphenburger, München 2013
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2015: Moment mal!