In den Augen der anderen

Therapiestunde: Ein Student mit irakischen Wurzeln erzählt, dass er einen Fremden attackiert habe. Woher kommt seine Wut?

Die Illustration zeigt ein sehr großes, blaues Auge, darin ist eine schwarze, männliche Figur mit einem islamistisch anmutenden Bart zu sehen
Eigen- und Fremdwahrnehmung beeinflussen die Emotionen stark. © Michel Streich

Hashim, jetzt 24 Jahre alt, ist das Kind irakischer Eltern. Er ist noch dort geboren, lebt aber seit zwei Jahrzehnten in unserem Land. Er spricht ein makelloses Deutsch, der Vater eine eher holprige Version, die Mutter nahezu kein Wort. Er studiert Physik und ist als Werkstudent bei einem großen Zulieferer der Luftfahrtindustrie angestellt – und macht einen weit überdurchschnittlich intelligenten Eindruck.

Früher hätte man Hashims Gestalt anmutig genannt: Seine perfekt getrimmten Haare und der…

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anmutig genannt: Seine perfekt getrimmten Haare und der kurzgeschnittene Bart unterstreichen sein gepflegtes Äußeres. Der Körper macht einen muskulösen und dennoch „leiblosen“ Eindruck. Hashim ist im Wortsinn zuvorkom­mend, freundlich und ganz „undeutsch“ mit seinen Respektsbezeugungen mir, dem Älteren und Arzt gegenüber.

Schon in den ersten Sitzungen betont er immer wieder, wie wichtig in seinem Umfeld ein beeindruckendes Äußeres als Mann sei. Er sei zu dürftig, schmächtig und so für seinesgleichen verachtenswert und eigentlich nicht ernst zu nehmen. Er habe einfach zu wenig Masse. Ich frage ihn, seit wann er so denke. „Schon lange“, ist seine Antwort. Seit er wisse, wie entscheidend dies sei.

Der Vater ein Totalausfall

Er sei sehr temperamentvoll und etwas „paranoid“. Wenn er lange angeguckt werde, werde er erst unsicher, dann aggressiv und reagiere oft „scharf“. Seine Wut, die ein Grund für die Therapie war, begreife ich erst einmal als die typisch testosterongesteuerte Form einer spätjugendlichen Depression. Und als Ausdruck seiner unvollständigen positiven Besetzung seiner Männlichkeit.

Wir sprechen viel über seine männlichen Vorbilder, den Vater und seine drei älteren Brüder. Von Letzteren wurde er kujoniert und bewusst an der Teilhabe am normalen Leben deutscher Jugendlicher gehindert.

Auch der Vater kann als Totalausfall bei der Ausbildung eines tragfähigen Selbstwertgefühls angesehen werden. Eine der beiden Grundvoraussetzungen dafür sind wertzuweisende Beziehungen. Der Vater war jedoch ein Loser, Kiffer, Tunichtgut und notorischer Fremdgänger, der Hashim mit der beschädigten und gekränkten Mutter allein ließ und an ihm kaum Interesse zeigte, so dass Hashim „auf der Mutter hängenblieb“ und tief im Inneren mehr mit ihrer Schwäche als mit irgendeiner lebensgestaltenden „phallischen“ Kraft identifiziert war. Hashims Körper blieb lange das Schlachtfeld seiner inneren Kämpfe. Ein zwischenzeitlicher Versuch der Behandlung mit Antidepressiva scheiterte kläglich: Entweder waren sie unwirksam oder machten ihn studierunfähig müde.

Geliehene Stärke

Hashim bemerkte früh seine der Familie überlegene Intelligenz, die aber keinen wirklich interessierte. Schon früh schwor er sich, seine familiären Verhältnisse hinter sich zu lassen. So wurde ich zu seiner Brücke in dieses erträumte Leben: „Herr Doktor, Sie sind der einzige Deutsche, von meinen Arbeitskollegen abgesehen, mit dem ich Kontakt habe. Wir bleiben unter uns, auch weil wir das wollen. Ich möchte aber ein gutes Leben haben, ohne all die Zwänge.“ Eine Art Übertragungsheilung entstand.

Ich wurde ein Stück zu dem Vater, den er nie hatte, konnte Persönlichkeitsanteile spiegeln, die in seiner Kindheit und Jugend ungesehen geblieben waren. Zum ersten Mal war sein Erfolg nicht egal, sondern er hatte den Wunsch, mich nicht enttäuschen zu wollen. Und er hatte in mir jemanden, der an ihn glaubte und ihn schätzte.

Das stärkte ihn erst einmal – er bestand wieder schwierige Klausuren. Das Ganze blieb aber weiter sehr fragil, weil es eben auch nur eine geliehene Stärke war. Ich versuchte, ihm diesen Aspekt unserer Beziehung zu verdeutlichen, so dass er anfangen konnte zu betrauern, was ihm an männlicher Zuwendung gefehlt hatte. Trauer ist bestenfalls Aneignung des Verlorenen, aber auch des Nie-Gehabten.

Dann war es zu viel für ihn

Durch unseren therapeutischen Prozess motiviert, setzte er sich an eine ambitionierte Bachelorarbeit, die er mit großem Enthusiasmus abschloss. Lange muss­te er voller positiver Erwartung auf das Ergebnis warten – und dann dies: Er hatte sich daran gewöhnt, sich der „Herren- und Köterrasse“, ich war ja auch einer davon, unterlegen zu fühlen, aber diese Demütigung durch einen deutschen Tutor schwarzafrikanischer Herkunft bei der schlechten Beurteilung seiner Arbeit, was sein Hineinkommen in das Masterprogramm und damit seine erträumte Zukunft infrage stellte, war zu viel für ihn. Diese Umkehrung seiner inneren gesellschaftlichen Hackordnung war unerträglich. Er wachte am Morgen nach der Notenmitteilung auf und barst vor Wut.

Auf dem Weg zu einem Supermarkt begegnete ihm ein Mann, von dem er sich falsch angesehen fühlte und der auf Hashims kurze Frage, was das solle, lapidar mit irgendeinem slawischen Akzent antwortete. Noch so ein „Unterling“, der sich erdreistet, dachte er. Dann schlug Hashim erbarmungslos zu. Der Mann ergriff die Flucht und konnte sich Gott sei Dank ohne großen Schaden retten.

„Selbst-Bestätigung“ im Äußeren

Wir sahen zusammen in seinen Abgrund. Mich nervte die Nonchalance seiner Erzählung. Die innere Begründung für seinen Gewaltausbruch schien ihm ausreichend und moralisch tragfähig. Das Schwierige seines Handelns war ihm nur in den eventuellen negativen Konsequenzen zugänglich, er war noch ganz gefangen in seinem inneren Koordinatensystem einer bewusstseinsbreiten Beleidigung, die jede Reaktion erlaubt. Unsere Beziehung war immerhin tragfähig genug, dass er schonungslos darüber reden konnte. Vielleicht war seine Kälte ja auch nichts anderes als die Abwehr einer überbordenden Scham.

Wir versuchten, dieses Desaster gerade bezüglich unserer Beziehungsgefühle aufzuarbeiten. Nach einigem Hin und Her fragte ich ihn, ob er denn nicht wenigstens der negativen Beurteilung durch den Universitätstutor ein freundlich-unterstützendes Verhältnis zu sich selbst entgegensetzen könne. Nein, wie die anderen ihn sähen, das sei er, nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger. Dann gäbe es ihn ja nur in den Augen der anderen, erwiderte ich, gar nicht aus sich selbst heraus. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Gefühl für sich selbst schien ihm so unbekannt zu sein wie die abgewandte Seite des Mondes. Stattdessen waren in ihm nur Unruhe und eine rastlose Suche nach „Selbst-Bestätigung“ im Äußeren.

Kein Ich ohne Du

Ich hatte die zweite Hälfte eines funktionierenden Selbstwertgefühls „vergessen“: ein gut ausgeprägtes Selbst-Gefühl. Er hatte kein Selbst, es fehlte die Zellmembran der Psyche, die auswählt, zurückweist, filtriert und verarbeitet, was sie trifft. Alles ging ohne Filter hinein – und auch heraus. Statt eines funktionierenden Selbst also dieses hyperinflationierte Ich, das alles mit potenzieller Kränkung, Hass als gescheiterter Liebe und Gegenwehr beantwortete. Kein innerer Raum, um auf Abstand und mit sich in Verhandlung zu treten. Ich hätte ihn schütteln können, empfand aber Mitleid mit ihm und seinem prekären Inneren.

Er erzählte wie leblos seine Mutter sei. Sie reagiere nur mit „Füttern“, das heißt dem Anbieten von Essen auf ihn, nie ein differenzierter Kontakt, in dem er sich als zusammen mit ihr in einem Wir hätte wahrgenommen fühlen können. Er mache ihr keinen Vorwurf, sie sei wohl ziemlich depressiv und der unglücklichste Mensch, den er kenne. Wir waren hinter der netten Fassade angekommen und dort war erst einmal: nichts. An diesem Nichts galt es in den verbliebenen Sitzungen zu arbeiten.

Sein Ich beziehungsweise Selbst hatte nie eine Chance, sich an einem lebendigen Du zu finden.

Burkhard Hofmann arbeitet seit 1991 als Facharzt für psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis in Hamburg. 2018 erschien sein Buch Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele bei Droemer-Knaur

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2020: An Krisen wachsen