Die Psychologie des Kitzelns

Es löst Fluchtreflexe aus – und das Verlangen nach mehr. Über ein vielschichtiges Phänomen.

Die Illustration zeigt ein blaues Männchen, dass von allen Seiten ausgiebig von kleinen Menschen gekitzelt wird und sich dabei windet und Tränen lacht
Kitzeln kann grausam und Sehnsucht zugleich sein. © Sabine Kranz

In Roscoe Arbuckles genialem Kurzfilm Out West spielt der Stummfilmstar Buster Keaton einen Saloonbesitzer. Gerade hat er Arbuckle als Bartender eingestellt, da betritt der Bösewicht Wild Bill die Bar. Er fackelt nicht lange, kippt ein paar Drinks und zwingt der erstbesten Frau mit Gewalt einen Kuss ab. Arbuckle greift ein: Er zerschlägt reihenweise Flaschen auf Bills Kopf – keine Reaktion. Er schießt dem Bösewicht mehrfach in den Rücken – der zuckt nicht einmal.

Da zupft der Barmann eine Feder aus der…

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– der zuckt nicht einmal.

Da zupft der Barmann eine Feder aus der Bardeko und er und Keaton beginnen den Bösewicht zu kitzeln. Wild Bill verliert jede Kontrolle. Wehrlos zappelnd und lachend lässt er sich in hohem Bogen aus dem Saloon kitzeln. Der Kitzeltriumph fällt umso süßer aus, als er so federleicht von der Hand geht. Nur mit den Fingerspitzen haben Keaton und Arbuckle das Böse besiegt. Der Wilde Westen mag stählerne Typen hervorbringen, kitzlig sind sie doch alle – so die Pointe dieser filmgewordenen Kitzelprobe.

Ob – wie Out West 1918 suggeriert – alle Menschen kitzlig und damit angreifbar sind? Das ist bis heute eine offene Frage. Beim Kitzeln handelt es sich um ein merkwürdiges Phänomen. Niemand weiß, warum der Mensch kitzlig ist und warum man mit Lachen und Abwehr zugleich reagiert. Das Kitzeln ist eine der seltenen gemischten Empfindungen.

Es löst Lust und Schmerz gleichzeitig aus und gilt daher als eine Urform ambivalenten Verhaltens: Gekitzelte fliehen, rufen hierbei aber nach Mehr von diesem Kontakt. Außerdem bezeichnet das Wort „kitzeln“ zugleich eine Berührung und eine Empfindung (wie wenn ein Kratzen jucken würde). Das Einzige, was man weiß, ist, warum man sich nicht selbst kitzeln kann: Weil man dann weiß, wo die Berührung einen trifft, und daher die typische Reaktion entfällt. Darüber hinaus ist das Phänomen eine große Unbekannte.

Wozu einen Gedanken an ein so flüchtiges Ereignis wie den Kitzel verschwenden? Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat als eine mögliche Antwort den berühmten Satz von René Descartes gekapert. Aus „Ich denke, also bin ich“ machte Damasio: „Ich fühle, also bin ich.“ Nur wer wisse, wie er empfinde, könne erkennen, wer er sei. In diesem Satz birgt sich die Anregung, sowohl komplexe Gefühle wie Liebe, Angst oder Wut als auch basale Empfindungen wie das Kitzeln zu erforschen.

Kitzelforschung bedeutet, sich mit den emotionalen Minimaleinheiten des Menschseins auseinanderzusetzen. Wobei auch einige Affenarten kitzlig sind. Für kitzlige Pferde war außerdem schon Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga ein Experte: Beim Hufschmied erkannte er als Einziger, dass sein zukünftiges Pferd sich nur deshalb nicht beschlagen ließ, weil es so kitzlig über dem Huf war. Und der Berliner Neurowissenschaftler und Leibniz-Preisträger Michael Brecht erforscht seit Jahren das Kitzelverhalten von Ratten. Wenn sie gekitzelt werden, geben sie nicht nur stoßweise lachanaloge Töne von sich, sondern zeigen auch von Brecht so genannte „Freudensprünge“.

Vertrauen ist Voraussetzung

Doch bevor wir uns in animalischen Untiefen verlieren, bleiben wir für einen Moment noch beim Kitzelphänomen selbst. Physiologisch kann man vier Arten des Kitzels unterscheiden (siehe Kasten auf Seite 68) und auch psychologisch hat der Kitzel viele Facetten. Bereits Aristoteles weist darauf hin, dass Kitzeln dem Gekitzelten die Sinne verwirren kann. Gekitzelt werden birgt eine Entfremdungserfahrung, einen Kontrollverlust, der bis zur totalen Verausgabung gehen kann. Aus diesem Grund hat sich der Schriftsteller und große Theoretiker des Exzesses Georges Bataille einmal des Kitzels angenommen. Er schreibt von einer Willensaufgabe, wenn sich der Gekitzelte ab einem gewissen Punkt vollständig auf den Kitzelnden verlassen und sich ihm hingeben muss.

Vertrauen gilt als Voraussetzung dafür, das Kitzeln zuzulassen. Allerdings muss man einschränken: Es scheint auch spezifische Gewaltkonstellationen zu geben, in denen man dem Kitzligsein offenbar schonungs- und wehrlos ausgesetzt ist. Einzelne Berichte zeugen davon, dass Kitzeln als Folter eingesetzt werden kann. Der Schriftsteller Heinz Heger etwa schildert in seinem Buch Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939–1945 eine Folterroutine, bei der sich der Gefesselte dem Kitzeln seiner Peiniger nicht entziehen konnte und wider Willen bis zur Erschöpfung lachte. Doch das ist das Extrem.

Das übliche Kitzelspiel ist ein Vertrauensbeweis, während dessen der Kitzelnde wiederum einschätzen muss, wie weit er mit seinen Berührungen gehen darf. Denn im Moment des Kitzelns, das macht diese Berührung mitunter zum gefährlichen Übergang vom Spiel zum Missbrauch, ist eine Abwehrreaktion Teil des Spiels. Das spielerische „Hör auf“ muss nicht unbedingt zu unterscheiden sein von dem „Nein, hör auf“ mit dem Spiel in den Übergriff umschlägt. Wo eine gemischte Empfindung ausgehalten wird, ist Eindeutigkeit schwer zu gewinnen.

Während der Gekitzelte also im Sinne von Lust und Verlust gleichermaßen verlustig gehen kann, befindet sich der Kitzelnde in einer besonderen Beobachtersituation: Anders als in einem Theater ist er nicht durch den Bühnenrand von dem Spektakel vor seinen Augen getrennt, sondern ein Zuschauer in Kontakt. Das Kitzelschauspiel folgt einem Spannungsablauf, wie wir ihn vom Sex kennen: Es beginnt wie das Erotische mitunter schon vor der Berührung: Kitzeln und die adäquate Reaktion darauf sind erlernt.

Das Wissen über das, was kommen könnte, reicht aus, um ein Lachen auszulösen. Eine Kitzelfantasie kann also bereits ausreichen, um sich gekitzelt zu fühlen. Vom sanften Vorspiel aus steigert sich das Kitzeln dann bis zum orgastischen Ausbruch des Lachens, auf den schließlich Erschöpfung folgt. Es reicht eine kurze Pause, um einen neuen Spannungsbogen einzuleiten. Gerade deshalb kann das Kitzeln bis zur Verausgabung führen.

Wenn Kitzeln Sex ersetzt

Das Lachkitzeln ist dabei nicht nur über die gemeinsame Spannungsstruktur mit dem Sexuellen verbunden. Jede punktuelle Erregung einer einzelnen hochempfindlichen Hautstelle kann in eine erotische Berührung umschlagen. Im Deutschen hat sich von dieser sexuellen Kitzelformation die heute durchaus umstrittene Bezeichnung Kitzler für die Klitoris erhalten. Zudem gibt es eine relativ große Szene von Menschen, die einen Kitzelfetischismus pflegen, bei denen also das Kitzeln einer hochempfindlichen Körperstelle – wie der Achseln, der Füße, des Halses – den Sexualakt ersetzt.

Diese Szene ist für eine breitere Öffentlichkeit vor allem durch die Kitzelpornografie sichtbar. Kurz nach dem Ausbruch von Aids kam es auch jenseits der engen Nische zu einem Boom solcher sogenannter Kitzelsexpraktiken. Höchste Intimität mit möglichen orgastischen Höhepunkten, die ohne jede Ansteckungsgefahr erreicht werden können – das klang plötzlich wie ein betörendes Versprechen.

Kitzlig zu sein ist eine menschheitsgeschichtlich sehr alte Empfindung. Sie setzt auch in der kindlichen Entwicklung extrem früh ein. Ein wenige Tage altes Kind reagiert bereits auf das sanfte Kitzeln mit den Fingerspitzen oder mit einer Feder. Der Säugling zuckt mit dem Fuß und vollzieht damit die Minimaleinheit eines Fluchtreflexes. Im Alter von etwa sieben Monaten zeigt das Kind erstmals sowohl die kitzeltypischen Abwehrreaktionen als auch ein charakteristisches Lachen oder Glucksen.

Die Lachkitzelempfindung tritt in einer Phase ein, in der sich die Mutter-Kind-Dyade aufzulösen beginnt. Was das heißt? Bis etwa zum siebten Monat fühlt sich das Kind im Einklang mit der Mutter: Das Kind wisse nicht einmal, so der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, wo der eigene Körper aufhöre und der mütterliche Körper beginne. Erst danach setzt ein Gefühl für die eigenen Körpergrenzen, für die Distanz zur Mutter ein. Die Einheit aus Mutter und Kind (die Dyade) löst sich auf. In dieser Phase tritt die Empfindlichkeit für den Lachkitzel auf. Sie ermöglicht, die Erfahrung eines gemeinsamen Körpers durch ein Gefühl der Zuneigung auf Distanz zu ersetzen. Das Kind beginnt, Äußeres als Fremdes und sich selbst als Eigenes wahrzunehmen.

Von mütterlicher Seite aus hat der Kulturwissenschaftler Rainer Stollmann das frühkindliche Kitzeln einmal als „schmerzvermeidende Trennungsabsicht“ charakterisiert. Der Schmerz der Distanzierung wird mit der Berührungs-, Empfindungs- und Kommunikationslust ausbalanciert. In diese Phase, in der das Kind erstmals sowohl den sanften als auch den Lachkitzel zu empfinden vermag, fällt auch die Ausprägung erster Begehrensstrukturen. Die Analogie des Kitzelspiels zur Struktur des Sexualaktes legt nahe, dass sich mit dem Einsetzen des Lachkitzels auch eine Grundform sexueller Erregung entwickelt.

Zwischen Flucht und Wohlgefallen

Aus der frühkindlichen Balance von Nähe und Dis­tanz, Lust und Schmerz im Moment des Kitzels entfalten sich prägende menschliche Kompetenzen und Fähigkeiten: Komik, Spiel, Risikofreude, Nervenkitzel, Stimmungsabhängigkeit, sexuelle Lust. Selbst wenn das erste sanfte Kitzeln von der als liebevoll erfahrenen Mutter ausgeht, vermittelt es stets auch eine erste Erfahrung punktueller Verletzlichkeit. Im frühesten Kitzeln keimt also schon die Erfahrung, die Wild Bill im Film Out West machen wird: dass der Mensch Sorge zu tragen hat für seine Achillessehne des Empfindens – das Kitzligsein. Zugleich übt das Kitzeln von Beginn an das Aushalten eines Fluchtreflexes ein.

Kitzelerfahrungen zu machen bereitet das Überschreiten einer Grenze vor. Im selben Moment stellt das Kitzeln ein Spielen dar: zum einen als Beginn einer spielerischen Hin-und-her-Bewegung zwischen Flucht und Wohlgefallen. Zum anderen aber auch, weil das Kitzeln immer aus einem Scheinangriff besteht. „Kitzelt man also ein Kind“, so hielt schon der Schriftsteller Arthur Koestler fest, „so wird es sich winden und sich krümmen. Aber lachen wird es nur – und das ist der springende Punkt –, wenn es das Kitzeln als Scheinangriff erkennt, als eine Liebkosung in leicht aggressivem Gewand.“ Das Kind lernt, dass es sich bei dem Angriff nur um eine Imitation handelt. Der Kitzelnde tut so, als ob er ein Angreifer wäre, aber Kind und Kitzelnder wissen, dass er keiner ist.

Das Kitzeln vermittelt somit eine der frühesten spielerischen Erfahrungen des „Als ob“. Dieses Als-ob bildet gemeinsam mit dem Wechsel aus Anspannung und Entspannung zugleich die Keimzelle des Komischen. Schon nach Immanuel Kant entsteht Komik, wenn sich die bestehende Anspannung plötzlich in Entspannung auflöst (der Angriff war nur ein Scheinangriff) und sich durch Lachen entlädt.

Voraussetzung hierfür ist – und auch das findet sich in Arthur Koestlers Überlegung –, dass das Kind in einer heiteren Grundstimmung ist. Unter anderen Umständen schlägt das Lachen in Weinen und in pure Abwehr um. Nicht zuletzt über solche Stimmungen als Voraussetzung für menschliche Emotionen forscht Michael Brecht mit seinen Kitzelexperimenten an Ratten. Diese reagieren in einer für sie unangenehmen Umgebung weder mit lachähnlichen Lauten noch mit Freudensprüngen auf Kitzel.

Nicht nur anderen Menschen nähern wir uns tastend. Ohne darüber nachzudenken, berühren wir auch die Gegenstände unserer Umgebung. Der Phänomenologe und Medienphilosoph Vilém Flusser stellte fest, dass es einen radikalen Wandel im taktilen Umgang mit den Dingen unseres Alltags gibt: weg vom Ergreifen der Gegenstände, für das man die gesamte Hand benötigt, hin zur Fingerspitzenberührung, mit der man tippt oder behutsam über Flächen streicht. Touchscreens haben diesen Umschwung – ohne dass Flusser sie kannte – gleichsam vollendet.

Man berührt sie wie die Haut eines anderen, und zwar in ähnlicher Form wie man entweder tremoloartig den Lachkitzel oder durch ein Hin- und Widerstreichen den sanften Kitzel auslöst.Die technologische Wende hat eine unserer basalen Berührungen und Empfindungen zur haptischen Norm im Umgang mit den „smarten Geräten“ gemacht. Wenn man beachtet, wie oft diese Geräte im Wortsinne abstürzen oder sich total verausgaben zu scheinen, kann es einem mitunter so vorkommen, als seien auch die Geräte selbst nicht leblos, sondern als hätten sie die Eigenschaft des Kitzligseins angenommen.

Seit einiger Zeit gibt es eine App, mit der man tatsächlich eine auf dem Bildschirm erscheinende Person kitzeln kann. Man berührt die Figur, die sich dann lachkitzeltypisch windet. Sicherlich kein unerotisches Spiel. Diese Neuheiten zeigen, dass wir mit unseren technischen Innovationen offensichtlich weder modern noch kitzelfrei werden wollen. Lieber bewegen wir uns wie Wild Bill oberflächlich gestählt und doch kitzelverletzlich durch die Welt.

Kitzelarten

Der harte Kitzel (Gargalesis) entsteht durch die Berührung der Haut mit den Fingerspitzen und löst sowohl Lachen als auch Abwehr­reaktionen aus. Der Lachkitzel kann bis zur Erschöpfung fortgeführt werden. Einzelne Stellen des Körpers (Fußsohlen, Achselhöhlen, Halspartie) sind dafür besonders empfindlich.

Der sanfte Kitzel (Knismesis) wird durch feines Streichen – etwa mit einer Feder – auf der Haut verursacht. Er löst kein Lachen, mitunter aber ein Lächeln und in jedem Fall ein Schaudern aus. Der sanfte Kitzel gilt evolutionsbiologisch als Warnsystem, das etwa vor sich nähernden Insekten warnt. Für ihn ist jede Hautstelle in gleicher Weise empfindlich.

Der sexuelle Kitzel bildet sich im Körperinneren und gilt als Antrieb des Begehrens. In der antiken Medizin geht der Begehrenskitzel ausdrücklich auf die kitzlige Berührung der äußeren Geschlechtsorgane zurück und regt bei Mann und Frau die Produktion von Samen beziehungsweise der Eizelle an. Der Name „Kitzler“ für Klitoris trägt das Wissen über den sexuellen Kitzel bis heute fort.

Der Nervenkitzel bezeichnet einen durch Dopamin- und Noradrenalin-Ausschüttung initiierten Zustand geistiger Anspannung und Wachheit, verbunden mit einer Lust auf Risiko. Interessanterweise ist auch der Lachkitzel mit einer Dopamin-Ausschüttung in denselben Gehirnregionen verbunden. Vorstellungen eines geis­tigen Kitzels zirkulieren seit der Antike. Treibt der sexuelle Kitzel die Samenproduktion an, so erzeugt der geistige Kitzel neue Ideen. Aus dieser Lust am Neuen entsteht die Kultur des Nervenkitzels.

Christian Metz ist Literaturkritiker und Germanist. Er habilitierte sich zum Thema des Kitzels, das dazugehörige Buch Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung erscheint dieser Tage bei S. Fischer

Literatur

Michael Brecht, Shimpei Ishiyama: Neural correlates of ticklishness in the rat somatosensory cortex. Science, 354/6313, 2016, 757–760

Christian Metz: Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020

Robert R. Provine: Curious behavior. Yawning, laughing, hiccupping and beyond. Harvard University Press, Cambridge 2012

Rainer Stollmann: Groteske Aufklärung. Studien zur Natur und Kultur des Lachens. Springer, Berlin 2001 

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2020: Persönlichkeit: Histrionisch