Aquarien haben ein kontemplatives und meditatives Image. Verführerisch im Halbdunkel des Wohnzimmers glimmende Glasbehälter, in denen sich Was- serpflanzen sachte in der Strömung wiegen und Fische stoisch ihre Bahnen ziehen, dazu das beruhigende Brummen der Filteranlage – wer würde nicht gerne eine solche Oase der Ruhe in seinem Zuhause haben? Auch die psychologische Forschung hat den Zusammenhang zwischen Aquarien und Stressreduktion entdeckt. So kamen die Autoren einer 2016 im Journal Environment and…
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Autoren einer 2016 im Journal Environment and Behavior publizierten Studie zu dem Ergebnis, dass ein Besuch im National Marine Aquarium im englischen Plymouth helfen könne, „psychophysiologischen Stress“ zu reduzieren.
Die Forschung zu immersiven Erlebnissen in einem öffentlichen Großaquarium könne auch künftige Forschung zum Einfluss kleinerer Aquarien – etwa in Büros – auf unser well-being inspirieren. Dazu heißt es optimistisch: „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass eine Person nicht lange vor einem Ausstellungsobjekt verbringen muss (nur fünf Minuten), um signifikanten Nutzen daraus zu ziehen.“ Wenig überraschend wurde die Doktorarbeit, im Rahmen derer die Studie entstanden war, von der Stiftung National Aquarium Limited des National Marine Aquarium finanziert.
Ich habe einen Schwarm auf dem Gewissen
Allein, die Realität entspricht nicht diesem Bild des Aquariums. Eher verhält es sich so, dass die Aquaristik vom verlässlichen Umschlagen des modernen Ruhe- und Entspannungsbedürfnisses in Stress zeugt. Was zur meditativen Versenkung einlädt, erweist sich im Alltag praktizierender Aquarianer oft als nervenzerrüttende Problemflut: Algenpest, Flossenfäule, Filterschaden, Beckenbruch. Mysteriöses Fischsterben führt zu Depressionsschüben und Schuldgefühlen: „Ich habe einen ganzen Schwarm auf dem Gewissen!“
Dann entweicht Kathrin die Krabbe wieder mal über den Heizstab aus dem Becken. Tage später wird sie im begehbaren Kleiderschrank entdeckt, wo sie zwischen Reizwäsche ihrem Ende entgegenkrebst. Zu schlechter Letzt kann das sachte Plätschern im Becken auf Dauer der Foltertechnik des Permanent-Wasser-auf-die-Stirn-tropfen-Lassens ähneln.
Im Zoo wiederum muss man schon ziemlich viele Augen zudrücken, um einfach nur tiefenentspannt vor den Becken zu verweilen, ein positives Verhältnis zu diversity zu entwickeln – auch das legte die obengenannte Studie bei entsprechend kuratiertem Faunabesatz nahe – und das Aquarium obendrein als überzeugter Umweltschützer zu verlassen. Zum einen bieten die auf engstem Raum gehaltenen, erkennbar neurotischen Tiere einen doch eher betrüblichen Anblick. Und nur unter Ausblendung des gesamten technischen Dispositivs wie auch der Absurdität der Gesamtsituation kann man hier Natur als Natur genießen. Zum anderen inspirieren Aquarienbesuche dazu, die „Originale“ in der freien Wildbahn sehen zu wollen. So tragen sie zur Zerstörung ebenjener Natur bei, deren Schutzwürdigkeit qua Zoobesuch demonstriert werden soll – ein Teufelskreis. Diese Schattenseiten spielen natürlich keine Rolle, wenn Forscher einseitig auf various health and well-being benefits fokussieren, wie es 2018 in einem Folgeartikel zur Plymouth-Studie im Journal Human Dimensions of Wildlife hieß.
Ein paar Kilo Fischkot
So reiht sich das Aquarium ein in eine lange Geschichte der scheiternden Suche nach Entspannung und Well-Being in der westlichen Moderne. Diese Geschichte nimmt ihren Anfang im späten 19. Jahrhundert. Damals mehrten sich in Europa und Amerika Diagnosen wie „Neurasthenie“ und „Hysterie“, wurde der in der technoindustriellen Matrix darbende Mensch als überreiztes Nervenbündel eingestuft und zum grundsätzlich therapiebedürftigen, weil mit den modernen Entlastungsangeboten überforderten Mängelwesen erklärt. Wenn auch die in der Folgezeit entwickelten Kulturtechniken – etwa autogenes Training oder transzendentale Meditation – für sich genommen vielversprechend sind, hapert es doch gewaltig bei der Implementierung im Alltag.
Man denke nur an all die Wellness-Anwendungen, die zwischen Lohnverhandlungen, Rettungen des Regenwaldes, Pandapatenschaften und Paarbeziehungsoptimierungsmaßnahmen gequetscht werden müssen, also verlässlich die Wellness zur Hellness machen. Man denke nur an die notorischen Schlaumeier, die einem mit sonorer Stimme sagen: „Nun komm doch mal runter, entspanne dich!“, und damit ungeahntes Aggressionspotenzial freisetzen. Oder man denke ans vermeintlich meditative Heimaquarium, vor dem man Platz nehmen soll, um das Spiel der Fischlein und das Gewoge der Pflänzlein zu genießen – nur um festzustellen, dass man ja noch ein paar Kilo Fischkot aus dem Filter pressen, den pH-Wert des Wassers kontrollieren und die Leuchtröhre austauschen muss. In Abwandlung eines Karl Valentin zugeschriebenen Bonmots könnte man sagen: Entspannung ist schön, macht aber viel Arbeit.
Aber nicht nur in dieser Hinsicht ist das Aquarium eine Unruheoase. Weil es die Unterwasserwelt in die Oberwasserwelt stülpt, stellt es ein irritierendes Unwahrscheinlichkeitsgebilde dar – dass Menschen ihren Feierabend Seit an Seit mit tropischen Salmlern verbringen, war im Schöpfungs- oder Evolutionsdesign wahrscheinlich nicht vorgesehen. Hier erweist sich, dass das Aquarium ein Vorläufer des Fernsehers ist, eines weiteren modernen Stressgenerators.
Ein entrücktes Bild
Wie das Aquarium holt der Fernseher weit Entferntes auf nachgerade magische Weise zu uns nach Hause und präsentiert es auf einer dominanten, leuchtenden Frontscheibe – einem Bildschirm. Dabei verwandelt er die Welt in ein „globales Dorf“ (Marshall McLuhan) und setzt uns mannigfaltigen audiovisuellen Reizen aus, auf die wir meist nur psychisch reagieren können – ein endokrinologischer Albtraum, fällt so doch der physische Abbau von Stresshormonen weg. Nach drei bizarren Talkshows steht man kurz davor, das Kampfross zu satteln und in die Schlacht zu ziehen, doch diese Option ist im liberalen Rechtsstaat unter postheroischen Bedingungen bekanntlich nicht gegeben. Dass man gemäß küchenpsychologischem Ratgeberbuch eine Runde um den Block rennt, ist nur ein schwacher Ersatz.
Wie der Fernseher das Erdbeben in Pakistan in die schwäbische Zweizimmerwohnung holt, so holt das Aquarium „das Meer nach Hause“, so der Schriftsteller Bernd Brunner. Dabei rückt das visuelle Erlebnis in den Vordergrund, während beispielsweise ein Meerschweinchen und sein Gehege auch haptisch erfahrbar sind. Natürlich kann man versuchen, im Aquarium zu schwimmen oder den Panzerwels zu streicheln. Aber das sind wohl eher Verzweiflungstaten. Einmal eingerichtet, verwandelt das Aquarium die Natur in ein entrücktes Bild der Natur, in eine Vorform der kinematografischen und televisionären Weltverdopplung. Das Aquarium zeugt mithin von der Virtualisierung unserer Existenz, obwohl es ein konkretes Ding voller konkreter Lebewesen ist.
Mementos unserer Beschränktheit
In dieser Hinsicht besteht eine Verwandtschaft zwischen dem modernen Aquarium und dem architektonischen Fanal der westlichen Moderne, dem 1851 errichteten Crystal Palace in London. Die signature architecture der ersten Weltausstellung war ein gigantisches Gewächshaus, ganz aus industriell hergestellten Glas-Eisen-Modulen gefertigt, also just den später typischen Aquarienmaterialien. Sogar ein paar Bäume hatte man überbaut – hier manifestierte sich die Musealisierung der Natur, die heute in voller Kunstblüte steht. Millionen Menschen strömten in dieses Gebäude, wie Schwärme von Fischen mit Lungen.
Im Megaterrarium der Great Exhibition, diesem „Weltinnenraum des Kapitals“ (Peter Sloterdijk), wurden erstmals moderne Aquarien einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Die Szenerie ähnelte einer russischen Matrjoschka: Aquarien im Terrarium. So entstanden gleichzeitig Glasbehältnisse für Menschen und für Tiere. Im Kristallpalast nahmen Menschen die Züge von Zootieren an, während in der Folgezeit Tiere in Aquarien vermenschlicht werden sollten, gipfelnd in der Zeichentrickfigur des Clownfischs Nemo (Findet Nemo, 2003). 1853 schließlich wurde in London das erste öffentliche Aquarium eingeweiht, als direkte Konsequenz der beliebten Unterwasserschauen auf der Great Exhibition. Die Kommerzialisierung der Aquaristik für den Heimgebrauch folgte auf dem Fuße.
Wenn das so lebensnotwendige wie zugleich lebensfeindliche Element Wasser zum Bestandteil unserer wohlmöblierten Lebenswelt wird; wenn die Aquarienscheiben einen fließenden Übergang zwischen den beiden Sphären suggerieren, wo wir doch nur kurz unter Wasser überleben können, dann ergibt auch das keine wirklich beruhigende Szenerie. In seiner Transparenz verheißt das Aquarium, wir könnten ein Teil der schillernden Unterwasserwelt werden und wie Arielle die Meerjungfrau mit den Fischen schwimmen. Für den Kulturkritiker Jean Baudrillard war Glas das symbolische Material der westlichen Moderne. In seinem Buch Das System der Dinge (1968) argumentierte er, Glas vereinfache zwar die Kommunikation zwischen Innen und Außen, ziehe aber gleichzeitig eine klare Grenze zwischen ihnen – „klar“ im doppelten Wortsinn, möchte man hinzufügen. Glas suggeriert eine Öffnung auf die Welt und verhindert sie im selben Zuge.
Apokalyptik im Gefäß
Da hocken wir also auf der Couch, ein Dosenbier in der Hand, und müssen uns beim Blick in unseren sorgsam kuratierten Unterwasserdschungel eingestehen, dass die von uns ersehnte Kommunikation mit der Natur spätestens auf der Ebene der subterranen Welt scheitert. Wir schauen Natur wie einen Film. Die Fische wiederum strafen uns für ihre Kasernierung mit demonstrativer Indifferenz. Mehr noch, ohne technische Hilfsmittel haben wir keine Überlebenschance in unserer evolutionären Urheimat, die wir da wie in einem Schrein ans Land zurückgeholt haben. Wir sind Wasservertriebene, Kiemenberaubte, Flossenversehrte. Haben die Vögel den Luftraum erobert, kleben wir weiter am Boden. Das Heimaquarium wie auch das immersive Zooaquarium können somit als die Mementos unserer Beschränktheit, existenziellen Bedürftigkeit und Endlichkeit verstanden werden – ein paar Minuten ohne Luft, schon sind unsere Allmachtsfantasien Geschichte und die buntdiversen Fischlein erfreuen sich kulinarisch an uns statt wir uns optisch an ihnen.
In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass das Aquarium anfänglich sogar apokalyptisch konnotiert war. Die Apokalyptik ist traditionell der stärkste Ausdruck unserer Sterblichkeit, des Memento mori. Der Popularisierer der Aquaristik um 1850, der britische Naturforscher, Zeichner und Freikirchler Philip Henry Gosse, sah im Aquarium ein Medium der Enthüllung jener letzten Geheimnisse, die bis anhin unter der Meeresoberfläche verborgen gewesen waren. Apokalypsis bedeutet im Griechischen „Enthüllung“ oder „Offenbarung“, siehe das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes. Gosses persönliche apokalyptische Neigungen färbten erkennbar auf seine wissenschaftliche Forschung ab. Als er etwa die Koralle Eschara foliacea (heute: Flustra foliacea) studierte, fand er heraus, dass in ihren Waben winzige Polypen hausen. In dieser Wohnsituation wollte er ein Pendant zu der Architektur des „Neuen Jerusalem“ aus der Offenbarung des Johannes erkennen.
Hell-Being statt Well-Being
In Johannes’ endzeitlichem Altenheim sollen diejenigen, „die geschrieben stehen im Lebensbuch des Lammes“, nach Ablauf des tausendjährigen Reichs allen nur erdenklichen metaphysischen Komfort genießen. Sogar Gott selbst wohnt gleich ums Eck. Weil Gosse überzeugt war, dass sich das Göttliche im Naturdetail spiegele, konnte er unschwer feststellen, dass die Polypen „Sternenkronen“ trügen – in der Offenbarung trägt Maria eine solche – und ein „harmonisches“ Gemeinwesen von „kristalliner Klarheit“ bildeten. Bezeichnend ist, dass die Bauten des Neuen Jerusalem aus einem heute eher unüblichen Baustoff bestehen: durchsichtigem Gold. Bei Johannes ist dieses Gold mal „gleich reinem Glas“, mal „wie durchscheinendes Glas“. Ein Schelm, wer da eine Analogie zu Aquarien, Terrarien und zum Crystal Palace zieht: Am Ende aller Tage werden wir zu Zierfischen im himmlischen Äther.
Gosse war Apokalyptiker durch und durch. Religion und Wissenschaft bildeten für ihn keinen Widerspruch, vielmehr sah er in Letzterer die Fortsetzung Ersterer mit anderen Mitteln, eben die Enthüllung göttlichen Wunderwirkens. Dass er das Aquarium als apokalyptischen Hausschrein konzipierte und zugleich ein aktiver, umtriebiger, schaffensfroher Mensch war, verrät viel über die Psychologie der Apokalyptik. Das antizipierte Ende der irdischen Welt führt nicht zwingend zu Panik oder Passivität, sondern kann im Gegenteil stimulierend wirken – als Kombination aus „Angsttraum“ und „Aphrodisiakum“ hat der Essayist Hans Magnus Enzensberger die Apokalypse treffend beschrieben.
Das Ende ist nah
Wer also abends in sein Aquarium blickt, sollte einmal versuchen, sich gar nicht erst unter Entspannungsdruck zu setzen und sich Well-Being durch mentale Aquagymnastik zu erhoffen. Im Gegenteil! Wie wäre es mal mit Anspannung und Hell-Being? Das verborgene Potenzial des Aquariums liegt im Apokalyptischen. Es entstand als apokalyptisches Gerät, geriet als solches in Vergessenheit und bietet heute Anlass, unser Verhältnis zum Apokalyptischen zu überdenken. Die Apokalyptiker rechnen mit dem Schlimmsten und erfreuen sich umso mehr an den Freuden der Gegenwart. Wer indes glaubt, in der besten aller möglichen Welten zu leben und alles erreichen zu können, hat ein Leben voller Enttäuschungen vor und meist auch hinter sich.
Anstatt unter immer größerem psychischem Druck nach psychischer Entlastung zu streben, ein Zerrbild einer guten, beruhigenden Natur zu zeichnen oder den Sirenengesängen aus Ratgeberbüchern der positiven Psychologie zu verfallen, könnten wir uns beim Blick ins Aquarium daran erinnern, dass das Ende jederzeit möglich ist. Dabei könnten wir verblüfft feststellen, dass diese Einsicht nicht deprimieren muss, sondern auch energetisieren kann. Das klappt schon mit einem bescheidenen Anfängerbecken ganz gut.
Assoziiert man mit der Apokalypse gemeinhin ein überwältigendes Spektakel – man denke an Ludwig Meidners expressionistische Apokalyptische Landschaften der 1910er Jahre –, so legte der Dichter Czesaw Miosz in seinem Lied vom Weltende (1943) nahe, dass das Weltende etwas Unspektakuläres sein könnte. Dafür zeichnete er das Bild einer idyllischen Landschaft: „Am Tag des Weltendes / Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene, / Flickt der Fischer das glitzernde Netz, / Springen im Meer die lustigen Delfine […].“
Es muss ja nicht immer das Meer sein. Es müssen ja nicht immer Delfine sein. Ein 40-Liter-Becken und Guppys sind günstig zu haben.
ZUM WEITERLESEN
Ann Thwaite: Glimpses of the wonderful. The life of Philip Henry Gosse. Faber & Faber, London 2002
Tania Willen, David Willen, Jörg Scheller: Appetite for the magnificent. Patrick Frey, Zürich 2018 (deutsche Ausgabe, 2. Auflage)