„Ein schwebendes Miteinander“

Die Bücher von Jakob Hein und Lora Gottlieb beleuchten die Therapie aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Mag sie mich? Mag sie mich nicht? Therapeutinnen und Therapeuten sind für ihre Patienten ein Rätsel. Kaum etwas erzählen sie je aus ihrem Leben. Schon gar nicht weiß man, was sie wirklich umtreibt. Zwei von ihnen melden sich nun zu Wort und erklären in ihren Büchern nicht nur, wie Therapie funktioniert, sondern auch, was sich in ihnen abspielt, wenn sie uns so sphinxgleich im Sessel gegenübersitzen, uns zuhören und ab und an interessiert die Augen weiten. Und das ist gut so. Denn spätestens, wenn der eigene Leidensdruck etwas nachgelassen hat, wüsste man gern, wer dieser wundersame Mensch ist, der einem zuhört wie kaum ein anderer zuvor. Und dessen beiläufige Bemerkungen so viel Gewicht haben, dass man – Sesam, öffne dich – auf einmal meint, alles zu verstehen. Was er wohl gerade in seinen Block notiert? Ob es mit mir zu tun hat? Oder ist es eine Spontaneingebung, den Wochenendeinkauf betreffend?

An dieser Stelle setzen gleich zwei gut gelaunte und leicht zugängliche Bücher an, die vor allem Laien interessieren dürften, aber auch für Profis nicht uninteressant sind, schaut man doch ganz gern mal, was die Kolleginnen und Kollegen so treiben: ein US-amerikanischer Bestseller der Journalistin und Therapeutin Lori Gottlieb, dessen Plot romanhaft genug ist, um bereits als Vorlage einer Serie gehandelt zu werden: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden. Und Hypochonder leben länger von Jakob Hein, der Einblick gibt in seine Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiater.

Beide Bücher verheißen, ihre Leser hinter die Kulissen einer Beziehung zu führen, die ansonsten aberwitzig asymmetrisch ist. Denn während man sich und seine Seele im Verlauf einer Therapie mehr und mehr frei macht, bleiben Therapeutin oder Psychiater bekanntlich zugeknöpft.

Verlassen – kurz vor der Hochzeit

Aber die eigentliche Neugier stillt das nicht. In ihrer Not beginnen manche Patientinnen und Patienten zu googeln. Vergeblich. Denn Therapeuten verstehen sich in der Regel darauf, keine peinlichen Spuren im Netz zu hinterlassen. So auch Lori Gottliebs schlecht gekleideter, bärtiger Therapeut, der jede Sitzung mit einem langen Schweigen beginnt.

Als Autorin der Kolumne „Dear Therapist“ in der Zeitschrift The Atlantic ist Lori Gottlieb in den USA keine Unbekannte. Dass sie sich in ihrem Buch selbst in Therapie begibt, ist erzählerischer Bogen und Erfolgsrezept – und zugleich durchaus glaubwürdig. Denn auch wer sich mit Seelenkunde auskennt, gerät bisweilen in die Falle seiner verengten Perspektive. Wie Lori, die gerade von ihrem Freund verlassen wurde, kurz vor der Hochzeit. Beim Therapeuten sucht sie mal eben Unterstützung dabei, den Trennungsschmerz zu überwinden. Einige Stunden, meint sie, sollten genügen. Die Therapie allerdings führt dann doch ein wenig tiefer hinein in eine echte Sinnkrise – ganz so, wie Lori Gottlieb dies von ihren eigenen Patientinnen kennt. „Viele kommen und denken, sie kennen sich selbst, aber das stimmt nicht.“ Oft geht es ja gerade darum, sich zu „entkennen“, also anders zu sehen und damit neue, heilsame Prozesse anzustoßen.

Natürlich will auch Lori, dass ihr Therapeut sie unterhaltsam findet und witzig. Auch sie sträubt sich gegen Veränderung und hat ihre ganz persönlichen blinden Flecken. Ganz so wie die etwas überzeichneten Patienten, die Woche für Woche auf ihrer Couch sitzen und verdrängen, was ihnen wirklich wehtut. Erzählt werden Geschichten von tragischen Erfahrungen – Misshandlung, Krankheit, Tod –, die man nicht ändern kann. Und Geschichten von Veränderungen, die dank der behutsamen, durchdachten Interventionen der Therapeutin dennoch möglich sind. Dabei ist Lori Gottlieb nicht nur eine souveräne, sehr nahbare Erzählerin mit Sinn für Spannungsaufbau, sondern auch voller Zuneigung für die Patientinnen, „für ihre wunden Punkte, ihren Mut, ihre Seelen“.

Liegt es am Wetter oder ist es genetisch?

Ebenfalls mit Humor geschrieben, wenngleich weniger Herzensprojekt als Sachtext, ist das vergleichsweise kleine Buch Jakob Heins. Anders als der Titel erwarten lässt, verhandelt Hein, der uns vor allem als Schriftsteller bekannt ist (Herr Jensen steigt aus) und seit dem Herbst auch einen Podcast laufen hat (Verrückt), die Probleme von Hypochondern nur knapp. Und widmet sich ansonsten seinem ganz normalen Psychiateralltag sowie den ganz großen Fragen des Laien an die Medizin: Bricht ein Leiden aus, weil das Leben gerade so turbulent ist, liegt es am Wetter oder ist es genetisch? Heins salomonische Antwort: „Ja!“ Und er fügt bescheiden hinzu: „Das war es schon, das ist meine einzige bisher selbst gewonnene Erkenntnis aus zwanzig Jahren Arbeit auf dem Gebiet… Es tut mir leid.“

Grund, sich zu entschuldigen, besteht ganz und gar nicht. Denn gerade da, wo Hein die Grenzen der Heilkunst ausmacht, ist sein Buch besonders gut. Die Interaktion mit den Patienten, erzählt er, sei „ein schwebendes Miteinander. Das sollte sehr freundlich sein, ist aber nicht freundschaftlich. Denn es geht nur um den einen, und der andere lässt sich dafür bezahlen.“

Man erfährt, dass er häufig einen Zauberstab vermisst. Oder ein Zauberpulver. Etwas, das die Patientinnen – Simsalabim! – heilt und gesund macht.

Ohnehin bestehen die Probleme der Patienten, so Heins Erfahrung, oft aus vielen Puzzleteilen und sollten darum in entsprechend kleinen Schritten gelöst werden. Das klingt mühsam, hat aber auch etwas Tröstliches. Denn wer an vielen Stellschrauben drehen kann, der hat auch zahlreiche Möglichkeiten, Veränderungen zu bewirken. Oder wenigstens: es zu versuchen. „Denn die einzig sinnvolle therapeutische Haltung ist grenzenloser Optimismus“, sagt Hein. Lori Gottlieb würde dem mit Sicherheit zustimmen. Denn auch das ist es, was die Bücher der beiden Grenzgänger verbindet: die unbedingte Überzeugung, dass Leiden zwar zum Leben gehört, aber doch gelindert und im besten Fall geheilt werden kann.

Lori Gottlieb: Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden. Aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl. Hanserblau, München 2020, 528 S., € 25,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2021: Sehnsucht nach Verbundenheit
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