Die Bank, die uns zusammenbringt ​

​Biergärten sind mehr als nur Orte für ein Getränk im Freien. Warum fühlen sich viele von uns dort so wohl? Über die Psychologie des Biergartens.

Mehrere Bänke mit roten Topfblumen stehen in einem Biergarten und laden zur Geselligkeit ein
Biergärten – die Verbindung aus Landschaft, Geselligkeit und Rausch. © Axel Bueckert/Getty Images

Im Hintergrund zwitschern zart die Vögel. Am Nachbartisch klirren Bierkrüge. In die Nase steigt ein feiner Hauch von Bratensauce, geräuchertem Fisch und Knoblauch. Fremde reihen sich an unserem Tisch ein, die bald zu Bekannten, Freunden werden. Die Wirtin klärt uns auf, was „Obazda“ bedeutet. Und wir mittendrin. Alles zusammen: sinnlich, vielfältig, inspirierend!

Der Biergarten hat schon manches Herz erobert. Begonnen hat diese Erfolgsgeschichte eher aus einer Notwendigkeit heraus. Anfang des 19.…

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Herz erobert. Begonnen hat diese Erfolgsgeschichte eher aus einer Notwendigkeit heraus. Anfang des 19. Jahrhunderts war Natureis, mühsam im Winter aus Seen gebrochen oder aufwendig produziert mit sogenannten Eisgalgen, das Standardkühlmittel, um die Bierlagerung auch über die Sommermonate hinweg zu gewährleisten. Als Kühlraum wurden tiefe Keller, meist auf Anhöhen gelegen, verwendet, um Bierfässer zusammen mit dem Eis aufzunehmen.

Die Landschaft genießen

Um diese Lager optimal zu isolieren, bekieste man die Oberfläche und pflanzte schattenspendende Laubbäume, speziell Flachwurzler, weil diese dem Keller keinen Schaden anhaben konnten. Die Wirte verkauften das Bier direkt aus dem Keller kommend und reichten dazu nach und nach nicht nur Brot, sondern auch „Brotzeiten“ und komplexere Gerichte. Schlichtweg deswegen, weil die Menschen immer stärker das Bedürfnis entwickelten, sich zum Bier auch einmal zu setzen.

Der Biergarten war geboren und mit ihm eine einzigartige Verbindung aus Landschaftsästhetik, Gemütlichkeit und Kulinarik; ein echtes Lehrstück für das gekonnte Schaffen einer lebenswerten und inspirierenden Umwelt. Denken wir nur einmal, wir hätten die Agenda „Bierlagerungsstelle mit Ausschank­option“ anders umgesetzt. Die Vorstellung, neben einem lauten dieselgetriebenen Kühlaggregat auf einem betonierten Firmengelände allein eine Flasche zu trinken, erscheint beklemmend und kaum attraktiv. Im Biergarten hingegen können wir abschalten, unhastig unseren Gedanken nachgehen und gleichzeitig dem geschäftigen Treiben der Bedienungen zusehen.

Traditionelle Beispiele, allen voran die „Bierkeller“ genannten fränkischen Vertreter, sind oft auf Bergen oder Anhöhen mit entsprechender Aussicht angelegt worden. Dort lässt sich Umschau halten und die Landschaft genießen. Dieses holistische Erleben, das auch noch multisensorisch hinterlegt ist, ist bereits inkludiert im Preis einer halben oder ganzen Maß, die aus einer hoffentlich regionalen Manufaktur stammt – denn so schafft man Bezüge zur Region und zu den Menschen und kommt ins Schwelgen und Fachsimpeln über Biersorten und Brauereien. All das macht den Biergartenbesuch nicht allzu selten zu einem wahren Erlebnis.

Der Biergarten liefert aber noch mehr als ein ästhetisches und genusstechnisches Programm. Die wirklich bemerkenswerten Exemplare ermöglichen das Zusammenkommen und Interagieren von Menschen unterschiedlichster Denk- und vieler Lebensarten, sie erlauben es „Fremden“, schnell heimisch zu werden, und überwinden soziale Schichten und Altersklassen. Das ist nicht nur schön, sondern auch wichtig – heute vielleicht mehr denn je. Dort, wo Menschen noch erreicht und beeinflusst werden können durch Freunde, andere Gäste oder die Bedienungen, weil es ein genuin sozialer Ort ist, wird nicht ganz so einfach und vorschnell verleumdet, gedemütigt und gehasst.

Jenseits des Rausches

Biergärten sind wahrlich kein Allheilmittel gegen solche gesellschaftlichen Phänomene, aber sie werfen uns auf das zurück, was wir tatsächlich sind: Wesen, die sich in sozialen Kontakten befinden und die persönlich ansprechbar und erkennbar sind. Soziale Medien scheinen derartige Qualitäten eines sozialen Raumes zu simulieren, mehr aber allzu oft auch nicht. Die Möglichkeit zur Anonymität im Virtuellen ist eben nur bedingt geeignet, um wirklich sozial zu interagieren, fürsorglich zu handeln und situationsspezifisch zu kommunizieren.

Das alles zusammen hinzubekommen ist psychologisch kein bisschen tri­vial. International agierende Unternehmen würden uns Unsummen bezahlen, würden wir all diese Benefits im Rahmen eines gezielten Sozialprogramms generieren können – nicht umsonst spricht die „Bayerische Biergartenverordnung“ explizit den Biergärten eine wichtige soziale und kommunikative Funktion zu. Gleichzeitig mahnt sie auch, diese Einrichtungen nicht auf Kosten anderer zu nutzen, was als Blaupause für das soziale Zusammenleben von unterschiedlichen Personengruppen verstanden werden kann.

Bei all der Euphorie dürfen Aspekte wie Alkoholkonsum nicht kleingeredet werden. Obwohl Biergärten lange schon ein reiches Getränkesortiment aufweisen, liegt der Fokus klar auf alkoholischen Getränken, was die soziale Rolle der anderen Gäste und des Servicepersonals umso notwendiger macht. Soziale Normen können helfen, dass man sich keine eigene Norm vorschnell zurechttrinkt. Aufklärung und soziale Kontrolle sind wichtig, der konsequente Ausbau des Angebots an Getränken, Speisen und Freizeitmöglichkeiten zeigt zudem aber, dass der Biergarten längst eine wesentliche gesellschaftliche Institution jenseits des Rausches ist. Und dies auch international, verbunden mit dem aus dem Deutschen übernommenen Lehnwort German Gemütlichkeit. Freuen wir uns darauf – beim nächsten Biergartenbesuch!

Prof. Dr. Claus-Christian Carbon ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre an der Universität Bamberg mit dem Fokus auf Wahrnehmung und insbesondere Ästhetik. Er berät führende gastronomische Institutionen und Betriebe und ist zudem seit 2020 Interna-tional Beer Sommelier

Literatur

Claus-Christian Carbon: Wahrnehmungspsychologie. In: Astrid Schütz, Mathias Brand, Herbert Selg und Stefan Lautenbacher (Hrsg.), Psychologie: Eine Einführung in ihre Grundlagen- und Anwendungsfelder. Kohlhammer, Stuttgart 2015

Claus-Christian Carbon: The Umwelt for creative design addressing existential global challenges. In: John S. Gero, Mary Lou Maher (Hrsg.): Computational and cognitive models of creative design. Springer, Berlin 2021

Stefan A. Ortlieb u. a.: Fechner (1866): The aesthetic association principle – a commented translation. i-Perception, 11/3, 2020, 1–20. DOI: 10.1177/2041669520920309

Markus Raupach: Bier: Geschichte und Genuss. Palm, Berlin 2017

Markus Raupach, Bastian Böttner: Die schönsten Bierkeller und Biergärten in Franken. Nürnberger Presse, Nürnberg 2019

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2021: Sich von Schuldgefühlen befreien