Frau Fleischmann, in Ihrer Studie erforschen Sie moralische Vergleiche. Worum geht es dabei?
Alle wollen gut sein und als vertrauenswürdig gelten. Wenn man sich dann hinsichtlich der eigenen Moral nicht sicher ist oder ertappt fühlt, weil man gegen etwas verstoßen hat, was einem wichtig ist, vielleicht beim Klimaschutz, dann fühlt sich das sehr unangenehm an und wir wollen dagegen etwas tun: Wir vergleichen uns mit einer anderen Person, die viel „schlechter“ ist als wir selbst. Dadurch werten wir uns selbst auf und es geht uns wieder besser. Umgekehrt fühlen wir uns schlecht, wenn wir uns mit jemandem vergleichen, der besser ist als wir, jedenfalls auf den Gebieten, die uns wichtig sind. Denn es gibt viele unterschiedliche moralische Wertvorstellungen. Klimaschutz zum Beispiel ist für manche eine Frage der Moral, aber nicht für alle. Unabhängig davon halten aber alle ihre eigenen Standards für die richtigen.
Wie sind Sie bei Ihrer Studie vorgegangen?
Um herauszufinden, welche Rolle moralische Vergleiche im Alltag spielen, schickten wir rund 450 Probandinnen und Probanden fünfmal am Tag ein Signal auf ihr Handy, das zu unserem Fragebogen weiterleitete. Die Teilnehmenden sollten angeben, ob sie sich direkt vor der Umfrage gedanklich mit jemandem verglichen hatten, auf welchem Gebiet das war und ob sie das Gebiet für wichtig hielten. Die Gebiete enthielten Alltägliches wie Arbeit und Sport und zusätzlich den Bereich der Moral. Weiterhin haben wir eine Reihe von Onlineexperimenten organisiert. Dabei hat ein Teil der Befragten eine moralische Bedrohung erlebt, weil sie sich daran erinnerten, unmoralisch gehandelt zu haben, der andere Teil nicht. Dann haben wir ihnen Geschichten vorgelegt, in denen es um alltägliches moralisches Verhalten ging, aber auch um Vorbilder wie Greta Thunberg oder Martin Luther King. Unter den Protagonistinnen und Protagonisten der Geschichten waren aber auch bekannte Kriminelle oder sogar Kriegsverbrecher. Die Teilnehmenden durften selbst entscheiden, welche Geschichten sie lesen wollten, und sollten die Figuren einschätzen. Zusätzlich haben wir verschiedene Fragebögen eingesetzt, etwa hinsichtlich der individuellen Vergleichsstandards oder des Gefühls der Bedrohung.
Sie haben auch soziale Vergleiche untersucht. Warum ist die Unterscheidung zwischen moralisch und sozial wichtig?
Grundsätzlich vergleichen wir alle uns ständig und überall. Diese Vergleiche laufen oft sehr schnell und unbewusst ab. Sie sind oft „diagnostisch“, wie man das in der Psychologie nennt, das heißt, wir erfahren etwas über uns. Soziale Vergleiche sind meistens nicht bedrohlich. Wir suchen uns als Vergleichsobjekte gern Menschen, die uns im Alter oder in ihren Interessen ähnlich sind – weil wir wissen wollen, wo wir stehen, es aber dafür nur wenige objektive Kriterien gibt. Wenn wir beispielsweise in einer Gruppe eine neue Sportart lernen, dann konzentrieren wir uns auf die, die uns ähnlich sind, etwa in Bezug auf Alter oder Geschlecht, und die ein bisschen besser sind. Das spornt an und motiviert. Dann handelt sich um einen klassischen „Aufwärtsvergleich“.
Alexandra Fleischmann u.a.: More threatening and more diagnostic: How moral comparisons differ from social comparisons. Journal of Personality and Social Psychology, 2021. DOI: 10.1037/pspi0000361
Alexandra Fleischmann ist Sozialpsychologin. Sie forscht an der Universität zu Köln zu Fragen der Moral, der Macht und dem Umgang mit Dilemmas